Verwaltungsrecht

Exilpolitische Tätigkeit

Aktenzeichen  B 9 K 17.33018

Datum:
10.9.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 41854
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 4, § 28 Abs. 2, § 71
VwVfG § 51
VwGO § 108 Abs. 1

 

Leitsatz

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die zulässige Klage hat keinen Erfolg. Der Bescheid des Bundesamts vom 22. August 2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).
I.
Das Gericht konnte über die Klage verhandeln und entscheiden, ohne dass die Beklagte an der mündlichen Verhandlung am 29. August 2019 teilgenommen hat. Auf den Umstand, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann, wurden die Beteiligten bei der Ladung ausdrücklich hingewiesen (§ 102 Abs. 2 VwGO).
II.
Die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nach § 71 Abs. 1 Satz 1 HS. 1 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) sind gegeben (vgl. BVerwG, U.v. 15.12.1987 – 9 C 285.86; OVG NW, B.v. 3.2.1997 – 25 A 353/97.A; BayVGH, U.v. 13.2.2019 – 8 B 18.30257 – alle juris).
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, B.v. 3.3.2000 – 2 BvR 39/98 – in DVBl. 2000, 1098) geht § 71 AsylG von einer Zweistufigkeit der Prüfung von Asylfolgeanträgen aus. Bei der Beachtlichkeits- oder Relevanzprüfung geht es zunächst darum, festzustellen, ob das (unanfechtbar abgeschlossene) Asylverfahren wiederaufgenommen werden muss, also die erforderlichen Voraussetzungen für die Durchbrechung der Bestandskraft des Erstbescheides erfüllt sind. Dafür genügt bereits ein schlüssiger Sachvortrag, der freilich nicht von vorneherein nach jeder vertretbaren Betrachtung ungeeignet sein darf, zur Asylberechtigung zu verhelfen; es genügt mithin schon die Möglichkeit einer günstigeren Entscheidung aufgrund der geltend gemachten Wiederaufnahmegründe. Zu beachten ist, dass die Bestandskraft der Sachentscheidung im Asylverfahren nur insoweit durchbrochen wird, als (nur) im Umfang der geltend gemachten Wiederaufnahmegründe in eine erneute Sachprüfung eingetreten wird. (vgl. Dickten in BeckOK Ausländerrecht, 22. Edition, Stand 1.5.2019, § 71 Rn. 27 m.w.N.).
Der Kläger gab an, nach rechtskräftigem Abschluss des Erstverfahrens am 9. Juli 2017 eine exilpolitische Veranstaltung in M… organisiert und diese live über das Internet übertragen zu haben. In diesem Zusammenhang habe er den aserbaidschanischen Präsidenten, Ilham Aliyev, scharf kritisiert. Deshalb sei sein Bruder auch in Aserbaidschan erneut von der Polizei vorgeladen und unter Druck gesetzt worden. Dieser Umstand ist grundsätzlich geeignet, die für § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG erforderliche Änderung der Sachlage zu begründen und kann sich zu Gunsten des Klägers auswirken. Der Kläger brachte dies auch innerhalb der Dreimonatsfrist des § 51 Abs. 3 Satz 1 VwVfG vor. Die Bestandskraft der Asylentscheidung des Erstverfahrens wird demzufolge hinsichtlich des exilpolitischen Engagements des Klägers und dessen möglicher Auswirkungen durchbrochen. Andere Wiederaufgreifensgründe wurden nicht vorgetragen.
III.
Auch wenn der Kläger die Durchführung eines erneuten Asylverfahrens verlangen konnte, so steht einer Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft § 28 Abs. 2 AsylG entgegen (hierzu 1.). Jedenfalls rechtfertigt sein Vortrag aber keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutzes (hierzu 2.). Ferner besteht kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (hierzu 3.).
