Verwaltungsrecht

Fahrerlaubnisentziehung – Maßgeblicher Zeitpunkt für die Vornahme der Maßnahmen nach dem Punktsystem

Aktenzeichen  M 26 S 16.1641

Datum:
9.5.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StVG StVG § 4 Abs. 2 S. 3, Abs. 5, Abs. 6
FeV FeV § 47 Abs. 1
VwGO VwGO § 80 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 Nr. 3, Abs. 5 S. 3
VwZVG VwZVG Art. 19 Abs. 1 Nr. 2, Art. 21a, Art. 31 Abs. 1, Art. 36 Abs. 1

 

Leitsatz

Für das Ergreifen der Maßnahmen hat die Fahrerlaubnisbehörde bei Eingang einer neuen Entscheidung zu prüfen, wie viele Punkte sich zum letzten Tattag ergeben haben (§ 4 Abs. 5 S. 5 StVG), wozu sie retrospektiv auf den Tag der Begehung der letzten Zuwiderhandlung abstellen muss. Ab Erreichen eines maßgeblichen Punktestandes (an einem Tattag) bis zur Vornahme der zugehörigen Maßnahme (nach Rechtskraft) liegt daher ein Zeitraum, in dem der Betroffene bereits weitere Zuwiderhandlungen begangen haben kann, die aber mangels eigener Rechtskraft noch nicht verwertet werden können. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Es wird festgestellt, dass die Anfechtungsklage gegen Nr. 2 des Bescheids des Antragsgegners vom 31. März 2016 aufschiebende Wirkung hat. Die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage gegen die Nr. 3 dieses Bescheides wird angeordnet. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
II.
Von den Kosten des Verfahrens haben der Antragsteller 3/4 und der Antragsgegner 1/4 zu tragen.
III.
Der Streitwert wird auf 2.500 € festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung seiner Fahrerlaubnis u. a. der Klasse B nach dem Punktsystem.
Mit Schreiben vom … Januar 2016 informierte das Kraftfahrt-Bundesamt den Antragsgegner, dass der Antragsteller einen Stand von fünf Punkten im Fahreignungsregister erreicht habe. Mit Schreiben vom … März 2016 ermahnte der Antragsgegner den Antragsteller. Bereits am … Februar 2016 (Tattag … November 2015) und am … Februar 2016 (Tattag … November 2015) waren … ordnungswidrigkeiten- bzw. strafrechtliche Entscheidungen gegenüber dem Antragsteller bestands- bzw. rechtskräftig geworden, die zur Eintragung von insgesamt drei weiteren Punkten im Fahreignungsregister führten.
Mit Schreiben vom … Februar 2016 informierte das Kraftfahrt-Bundesamt den Antragsgegner, dass der Antragsteller einen Stand von sechs Punkten im Fahreignungsregister erreicht habe. Mit Schreiben vom … März 2016 verwarnte der Antragsgegner den Antragsteller.
Mit Schreiben vom … März 2016, das beim Antragsgegner am … März 2016 einging, informierte das Kraftfahrt-Bundesamt diesen, dass der Antragsteller einen Stand von acht Punkten im Fahreignungsregister erreicht habe. Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 31. März 2016 entzog der Antragsgegner dem Antragsteller die Fahrerlaubnis (Nr. 1), forderte ihn auf, seinen Führerschein innerhalb einer Woche nach Zustellung des Bescheids abzugeben (Nr. 2) und drohte für die nicht fristgerechte Erfüllung der Abgabeverpflichtung ein Zwangsgeld in Höhe von a… € an (Nr. 3).
Mit Schriftsatz vom … April 2016 teilten die Bevollmächtigten des Antragstellers dem Antragsgegner mit, dass sich der Führerschein des Antragstellers in amtlicher Verwahrung befinde, da gegenüber diesem ein Fahrverbot verhängt worden sei.
Der Antragsteller ließ durch seine Bevollmächtigten ebenfalls am … April 2016 Anfechtungsklage erheben und einen Antrag im einstweiligen Rechtsschutzverfahren mit dem Inhalt stellen,
