Verwaltungsrecht

Erfolgreicher Eilantrag gegen Dublin-Bescheid (Italien)

Aktenzeichen  M 3 S 18.50081

Datum:
28.3.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 20951
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34a Abs. 1 S. 1
VwGO § 80 Abs. 5

 

Leitsatz

Vor der Überstellung von Asylbewerbern mit Kindern nach Italien im Rahmen der Dublin III-VO sind individuelle Garantien von den italienischen Behörden einzuholen. Zwischen Klein- und Kleinstkindern ist nicht zu unterscheiden. (Rn. 18 – 19) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage (M 3 K 18.50080) gegen die unter Ziff. 3 des Bescheids der Antragsgegnerin vom 28. Dezember 2017 verfügte Abschiebungsanordnung wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Die Antragsteller wenden sich gegen ihre Überstellung nach Italien im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens.
Die Antragstellerin zu 1) und ihr am 25. Januar 2014 in Italien geborener Sohn – der Antragsteller zu 2) – reisten nach eigenen Angaben am 22. Oktober 2017 in das Bundesgebiet ein. Am 24. Oktober 2017 wurden sie als asylsuchend erfasst, wovon das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am gleichen Tag schriftlich Kenntnis erlangte. Am 4. Dezember 2017 stellte die Antragstellerin zu 1) für sich und den Antragsteller zu 2) beim Bundesamt förmliche Asylanträge.
Eine Eurodac-Abfrage am 24. Oktober 2017 ergab für die Antragstellerin zu 1) einen Eurodac-Treffer der „Kategorie 1“, wonach die Antragstellerin zu 1) am 8. Januar 2009 einen Antrag auf internationalen Schutz in Italien gestellt hat (Bl. 88 d.A.).
Bei ihrer Befragung und Anhörung durch das Bundesamt am 4. und 8. Dezember 2017 gab die Antragstellerin zu 1) an, dass sie ihr Heimatland im Jahr 2008 verlassen habe und dann über Niger, Libyen und Italien nach Deutschland gereist sei. In Italien habe sie sich nach ihrer Ankunft am 21. November 2008 neun Jahre aufgehalten und einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt, der abgelehnt worden sei. Sie habe zunächst ein Jahr in einem Camp gelebt. Dann sei sie nach Bergamo gezogen, wo sie bis Oktober 2017 mit dem Vater des Antragstellers zu 2), gelebt habe. Sie habe Italien verlassen, als der Vater des Antragstellers zu 2) nicht mehr gewollt habe, dass sie und das Kind bei ihm lebten. Der Vater des Antragstellers zu 2) habe sie geschlagen und auch versucht den Antragsteller zu 2) zu schlagen. Die Antragstellerin zu 1) erklärte, wegen des Vaters des Antragstellers zu 2) nicht nach Italien überstellt werden zu wollen; dieser habe den Antragsteller zu 2) geschlagen.
Das Bundesamt richtete am 11. Dezember 2017 ein Wiederaufnahmegesuch nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO an Italien. Eine Reaktion der italienischen Behörden erfolgte nach Aktenlage nicht.
Mit Bescheid vom 28. Dezember 2017, zugestellt am 3. Januar 2018, lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Nr. 2), ordnete die Abschiebung nach Italien an (Nr. 3) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 4). Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
Am 8. Januar 2018 hat die Antragstellerin durch ihre Bevollmächtigte beim Verwaltungsgericht München Klage gegen den Bescheid erhoben (M 3 K 18.50080) und zugleich beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Zur Begründung wurde ausgeführt, das Übernahmeersuchen sei verfristet. Zudem sei das Selbsteintrittsrecht auszuüben, da der Vater des Antragstellers zu 2) die Antragstellerin zu 1) geschlagen habe. Die Antragstellerin zu 1) sei wieder schwanger; Bei einer Rückkehr nach Italien habe sie Angst vor dem Vater des Kindes und Angst um ihre Kinder. Aus der vorgelegten Kopie eines Mutterpasses ergibt sich als voraussichtlicher Entbindungstermin der 7. Juni 2018.
Mit Schriftsatz vom 1. März 2018 wies das Gericht das Bundesamt darauf hin, dass in Hinblick auf eine fehlende Zusicherung Italiens im Sinne der Tarakhel-Entscheidung des EGMR vom 4. November 2014 Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheids bestünden. Mit Schriftsatz vom 13. März 2018 teilte das Bundesamt dazu mit, dass von einer Ausübung des Selbsteintrittsrechts abgesehen werde, weil der Antragsteller zu 2) am 25. Januar 2017 das dritte Lebensjahr vollendet habe. Nach Auffassung des Bundesamts sei er daher kein Kleinstkind mehr. Daher sei eine individuelle Zusicherung im Sinne der Tarakhel-Entscheidung des EGMR nicht erforderlich. Es seien keine Kleinstkinder unter drei Jahren in der Familie, auch sonst sei keine besondere Vulnerabilität ersichtlich.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- sowie die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
II.
Die zulässigen – nach Auslegung (§§ 122, 88 VwGO) gegen die Abschiebungsanordnung in Ziff. 3 des Bescheids gerichteten – Anträge haben in der Sache Erfolg.