1. Ein Anspruch auf die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft ist im Falle des Klägers wegen § 28 Abs. 2 AsylG ausgeschlossen.
a) Nach dieser Vorschrift kann in einem Folgeverfahren in der Regel die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt werden, wenn der Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines Asylantrages erneut einen Asylantrag stellt und diesen auf Umstände stützt, die er nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Antrags selbst geschaffen hat. Stützt ein Ausländer seinen Asylfolgeantrag mithin auf neue selbst geschaffene exilpolitische Nachfluchtaktivitäten, greift dieser Regelausschlussgrund für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Die Ausschlussvoraussetzungen sind im Fall des Klägers erfüllt; er macht solche subjektiven Nachfluchtgründe geltend. Im Laufe des Verfahrens brachte er vor, eine Demonstration in M… organsiert zu haben sowie an Veranstaltungen in Berlin am 11. April 2018, 22. August 2018 und 15. Mai 2019 und Essen am 7. Juni 2018 teilgenommen zu haben. Diese zu beurteilenden Veränderungen sind alleine in der Person des Klägers begründet.
b) Der Kläger kann sich nicht auf eine Ausnahme vom Ausschluss der Anerkennung selbst geschaffener Nachfluchtgründe berufen. Dazu müsste er den Verdacht ausräumen, dass er seine Nachfluchtaktivitäten nach Ablehnung des Erstantrages nur oder aber hauptsächlich mit Blick auf die erstrebte Flüchtlingsanerkennung entwickelt oder intensiviert hat. Das Bundesverwaltungsgericht führt hierzu in seinem Urteil vom 18. Dezember 2018 – 10 C 27/07 – aus:
„Bleibt das Betätigungsprofil des Betroffenen nach Abschluss des Erstverfahrens unverändert, liegt die Annahme einer missbräuchlichen Verknüpfung von Nachfluchtaktivitäten und begehrtem Status eher fern. Wird der Asylbewerber jedoch nach einem erfolglosen Asylverfahren erstmals exilpolitisch aktiv oder intensiviert er seine bisherigen Aktivitäten, muss er dafür gute Gründe anführen, um den Verdacht auszuräumen, dies geschehe in erster Linie, um die Voraussetzungen für eine Flüchtlingsanerkennung zu schaffen. Dazu hat der Tatrichter die Persönlichkeit des Asylbewerbers und dessen Motive für seine erstmalig aufgenommenen oder intensivierten Aktivitäten vor dem Hintergrund seines bisherigen Vorbringens und seines Vorfluchtschicksals einer Gesamtwürdigung zu unterziehen.“
Die nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Ausräumung des Missbrauchsverdachts erforderlichen „guten Gründe“ für ein exilpolitisches Engagement, die den Verdacht der missbräuchlichen Herbeiführung der Voraussetzungen für eine Flüchtlingsanerkennung ausräumen könnten, liegen nach der Überzeugung der Einzelrichterin nicht vor. Vom Gericht zu beurteilen war, ob hier ein Wandel oder eine Entwicklung der politischen Einstellung als innere, den Beweis nicht unmittelbar unzugängliche Tatsache gegeben ist. Unter Berücksichtigung des klägerischen Vorbringens im gerichtlichen Verfahren, insbesondere auch des Eindruckes, den die Einzelrichterin in der mündlichen Verhandlung gewonnen hat, sieht das Gericht die Vermutung des § 28 Abs. 2 AsylG als nicht widerlegt an.
In diesem Zusammenhang ist zunächst zu berücksichtigen, dass der Kläger – wie vom Einzelrichter im Erstverfahren abschließend festgestellt – nicht vorverfolgt aus Aserbaidschan ausgereist ist (vgl. VG Bayreuth, U.v. 7.3.2017 – B 1 K 31384). Es wurden auch im Folgeverfahren keine Umstände vorgetragen, die eine andere Beurteilung rechtfertigen könnten.