die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage gegen den Bescheid vom 31. März 2016 anzuordnen.
Zur Begründung wird ausgeführt, dass der Antragsteller bereits am … November 2015 acht Punkte im Fahreignungsregister erreicht habe, ohne dass der Antragsgegner ihn bis zu diesem Zeitpunkt ermahnt oder verwarnt habe.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Im Übrigen wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag ist nur teilweise begründet.
1. Die in Nr. 2 des streitgegenständlichen Bescheids ausgesprochene Verpflichtung zur Abgabe des Führerscheins wurde nicht für sofort vollziehbar erklärt (vgl. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO). Sie ist auch nicht kraft Gesetzes sofort vollziehbar. Soweit sich der Antragsgegner in der Begründung des Bescheids auf § 47 Abs. 1 FeV (wohl in entsprechender Anwendung) bezieht, ergibt sich hieraus nichts anderes, weil es sich bei dieser Vorschrift nicht um ein förmliches Gesetz im Sinne von § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO handelt (BayVGH, B.v. 22.09.2015 – 11 CS 15.1447 – ZfSch 2015, 217; Kopp/Schenke, VwGO, 21. Aufl. 2015, § 80 Rn. 65; Schmidt in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 80 Rn. 28; Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 43. Aufl. 2015, § 47 FeV Rn. 19). In sachgerechter Auslegung des gestellten Antrags und entsprechender Anwendung von § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO war daher festzustellen, dass dem Hauptsacherechtsbehelf insoweit aufschiebende Wirkung zukommt (vgl. § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO), da der Antragsgegner ersichtlich davon ausgeht, dass auch die Ablieferungsverpflichtung kraft Gesetzes sofort vollziehbar sei.
2. Vor diesem Hintergrund ist die Androhung des Zwangsgelds (Art. 31 Abs. 1, Art. 36 Abs. 1 VwZVG), die kraft Gesetzes sofort vollziehbar ist (Art. 21 a VwZVG), rechtswidrig, da zu dem im Bescheid festgesetzten Zeitpunkt für die Erfüllung der Ablieferungsverpflichtung diese selbst nicht vollstreckbar ist, da der förmliche Rechtsbehelf insoweit aufschiebende Wirkung hat (Art. 19 Abs. 1 Nr. 2 VwZVG). Die Verpflichtung zur Abgabe des Führerscheins hat sich nicht dadurch erledigt, dass sich dieser im Zeitpunkt der Wirksamkeit des streitgegenständlichen Bescheids bzw. möglicherweise auch jetzt noch in amtlicher Verwahrung und daher nicht in Besitz des Antragstellers befindet. Denn diese Verpflichtung misst sich dauernde Wirkung jedenfalls für denjenigen Zeitraum zu, in dem der Antragsteller nicht im Besitz einer Fahrerlaubnis ist. Die erhobene Anfechtungsklage gegen die Zwangsgeldandrohung wäre daher voraussichtlich erfolgreich.
3. Im Übrigen ist der Antrag jedoch unbegründet. Die im Rahmen einer Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung, die sich auch an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache orientiert, fällt, soweit die Entziehung der Fahrerlaubnis betroffen ist, zulasten des Antragstellers aus. Mit seiner Anfechtungsklage wird er aller Voraussicht nach unterliegen.
Wenn der Inhaber einer Fahrerlaubnis einen Stand von acht oder mehr Punkten im Fahreignungsregister erreicht hat, muss ihm die Fahrerlaubnisbehörde zwingend die Fahrerlaubnis entziehen (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG). Dass diese Voraussetzung im Zeitpunkt der Wirksamkeit des streitgegenständlichen Bescheids für sich genommen vorlag, räumt auch der Antragsteller ein. Die Fahrerlaubnisbehörde darf weiter erst dann zur Entziehung schreiten, wenn der Fahrerlaubnisinhaber bei einem Stand von vier oder fünf Punkten ermahnt (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG) und bei einem Stand von sechs oder sieben Punkten verwarnt (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG) wurde (§ 4 Abs. 6 Satz 1 StVG). Diese beiden weiteren Voraussetzungen sind im hier zu entscheidenden Fall ebenfalls erfüllt.
