Aktenzeichen 10 ZB 19.50024
Leitsatz
Zur Erforderlichkeit individueller Garantieerklärungen oder Zusicherungen bei der Rückführung vulnerabler Personen nach Italien im Dublin-Verfahren.
1. Nach einhelliger obergerichtlicher Rechtsprechung bestehen in Italien keine systemischen Mängel im Asylverfahren und in den Aufnahmebedingungen, welche die Zuständigkeit des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge begründen (Anschluss an VGH Mannheim BeckRS 2019, 18065). (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
2. Nur dann, wenn eine Beurteilung der Aufnahmebedingungen mangels hinreichend verlässlicher, tatsächlicher Erkenntnisse nicht möglich ist und jene deswegen ernsthaft in Zweifel stehen, kann es geboten sein, dass sich die zuständigen Behörden und Gerichte vor einer Rückführung in den Drittstaat über die dortigen Verhältnisse informieren und gegebenenfalls Zusicherungen der zuständigen Behörden einholen (Anschluss an BVerfG BeckRS 2018, 26628). (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
W 10 K 19.50535 2019-07-01 Urt VGWUERZBURG VG Würzburg
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
Der zulässige Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg, weil der geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) nicht vorliegt bereits nicht hinreichend dargelegt ist (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG).
Einer Rechtssache kommt grundsätzliche Bedeutung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG zu, wenn für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts eine konkrete, jedoch fallübergreifende Tatsachen- oder Rechtsfrage von Bedeutung war, deren noch ausstehende obergerichtliche Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zu einer bedeutsamen Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint (vgl. Seeger in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand 1.5.2019, § 78 AsylG Rn. 18 ff.; Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 78 AsylG Rn. 11 ff.). Dementsprechend verlangt die Darlegung der rechtsgrundsätzlichen Bedeutung nach § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG, dass eine konkrete Tatsachen- oder Rechtsfrage formuliert und aufgezeigt wird, weshalb die Frage im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts klärungsbedürftig und klärungsfähig, insbesondere entscheidungserheblich, ist; ferner, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung dieser Frage besteht (vgl. Funke-Kaiser in GK-Asyl, Stand Juni 2019, § 78 Rn. 591 ff.; Rudisile in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Februar 2019, § 124a Rn. 102 ff.; Seibert in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124a Rn. 211 ff.).
Die Beklagte formuliert als grundsätzlich zu klärende „Tatsachenfragen, ob es in Bezug auf Italien zum Ausschluss einer Gefährdung i.S.d. § 60 Abs. 5 AufenthG bzw. Art. 4 GRC für den Erlass einer Überstellungsentscheidung bei vulnerablen Personen, namentlich bei Familien mit minderjährigen Kindern noch einer individuellen Zusicherung zu einer angemessenen Unterbringung bedarf, wie sie nach der sog. Tarakhel-Entscheidung des EGMR gefordert war.“
Diese Fragen sind aber in der Rechtsprechung bereits geklärt:
Nach einhelliger obergerichtlicher Rechtsprechung bestehen in Italien keine systemischen Mängel im Asylverfahren und in den Aufnahmebedingungen, welche die Zuständigkeit des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge begründen (vgl. zuletzt VGH BW, U.v. 29.7.2019 – A 4 S 749/19 – juris, mit Nachw. d. Rspr.; NdsOVG, U.v. 6.6.2018 – 10 LB 167/18 – juris Rn. 39 ff.; B.v. 28.5.2018 – 10 LB 202/18 – juris; U.v. 9.4.2018 – 10 LB 92/17 – juris).
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat ferner in weiteren Entscheidungen (U.v. 4.10.2016 – Jihana Ali und andere, Nr. 30474/14 – juris Rn. 34; U.v. 4.10.2016 – M.A.-M. und andere, Nr. 32275/15 – Rn. 27, abrufbar in der HUDOCdatabase des EGMR) die von Italien in Reaktion auf die „Tarakhel“-Entscheidung abgegebene „allgemeine Garantie“ bezüglich Überstellungen in Dublin-Verfahren anerkannt und insoweit eine drohende Verletzung von Art. 3 EMRK verneint (siehe hierzu: OVG NW, B.v. 7.1.2019 – 13 A 888/18.A – juris Rn. 14-18; OVG LSA, B.v. 29.3.2018 – 3 L 114/18 – juris Rn. 9-13). Der Senat geht in seiner Rechtsprechung ebenfalls davon aus, dass für besonders schutzbedürftige Personen im Sinne von Art. 20 Abs. 3 RL 2011/95/EU kein „individueller Schutzanspruch (…) auf Zusage einer konkreten Unterkunft in Italien“ besteht (vgl. BayVGH, B.v. 9.1.2019 – 10 CE 19.67 – Asylmagazin 2019, 68 = juris Rn. 17 m.w.N.). Auch das Bundesverfassungsgericht hat in der vom Verwaltungsgericht in Bezug genommenen Entscheidung (B.v. 29.8.2017 – 2 BvR 863/17 – juris Rn. 16) aus den Bestimmungen der EU-Aufnahmerichtlinie für besonders schutzdürftige Personen und der Tarakhel-Entscheidung des EGMR lediglich geschlussfolgert, dass den Belangen von vulnerablen Personen besonders Rechnung getragen werden müsse. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann es nur dann, wenn eine Beurteilung der Aufnahmebedingungen mangels hinreichend verlässlicher, tatsächlicher Erkenntnisse nicht möglich ist und jene deswegen ernsthaft in Zweifel stehen, geboten sein, dass sich die zuständigen Behörden und Gerichte vor einer Rückführung in den Drittstaat über die dortigen Verhältnisse informieren und gegebenenfalls Zusicherungen der zuständigen Behörden einholen (in Bezug auf Griechenland: vgl. BVerfG, 31.7.2018 – 2 BvR 714/18 – juris Rn. 19 f. m.w.N.).
Dass das Verwaltungsgericht in dem angefochtenen Urteil trotz Verneinung systemischer Defizite im italienischen Asylverfahren und den dortigen Aufnahmebedingungen (s. UA S. 7) dennoch aufgrund besonderer Einzelfallumstände eine andere Ansicht vertreten und eine einzelfallbezogene, individuelle Zusicherung gefordert hat, ändert nichts an dem Umstand, dass die aufgeworfenen Fragen ober- bzw. höchstrichterlich geklärt sind und ihnen daher keine grundsätzliche Bedeutung (mehr) zukommt (so auch BayVGH, B.v. 4.6.2019 – 10 ZB 16.50070 – Rn. 8).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.
Mit dieser gemäß § 80 AsylG unanfechtbaren Entscheidung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).