Gegen eine ernsthafte politische Überzeugung spricht, dass der Kläger bei seiner Anhörung durch das Bundesamt am 7. Juli 2016 noch keine exilpolitische Betätigung vorgebracht hat, obwohl sich der Kläger zu diesem Zeitpunkt bereits ein halbes Jahr in Deutschland aufhielt (vgl. Bl. 80 ff. der BAMF-Akte im Erstverfahren). Er hatte zum Zeitpunkt seiner Einreise bereits das Alter und die Reife, dass er sich hätte engagieren können (schließlich gab er an, bereits im Heimatland demonstriert zu haben). Auch in der Klagebegründung vom 24. Oktober 2016 (vgl. Bl. 169 der BAMF-Akte im Erstverfahren) finden sich noch keine Angaben diesbezüglich. Erstmals mit Schriftsatz der damaligen Bevollmächtigten vom 5. Dezember 2016 wurden eine Bestätigung der M. Partei vom 3. Oktober 2016, ein Schreiben der M. AKM vom 25. Oktober 2016 sowie ein Mitgliedsausweis der M. Partei vorgelegt. Nach den Erkenntnissen der mündlichen Verhandlung im Erstverfahren, werden in diesen Bescheinigungen jedoch ersichtlich Unrichtigkeiten bestätigt.
Die Ladung für die mündliche Verhandlung am 24. Februar 2017 ging den Bevollmächtigten ausweislich des Empfangsbekenntnisses am 27. Januar 2017 zu. Mit Schriftsatz vom 20. Februar 2017 wurde eine Bescheinigung der M. AKM vom 5. Februar 2017 vorgelegt, wonach der Kläger Koordinator der M. AKM in der bayerischen Zone sei. In der mündlichen Verhandlung machte der Kläger dann erstmals geltend, am 17. Februar 2017 – und damit über ein Jahr nach seiner Einreise – an einer Demonstration teilgenommen zu haben. Diese Demonstration in Essen habe er auch mitorganisiert. Kurz nach der mündlichen Verhandlung nahm der Kläger am 12. März 2017 noch an einer Demonstration in Nürnberg teil.
Mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 26. Juni 2019 wurde der Antrag auf Zulassung der Berufung abgelehnt (2 ZB 17.30691). Am 9. Juli 2017 organisierte der Kläger dann eine Demonstration in M… mit ca. acht Teilnehmern und stellte am 20. Juli 2017 unter Berufung hierauf einen Folgeantrag. Erst am 11. April 2018 (nach der Ablehnung des Folgeantrags und der Klageerhebung am 7. September 2017) nahm der Kläger wieder an einer exilpolitischen Aktion vor der Botschaft in Berlin teil. Im Anschluss beteiligte er sich im Juni 2018 noch an einer Kundgebung mit ca. 13 Personen in Essen und einer Demonstration in Berlin vor dem Kanzleramt im August 2018.
Im Jahr 2019 nahm der Kläger an einer Protestveranstaltung vor dem Kanzleramt im Mai 2019 teil. Die Chronologie des Engagements des Klägers drängt den Eindruck auf, dass der Kläger die nach außen sichtbare Betätigung seines politischen Willens immer dann steigert, wenn es die aufenthaltsrechtliche Situation erfordert.
Insgesamt nahm der Kläger seit seiner Einreise vor dreieinhalb Jahren auch nur an sechs Veranstaltungen teil. Es ist davon auszugehen, dass eine ernsthaft exilpolitisch aktive Person ihre Interessen in einem in quantitativer Hinsicht größerem Umfang verfolgt hätte. Auch dieser Punkt spricht dagegen, dass das Engagement des Klägers auf „guten Gründen“ beruht. Bezüglich der vom Kläger auf Facebook verfassten Kommentare und Live-Übertragungen wurde nicht substantiiert dargelegt, in welchem Umfang oder welcher Häufigkeit entsprechende Veröffentlichungen erfolgen bzw. auch nicht, dass der Kläger hiermit überhaupt eine relevante Zahl an Lesern oder Zuschauern erreicht.