Dem steht nicht entgegen, dass die beiden Verkehrszuwiderhandlungen, die zu einem Erreichen eines Standes von acht Punkten im Fahreignungsregister führten, zeitlich bereits deutlich vor Ermahnung und Verwarnung begangen wurden. Punkte ergeben sich mit der Begehung der Straftat oder Ordnungswidrigkeit. Darüber hinaus muss die Entscheidung rechtskräftig werden (§ 4 Abs. 2 Satz 3 StVG). Nur dann kann eine Speicherung im Fahreignungsregister und eine Heranziehung für die Berechnung des Punktestands erfolgen. Ab Erreichen eines maßgeblichen Punktestandes (an einem Tattag) bis zur Vornahme der zugehörigen Maßnahme (nach Rechtskraft) liegt daher ein Zeitraum, in dem der Betroffene bereits weitere Zuwiderhandlungen begangen haben kann, die aber mangels eigener Rechtskraft noch nicht verwertet werden können. Für das Ergreifen der Maßnahmen hat die Fahrerlaubnisbehörde bei Eingang einer neuen Entscheidung zu prüfen, wie viele Punkte sich zum letzten Tattag ergeben haben (§ 4 Abs. 5 Satz 5 StVG). Die Fahrerlaubnisbehörde muss somit retrospektiv auf den Tag der Begehung der letzten Zuwiderhandlung abstellen. § 4 Abs. 6 StVG macht deutlich, dass Zuwiderhandlungen auch dann mit Punkten zu bewerten und bei der Prüfung der Maßnahmenstufe zu berücksichtigen sind, wenn sie vor der Einleitung der vorherigen Maßnahme des Fahreignungs-Bewertungssystems begangen worden sind. Grund hierfür ist, dass für das Entstehen der Punkte zwar das Tattagsprinzip gilt, jedoch für das Ergreifen von Maßnahmen keine Relevanz hat. Denn diese können erst nach Rechtskraft und Registrierung ergriffen werden. Die Maßnahme der Fahrerlaubnisbehörde ist daher vom Kenntnisstand der Behörde bei der Bearbeitung aus zu beurteilen. Damit wird im Interesse der Verkehrssicherheit dem nach altem Recht möglichen Ausblenden von Taten und Punkten entgegengewirkt (vgl. zum Ganzen Münchener Kommentar zum Straßenverkehrsrecht, 2016, Band 1, § 4 StVG, Rn. 27 m. w. N.). Eine Punktereduzierung nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG tritt nur ein, wenn der Fahrerlaubnisbehörde am Tag des Ausstellens der ergriffenen Maßnahme weitere Verkehrsverstöße bekannt sind, die zu einer Einstufung in eine höhere Stufe nach § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG führen (BayVGH, Urt.v. 11.8.2015 – 11 BV 15.909 – VRS 129, 27). Das war hier jedoch nicht der Fall.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Verpflichtung zur Ablieferung des Führerscheins spielt im Verhältnis zur Entziehung der Fahrerlaubnis selbst nur eine untergeordnete Rolle, nachdem der bloße Besitz eines Führerscheins nicht zum Führen von Kraftfahrzeugen im Straßenverkehr berechtigt, wenn der Inhaber des Führerscheins – wie hier – tatsächlich keine Fahrerlaubnis mehr hat. Nachdem die Ablieferungspflicht jedoch zwangsgeldbewehrt ist, scheidet eine Anwendung von § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO aus und erscheint die im Tenor ausgesprochene Kostenteilung angemessen.
5. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG und den Empfehlungen in Nrn. 1.5 und 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.

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