Aktenzeichen B 3 S 17.50008
EMRK EMRK Art. 3
Leitsatz
1 Hinsichtlich der Frage, ob in Ungarn systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen iSv Art. 3 Abs. 2 UAbs. 1 Dublin III-VO vorliegen, besteht angesichts der jüngst ergangenen obergerichtlichen Rechtsprechung (VGH BW BeckRS 2016, 19066; NdsOVG BeckRS 2016, 55271) weiterer Aufklärungsbedarf. Die notwendige Aufklärung kann indes im Rahmen eines Eilverfahrens nicht durchgeführt werden, weshalb die Erfolgsaussichten einer Klage im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung über den Eilantrag (§ 77 Abs. 1 AsylG) als offen zu beurteilen sind (wie VG Ansbach BeckRS 2016, 56039). (red. LS Clemens Kurzidem)
2 Erweisen sich die Erfolgsaussichten einer gegen eine Abschiebungsanordnung im Rahmen des Dublin-Verfahrens gerichteten Klage als offen, fällt aufgrund der dem Betroffenen auferlegten Belastung bei Vollzug der Abschiebungsanordnung und der möglicherweise berührten hohen Rechtsgüter aus Art. 3 EMRK die Interessenabwägung zu seinen Gunsten aus, weshalb die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen ist. (red. LS Clemens Kurzidem)
Tenor
1. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.01.2017 wird angeordnet.
2. Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens trägt die Antragsgegnerin.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die ihm drohende Abschiebung nach Ungarn.
Der Antragsteller, syrischer Staatsangehöriger arabischer Volks- und moslemisch-sunnitischer Religionszugehörigkeit, reiste spätestens am 17.09.2016 nach erfolgter Abschiebung im Rahmen eines „Dublin-Verfahrens“ unerlaubt in die Bundesrepublik Deutschland ein und wurde am 17.09.2016 durch die Polizei aufgegriffen, ohne im Besitz eines gültigen Aufenthaltstitels zu sein.
Am 21.10.2016 wurde ein Wiederaufnahmeersuchen gem. Art. 18 Abs. 1b Dublin III-VO an Ungarn gerichtet. Die ungarischen Behörden antworteten innerhalb der Frist des § 25 Abs. 2 Dublin III-VO nicht.
Mit Bescheid vom 16.01.2017 ordnete die Antragsgegnerin die Abschiebung nach Ungarn an (Ziff. 1) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot des § 11 Abs. 1 AufenthG auf 12 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziff. 2).
Zur Begründung führt die Antragsgegnerin aus, die Abschiebung nach Ungarn sei gem. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG anzuordnen, da Ungarn gem. Art. 3 Dublin III-VO für die Bearbeitung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die gegen eine Überstellung nach Ungarn sprechen, seien nicht ersichtlich. Im Übrigen wird auf die Begründung des Bescheids Bezug genommen.
Am 25.01.2017 erhob der Antragsteller zur Niederschrift bei der Rechtsantragsstelle des Verwaltungsgerichts Bayreuth in Bamberg Klage und beantragte,
1.Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.01.2017, mir zugegangen am 23.01.2017, Az.: … wird aufgehoben.
2.Die Beklagte wird verpflichtet, mich als asylberechtigt anzuerkennen bzw. die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen sowie festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des AufenthG vorliegen.
3.Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
4.Die aufschiebende Wirkung der Klage wird festgestellt.
Die Antragsgegnerin äußerte sich bislang nicht.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die vorgelegte Behördenakte, die Gerichtsakte des Klageverfahrens und die Gerichtsakte des Eilverfahrens verwiesen (§ 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO).
II.
1. Der Antrag des Antragstellers, „die aufschiebende Wirkung der Klage festzustellen“, ist gem. §§ 122, 88 VwGO dahingehend auszulegen, dass dieser beantragt die aufschiebende Wirkung der Klage im Verfahren B 3 K 17.50009 gegen die im Bescheid des Bundesamts vom 16.01.2017 enthaltene Abschiebungsanordnung (Ziff. 1) anzuordnen. Da der Antragsteller nicht anwaltlich vertreten ist, ist unter Berücksichtigung seines eindeutigen Rechtsschutzzieles – trotz der fehlerhaften Klageanträge in der Hauptsache – davon auszugehen, dass im einstweiligen Rechtsschutz die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage gegen die Abschiebungsanordnung begehrt wird.