Es ist nicht erkennbar, dass diese (wenigen) Aktivitäten auf gewachsenen politischen Überzeugungen beruhen. Die Antworten des Klägers auf die Nachfragen der Einzelrichterin zum Kern seiner politischen Anschauungen und Wunschvorstellungen waren inhaltlich blass und formelhaft. Seine Ausführungen waren geprägt von plakativen und schablonenhaften Erwägungen und konnten nicht den Eindruck vermitteln, dass sich der Kläger tatsächlich eingehender mit den Anforderungen für eine Demokratisierung seines Heimatlandes auseinandergesetzt hat. So gab er beispielsweise auf die Nachfrage des Gerichts, wie er sich die Politik in Aserbaidschan wünschen würde an, Demokratie bedeute für ihn, dass die Menschen von Freude erfüllt seien und lachen würden. Danach befragt, wie sich der Kläger einen politischen Wechsel in Aserbaidschan vorstelle, erklärte er, es müsse ein Weg geschaffen werden, dass die Welt ein positives Bild von Aserbaidschan habe. Das wichtigste Druckmittel hierfür sei, dass die Konten der aserbaidschanischen Regierung eingefroren würden. Auch die Frage seines Bevollmächtigten, was der Kläger ändern würde, wenn er Präsident in Aserbaidschan wäre, beantwortete der Kläger nur äußerst kurz, oberflächlich und allgemein („Ich würde das parlamentarische System ändern, ein freies Gericht und kostenlose Medizin einführen und die Menschenrechte über die Rechte der Parlamentarier stellen. Das, worunter wir gelitten haben, wünsche ich mir nicht mehr. Ich würde mit positiven Erzählungen von mir in die Geschichte eingehen wollen.“). Wäre der Kläger ein überzeugter Exilpolitiker, so hätte er sich sicher ausführlicher mit den Voraussetzungen beschäftigt, die erforderlich für einen politischen Wechsel in Aserbaidschan wären und es wäre ihm möglich gewesen, diese ohne wiederholte Nachfragen seitens des Gerichts und des Bevollmächtigten umfassend und detailliert zu erläutern. Eine grundlegende Voraussetzung der Demokratie, die sich der Kläger laut seiner Angaben wünscht, nämlich die Einführung freier Wahlen, erwähnte er beispielsweise überhaupt nicht. Auf in diesem Zusammenhang ebenfalls naheliegende Details, wie beispielsweise die Ausgestaltung der Exekutive und die (weitreichenden) Rechte des aserbaidschanischen Präsidenten, ging der Kläger ebenfalls nicht ein.
Dies wäre aber erforderlich gewesen, um auf eine gewachsene politische Überzeugung schließen zu können, wie sie für die Annahme „guter Gründe“ für exilpolitische Aktivitäten zur Widerlegung der Missbrauchsvermutung des § 28 Abs. 2 AsylG nötig sind.
2. a) Auch ohne Berücksichtigung der Ausschlusswirkung des § 28 Abs. 2 AsylG hätte der Kläger jedoch keinen Anspruch auf Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
Nach § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG besteht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft dann, wenn sich der Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will und er keine Ausschlusstatbestände erfüllt. Eine solche Verfolgung kann vom Staat ausgehen (§ 3c Nr. 1 AsylG), von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen (§ 3c Abs. 1 Nr. 2 AsylG) oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Abs. 1 Nr. 3 AsylG). Allerdings wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3 AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 AsylG).
Für die richterliche Überzeugungsbildung im Sinne von § 108 Abs. 1 VwGO gilt Folgendes:
Hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft muss sich das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit des behaupteten Verfolgungsschicksals und der Wahrscheinlichkeit der Verfolgungsgefahr bilden. Eine bloße Glaubhaftmachung in der Gestalt, dass der Vortrag lediglich wahrscheinlich sein muss, ist nicht ausreichend (vgl. grundlegend BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109/84 – juris). Es ist vielmehr der asylrechtliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu Grunde zu legen. Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhaltes die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Hierbei darf das Gericht jedoch hinsichtlich der Vorgänge im Verfolgerland, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder der Feststellung eines Abschiebungsverbotes führen sollen, keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen, sondern muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fragen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, auch wenn Zweifel nicht völlig auszuschließen sind (BVerwG, U.v. 16.4.1985 a.a.O.). Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U. v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris).
Nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (EU-Qualifikations-RL) ist hierbei die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweise darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von einer solchen Verfolgung und einem solchen Schaden bedroht wird. Dies privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Damit wird für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür begründet, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bei einer Rückkehr in ihr Heimatland bedroht werden. Dadurch wird der Antragsteller, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat oder von einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Als vorverfolgt gilt ein Schutzsuchender dann, wenn er aus einer durch eine eingetretene oder unmittelbar bevorstehende politische Verfolgung hervorgerufenen ausweglosen Lage geflohen ist. Die Ausreise muss das objektive äußere Erscheinungsbild einer unter dem Druck dieser Verfolgung stattfindenden Flucht aufweisen. Das auf dem Zufluchtsgedanken beruhende Asyl- und Flüchtlingsrecht setzt daher grundsätzlich einen nahen zeitlichen (Kausal-)Zusammenhang zwischen der Verfolgung und der Ausreise voraus.
Es obliegt dem Schutzsuchenden, sein Verfolgungsschicksal glaubhaft zur Überzeugung des Gerichts darzulegen. Er muss daher die in seine Sphäre fallenden Ereignisse, insbesondere seine persönlichen Erlebnisse, in einer Art und Weise schildern, die geeignet ist, seinen geltend gemachten Anspruch lückenlos zu tragen. Dazu bedarf es – unter Angabe genauer Einzelheiten – einer stimmigen Schilderung des Sachverhalts. Daran fehlt es in der Regel, wenn der Schutzsuchende im Lauf des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellungen nach der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe nicht nachvollziehbar erscheinen, und auch dann, wenn er sein Vorbringen im Laufe des Verfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Begehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (vgl. dazu VGH BW, U.v. 27.8.2013 – A 12 S 2023/11 – juris; HessVGH, U.v. 4.9.2014 – 8 A 2434/11.A – juris).
Gemessen an diesen Grundsätzen hat der Kläger eine an den Merkmalen des § 3 Abs. 1 AsylG ausgerichtete Verfolgung nicht glaubhaft gemacht. Das Gericht schließt sich zunächst den zutreffenden Gründen im angefochtenen Bescheid der Beklagten an und sieht daher insoweit von einer Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 77 Abs. 2 AsylG). Ergänzend ist zum gerichtlichen Verfahren des Klägers Folgendes auszuführen:
Wie bereits im Erstverfahren des Klägers festgestellt, ist dieser nicht vorverfolgt aus Aserbaidschan ausgereist. Umstände, die diese rechtliche Einschätzung erschüttern könnten, wurden nicht vorgetragen. Auch dass der Zeuge in der mündlichen Verhandlung angab, den Kläger bereits in Baku in seiner Redaktion kennengelernt und anschließend bei Aktionen in Aserbaidschan und Deutschland getroffen zu haben, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Es mag sein, dass der Kläger sich bereits im Heimatland an Demonstrationen beteiligt hat und er grundsätzlich politisch interessiert ist. Daher kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass die Ausreise des Klägers (auch) mit seiner politischen Gesinnung zu tun hatte. Eine begründete Angst vor Verfolgung als ausschlaggebendes Element lag dem jedoch – wie bereits im Erstverfahren festgestellt – nicht zugrunde. Er partizipiert damit nicht von der Privilegierung des Art. 4 Abs. 4 EU-Qualifikations-RL.