Entfaltet ein Rechtsbehelf wie hier von Gesetzes wegen (§ 75 Abs. 1 AsylG, § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO) keine aufschiebende Wirkung kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen. Das Gericht trifft hierbei eine eigene Ermessensentscheidung, bei der es abzuwägen hat zwischen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts und dem Interesse des Betroffenen an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Maßgebliche Bedeutung kommt bei der Abwägung den Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu. Ergibt die im Rahmen des Eilverfahrens allein mögliche, aber auch ausreichende summarische Prüfung, dass die Klage voraussichtlich erfolglos bleiben wird, tritt das Interesse des Antragstellers, vom Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts zunächst verschont zu bleiben, regelmäßig zurück. Erweist sich der angefochtene Bescheid dagegen bei vorläufiger Prüfung als rechtswidrig, wird das Gericht die aufschiebende Wirkung in der Regel anordnen, da kein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung eines voraussichtlich rechtswidrigen Bescheids besteht. Ist der Ausgang des Verfahrens offen, bleibt es bei der allgemeinen Interessenabwägung.
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe war den Anträgen stattzugeben, da sich die Abschiebungsanordnung nach Italien in Ziff. 3 des streitgegenständlichen Bescheids bei summarischer Prüfung als rechtswidrig erweist, so dass das private Interesse der Antragsteller, vorläufig bis zur Entscheidung der Hauptsache noch im Bundesgebiet verbleiben zu dürfen, das öffentliche Vollzugsinteresse überwiegt.
Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG) oder einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass diese durchgeführt werden kann. Dabei sind sowohl zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse als auch der Abschiebung entgegenstehende inlandsbezogene Vollzugshindernisse zu berücksichtigen. Dies gilt auch bei nachträglich auftretenden Abschiebungshindernissen oder Duldungsgründen (BVerfG, B.v. 17.09.2014 – 2 BvR 1795/14 – juris).
Zwar ist nach den Eurodac-Daten und dem Vortrag der Antragstellerin zu 1) vorliegend nach den Kriterien der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 v. 29.06.2013, S. 31) – im Folgenden: Dublin III-VO – von einer Zuständigkeit Italiens für die Prüfung der Asylanträge der Antragsteller auszugehen; in Bezug auf den Antragsteller zu 2) folgt dies aus Art. 20 Abs. 3 Satz 1 Dublin III-VO.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichts ist eine Überstellung an Italien gegenwärtig zudem nicht rechtlich unmöglich im Sinn des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO. Auch unter Auswertung neuerer Erkenntnismittel (vgl. etwa Länderbericht des Europäischen Flüchtlingsrats (ECRE) für das Projekt AIDA – Asylum Information Database – zu Italien, Update Februar 2017, abrufbar unter http://www.asylumineurope.org/reports/country/italy, S. 40 ff, 59 ff sowie den Bericht der Schweizer Flüchtlingshilfe von August 2016, abrufbar unter: https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/news/2016/160815-sfh-bericht-italien-aufnahmebedingungen-final.pdf) sieht das Gericht keine Gründe, von seiner ständigen Rechtsprechung abzuweichen.
Allerdings besteht in Anlehnung an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vorliegend ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis.
In seiner Entscheidung vom 4. November 2014 (Tarakhel ./. Schweiz, Nr. 29217/12 – NVwZ 2015, 127) hat der EGMR ausgeführt, dass die Anzahl und die Bedingungen in den Aufnahmeeinrichtungen Italiens Befürchtungen zulassen, dass im Einzelfall Asylsuchende ohne Unterkunft bleiben bzw. in überfüllten Einrichtungen untergebracht werden, auch wenn die Struktur und die Gesamtsituation des Aufnahmesystems in Italien nicht mit der Griechenlands vergleichbar sei und keine systemischen Mängel vorlägen (Rn. 114, 115). Vor der Abschiebung einer Familie mit Kindern als besonders Schutzbedürftige seien daher individuelle Garantien von den italienischen Behörden einzuholen, dass die Familie bei ihrer Ankunft in Italien in Einrichtungen und unter Bedingungen aufgenommen werde, die dem Alter der Kinder angemessen seien, und dass sie als Familie zusammenbleiben könnten (Rn. 120, 122).
Eine von der Antragsgegnerin vorgenommene Unterscheidung zwischen Klein- und Kleinstkindern ist der Tarakhel-Entscheidung nicht zu entnehmen. Vielmehr betraf die Entscheidung ein Elternpaar mit sechs Kindern, die zwischen 1999 und 2012 geboren wurden und im Entscheidungszeitpunkt somit zwischen 2 und 15 Jahre alt gewesen sein dürften. Auch das Bundesverfassungsgericht hat in einem aktuellen Beschluss vom 29. August 2017 (2 BvR 863/17 – juris) im Falle der Dublin-Überstellung einer alleinerziehenden Mutter mit vier Kindern, die im Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung über den Eilantrag zwischen 16 und 4 Jahren alt waren, angemahnt, dass die Grundsätze der Tarakhel-Entscheidung in der Konstellation einer allein erziehenden Mutter von vier Kindern erst recht zu beachten seien. Vorliegend kommt hinzu, dass die Antragstellerin zu 1) erneut schwanger ist und bereits im Juni 2018 ein weiteres Kind erwartet.
Die Mitteilung der Antragsgegnerin, wonach eine individuelle Zusicherung Italiens im Sinne der Tarakhel-Entscheidung vorliegend nicht erforderlich sei, weil der Antragsteller am 15. Januar 2017 das dritte Lebensjahr vollendet habe und daher kein „Kleinstkind“ mehr sei, ist vor diesem Hintergrund schlicht nicht nachvollziehbar.
Der Überstellung stehen damit rechtliche Gründe entgegen.
Dem Antrag ist daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).

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