2. Der zulässige Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Hs.1 VwGO hat in der Sache Erfolg.
Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Hs. 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage anordnen, wenn die Klage – wie hier nach § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO i. V. m. §§ 75 Abs. 1, 34a Abs. 2 Satz 1 AslyG – keine aufschiebende Wirkung hat.
Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes trifft das Gericht eine eigene Ermessensentscheidung. Es hat abzuwägen zwischen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung der Abschiebungsanordnung und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Bei dieser Abwägung sind insbesondere die Erfolgsaussichten des Hauptsacherechtsbehelfs zu berücksichtigen. Ergibt summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage, dass die Klage voraussichtlich erfolglos bleiben wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid schon bei kursorischer Prüfung als rechtswidrig, so besteht kein öffentliches Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Nicht erforderlich sind insoweit ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheids, denn die Regelung des § 36 Abs. 4 AsylG ist hier nicht (entsprechend) anwendbar. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht hinreichend absehbar, verbleibt es bei einer allgemeinen Interessensabwägung.
a) Die Erfolgsaussichten der Anfechtungsklage im Hauptsacheverfahren sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt als offen einzustufen.
Nach § 34a Abs. 1 AsylG wird die Abschiebung ohne das Erfordernis einer vorherigen Androhung und Fristsetzung insbesondere dann angeordnet, wenn der Ausländer in einen aufgrund unionsrechtlicher Bestimmungen oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27 a AsylG) abgeschoben werden soll, sobald feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Die Abschiebungsanordnung stellt sich als Festsetzung eines Zwangsmittels dar, die erst dann ergehen darf, wenn alle Voraussetzungen für die Abschiebung erfüllt sind. Dies ist in erster Linie die Zuständigkeit des anderen Staates. Daneben muss aber auch feststehen, dass die Abschiebung in den zuständigen Staat nicht aus anderen Gründen rechtlich unzulässig oder tatsächlich unmöglich ist.
Das Verwaltungsgericht Bayreuth ging bislang in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass hinsichtlich Ungarn die Schwelle zur Annahme des Bestehens systemischer Mängel nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 1 Dublin III-VO mangels Bestehens tatsächlicher Anhaltspunkte nicht überschritten werde. Sowohl der VGH Baden-Württemberg (Urteil vom 13. Oktober 2016, Az. A 11 S 1596/16, juris) als auch das OVG Lüneburg (Urteil vom 15. November 2016, Az. 8 LB 92/15 juris) gehen derzeit vom Bestehen systemischer Mängel in Ungarn aus. Die Entscheidungen stützen sich im Wesentlichen auf die Missachtung von Verfahrensrechten im Rahmen der Anordnung von Asylhaft und bei der Durchführung des Asylverfahrens. Auch der BayVGH hat mit Beschluss vom 22.11.2016 Az. 20 ZB 16.50044) zur Klärung dieser Frage die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen Das Gericht sieht angesichts der unlängst ergangenen obergerichtlichen Entscheidungen weiteren Aufklärungsbedarf. Die notwendige Aufklärung kann im Rahmen des Eilverfahrens nicht durchgeführt werden, weshalb die Erfolgsaussichten der Klage der Antragstellerin im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung über den Eilantrag (§ 77 Abs. 1 AsylG) als offen zu beurteilen sind (so auch VG Ansbach, Beschluss vom 19.12.2016, Az. AN 3 S. 16.50379, juris).
b) Aufgrund der dem Antragsteller auferlegten Belastung bei Vollzug der Abschiebungsanordnung und der möglicherweise betroffenen hohen Rechtsgüter des Antragstellers aus Art. 3 EMRK, fällt die Interessenabwägung zu seinen Gunsten aus, weshalb die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen ist.
3. Die Kostenentscheidung des nach § 83 b AsylG gerichtskostenfreien Verfahrens beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.