Es ist nicht davon auszugehen, dass der Kläger wegen seiner exilpolitischen Aktivitäten im Fokus der aserbaidschanischen Behörden steht. Nach den in das Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen werden exilpolitische Betätigungen durch die aserbaidschanischen Behörden genau beobachtet. Dabei wird aber offensichtlich in den Reaktionen zwischen Führungspersönlichkeiten, Aktivisten und bloßen Unterstützern unterschieden (Auskunft des Auswärtiges Amtes an das Bundesamt vom 6.11.2017; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Aserbaidschan vom 22.2.2019, S. 12 f.). Aus diesen Auskünften ist zu folgern, dass der aserbaidschanische Staat im Hinblick auf eine exilpolitische Betätigung seiner Staatsbürger hinsichtlich einer möglichen Außenwirkung der jeweiligen Person unterscheidet. Der Kläger hat unter Zugrundelegung obiger Erkenntnismittel nach Ansicht des Gerichts wegen seiner exilpolitischen Tätigkeiten nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Repressalien von staatlichen Stellen bei einer Rückkehr zu befürchten („real risk“; vgl. BVerwG, Urt. v. 20. 2. 2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 32). Dies folgt zunächst daraus, dass bei den Veranstaltungen in M…, Essen und Nürnberg jeweils nur wenige Teilnehmer anwesend waren. Es ist bereits stark zweifelhaft, dass solche Veranstaltungen der aserbaidschanischen Regierung überhaupt bekannt werden. Sollte dies der Fall sein, so sind hier die Forderungen der Demonstranten dennoch verhallt, ohne dass es nennenswerte Nachwirkungen, Reaktionen oder Anlass für Rechtfertigung seitens des aserbaidschanischen Staates gegeben hat. Hinsichtlich der Protestveranstaltungen in Berlin vor dem Kanzleramt und der Botschaft mag es sein, dass der Kläger eine kurze Rede gehalten bzw. dem Sender … TV ein Interview gegeben hat. Sein Name wurde im entsprechenden YouTube Video aber nicht eingeblendet. Selbst wenn die Demonstranten jedoch aus dem Fenster gefilmt wurden und es dem aserbaidschanischen Staat deshalb irgendwie möglich gewesen wäre, die Identität des Klägers zu ermitteln, geht das Gericht nicht davon aus, dass er als für den aserbaidschanischen Staat „gefährliche“ exilpolitische Führungspersönlichkeit oder als Aktivist in herausgehobener Stellung angesehen wird. Auch dem aserbaidschanischen Staat wird klar sein, dass – wie vom Kläger in der mündlichen Verhandlung selbst berichtet – die Exilpolitik im Asylverfahren in Deutschland häufig aus Gründen der besseren Bleibeperspektive betrieben wird. Der Kläger hat innerhalb der dreieinhalb Jahre seit seiner Einreise nur an sechs Veranstaltungen teilgenommen. Er beteiligte sich (seit dem Jahre 2016) nicht an der Organisation größerer Veranstaltungen. Zudem beruhen seine Aktivitäten, wie aus der mündlichen Verhandlung deutlich wurde, nicht auf einer gefestigten politischen Einstellung bzw. ausführlicher und fundierter Beschäftigung mit politischen Themen. Wie sich aus der mündlichen Verhandlung ferner ergab, ist der Kläger auch nicht mehr Teil einer exilpolitischen Organisation – M. AKM hat ihm vor zwei Jahren „gekündigt“. Seitdem schließe er sich als Alleingänger an, wenn eine friedliche Demonstration stattfinde. Dementsprechend werden jedoch auch seine Einflussmöglichkeiten bzw. seine Beachtung gerichtlicherseits als gering eingeschätzt.
Das Gericht glaubt dem Kläger, dass er sich grundsätzlich eine demokratische, friedliche und freie Zukunft für Aserbaidschan wünscht. Es sieht den Kläger jedoch nicht als Exilpolitiker, der aufgrund seines herausgehobenen Engagements bei einer Rückkehr vom aserbaidschanischen Staat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgung zu rechnen hätte.
Nicht glaubhaft ist jedoch, dass der Bruder des Klägers mehrfach wegen dessen exilpolitischer Aktivitäten von der örtlichen Polizei vorgeladen wurde. Zum einen steigerte der Kläger seinen Vortrag in diesem Zusammenhang erheblich, indem er gegenüber der Einzelrichterin angab, sein Bruder werde regelmäßig festgenommen, er könne schon gar nicht mehr sagen, wie oft das schon passiert sei. Nach jeder Aktion des Klägers werde der Bruder zur Polizei vorgeladen. Andererseits gab der Kläger aber auch an, sein Bruder sei im April 2018 das letzte Mal verhaftet worden – obwohl der Kläger seitdem an drei weiteren Veranstaltungen in Deutschland teilgenommen haben will. Belege für die Vorladungen wurden im gesamten Verfahren nicht vorgelegt. Zweifelhaft erscheint außerdem, dass dem Bruder zwar angeblich gedroht wurde, ihn für das Engagement des Klägers zu belangen. Trotz der Fortsetzung der exilpolitischen Aktivitäten des Klägers kam es jedoch seit April 2018 zu keiner Vorladung mehr. Selbst wenn die Angaben als wahr unterstellt würden, liegt offensichtlich kein Interesse mehr am Bruder und dem Kläger seitens der Polizei vor.
Wohl aus asyltaktischen Gründen wurden hinsichtlich der Verfolgungssituation des Klägers im gerichtlichen Verfahren weitere Gegebenheiten vorgetragen, die sich in der mündlichen Verhandlung schlichtweg als falsch herausstellten: Anders als behauptet (vgl. Schriftsätze vom 26.9.2017 und 26.8.2019) und unabhängig davon, dass auch hierfür keine Belege vorgelegt wurden, läuft kein Ermittlungsverfahren gegen den Kläger. Der Kläger geht nach seinen Angaben hiervon lediglich – aufgrund eigener Rückschlüsse – aus bzw. erklärte, dass sein Name angeblich in einem Ermittlungsverfahren einer dritten Person auftauche. Der Kläger stehe deshalb auf einer schwarzen Liste und werde bei einer Wiedereinreise sofort verhaftet. Es macht aber einen deutlichen Unterschied, ob nun tatsächlich ein Verfahren eingeleitet wurde, oder dies nur befürchtet wird. Zuletzt wurde behauptet (vgl. Schriftsatz vom 26.8.2019), dass am 26. Juni 2017 ein zweiter (!) Prozess gegen den Kläger in Aserbaidschan stattgefunden habe, zu dem der Kläger auch geladen worden sei. In der mündlichen Verhandlung gab der Kläger hingegen an, noch nie eine Ladung für eine Gerichtsverhandlung in Aserbaidschan erhalten zu haben. Seine Angaben hinsichtlich der Situation im Heimatland werden daher insgesamt als unglaubhaft bewertet.
Damit ist nach Überzeugung des Gerichts nicht mit der für eine Flüchtlingsanerkennung notwendigen beachtlichen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Kläger bei der Rückkehr in ihr Heimatland politischer Verfolgung ausgesetzt sein werden, weshalb eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausscheidet.
b) Gleiches gilt für den geltend gemachten Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes. Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Hierzu wird auf die unter a) gemachten Ausführungen und den streitgegenständlichen Bescheid, § 77 Abs. 2 AsylG, verwiesen.
3. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG oder § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind nicht gegeben, insbesondere sind für ein Abschiebungsverbot für § 60 Abs. 5 AufenthG keine Anhaltspunkte ersichtlich. Der Kläger ist jung, gesund und erwerbsfähig und hat vor seiner Ausreise seinen Lebensunterhalt durch berufliche Tätigkeit erzielt. Dies ist ihm auch bei einer Rückkehr nach Aserbaidschan auch wieder zuzumuten. Darüber hinaus verfügt er über familiäre Bindungen. Im Übrigen wird auf die Begründung des Bescheids verwiesen, § 77 Abs. 2 AsylG.
4. Der Bescheid des Bundesamtes gibt schließlich hinsichtlich der Ziffer 5, wonach der Kläger unter Androhung der Abschiebung zur Ausreise aufgefordert worden ist, keinen Anlass zu Bedenken. Zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, auf den gemäß § 77 Abs. 1 AsylG abzustellen ist, sind Gründe, die dem Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen gegenüber dem Kläger entgegenstünden, nicht ersichtlich.
5. Die Entscheidung des Bundesamts, das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 bis 3 AufenthG auf 30 Monate zu befristen, gibt im Rahmen der dem Gericht möglichen Überprüfung (vgl. § 114 VwGO) keinen Anlass zur Beanstandung (vgl. hierzu auch BayVGH, B.v. 28.11.2016 – 11 ZB 16.30463).
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gem. § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert bestimmt sich nach § 30 RVG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

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