Aktenzeichen 11 ZB 16.1154
StVG StVG aF § 4 Abs. 3 Nr. 2
Leitsatz
1 Auch wenn die Fahrerlaubnisbehörde verpflichtet gewesen wäre, gegenüber dem Fahrerlaubnisinhaber die Teilnahme an einem Aufbauseminar anzuordnen, ihm hierfür eine Frist zu setzen und ihn schriftlich auf die Möglichkeit einer verkehrspsychologischen Beratung mit der Möglichkeit eines Punktabzugs hinzuweisen, führt das Unterlassen der Fahrerlaubnisbehörde nicht dazu, dass dem Fahrerlaubnisinhaber ein Punktabzug gewährt werden müsste, wenn er an einer verkehrspsychologischen Beratung nicht teilgenommen hat. (redaktioneller Leitsatz)
2 In welchen Fällen sich der Punktestand bei einem nicht ordnungsgemäßen Durchlaufen des Stufensystems verringert, regelt § 4 Abs. 6 S. 3 bis 5 StVG. Eine analoge Anwendung der Vorschrift zum Punktabzug zur Beseitigung der Folgen (etwaig) rechtswidrigen Verwaltungshandelns bzw. -unterlassens ist allenfalls in besonderen Ausnahmefällen möglich. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III.
Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 15.000,- Euro festgesetzt.
Gründe
I. Der Kläger wendet sich gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen A, B, und C1 (einschließlich Unterklassen) nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem.
Nachdem der Kläger aufgrund von Verkehrszuwiderhandlungen in den Jahren 2006 bis 2009 zehn Punkte im früheren Verkehrszentralregister erreicht hatte, verwarnte ihn die Fahrerlaubnisbehörde mit Schreiben vom 1. September 2009 gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG in der bis 30. April 2014 geltenden Fassung (im Folgenden: StVG a. F.) und wies ihn auf die Möglichkeit einer freiwilligen Teilnahme an einem Aufbauseminar mit Punktabzug hin, die der Kläger nicht wahrnahm.
Mit Schreiben vom 4. Dezember 2012 teilte das Kraftfahrt-Bundesamt zwei weitere Verkehrsverstöße des Klägers mit, die mit insgesamt 4 Punkten bewertet worden waren. Der Gesamtpunktestand betrage nunmehr (unter Berücksichtigung von Tilgungen der Taten aus den Jahren 2006 und 2007) acht Punkte.
Nachdem der Kläger im Jahr 2013 weitere Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr begangen hatte, teilte das Kraftfahrt-Bundesamt der Fahrerlaubnisbehörde mit Schreiben vom 6. Februar 2014 mit, dass der Kläger (unter Berücksichtigung zwischenzeitlicher Tilgungen) einen Stand von 14 Punkten erreicht habe. Das Schreiben ging am 12. Februar 2014 bei der Fahrerlaubnisbehörde ein. Eine Anordnung nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG a. F., wonach die Fahrerlaubnisbehörde, ergeben sich 14, aber nicht mehr als 17 Punkte, die Teilnahme an einem Aufbauseminar anzuordnen und hierfür eine Frist zu setzen hatte, erging nicht. Ebenso wenig hat die Fahrerlaubnisbehörde den Kläger schriftlich auf die Möglichkeit einer verkehrspsychologischen Beratung (mit der Folge eines Punktabzugs) hingewiesen.
Die Fahrerlaubnisbehörde berechnete am 20. Mai 2014 unter Berücksichtigung einer weiteren Verkehrszuwiderhandlung des Klägers am 11. Dezember 2013 (Rechtskraft: 14.1.2014) einen Stand von 15 Punkten zum 30. April 2014, die nach den zum 1. Mai 2014 eingeführten Fahreignungs-Bewertungssystem in sechs Punkte (neu) umgerechnet wurden. Sie vermerkte, eine Maßnahme nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG a. F. sei nicht mehr möglich.
Mit Schreiben vom 30. Dezember 2014 teilte das Kraftfahrt-Bundesamt der Fahrerlaubnisbehörde mit, aufgrund eines weiteren Verkehrsverstoßes am 15. Juli 2014 (Rechtskraft der Ahndung: 11.12.2014) habe der Kläger (unter Berücksichtigung von Tilgungen alter Punkte und neuer Umrechnung zum 1. Mai 2014 einen Stand von sechs Punkten (neu) erreicht.
Mit Schreiben vom 22. Januar 2015 verwarnte die Fahrerlaubnisbehörde den Kläger gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG in der seit 1. Mai 2014 geltenden Fassung (im Folgenden: StVG).
Mit Schreiben vom 1. September 2015 teilte das Kraftfahrt-Bundesamt der Fahrerlaubnisbehörde mit, dass der Kläger am 11. August 2014 (Rechtskraft der Ahndung: 10.2.2015) und am 20. Januar 2015 (Rechtskraft der Ahndung: 12.8.2015) weitere Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr begangen habe, die mit jeweils einem weiteren Punkt bewertet worden seien, so dass der Kläger nunmehr einen Stand von acht Punkten erreicht habe.
Nach Anhörung entzog die Fahrerlaubnisbehörde dem Kläger mit Bescheid vom 15. Oktober 2015 die Fahrerlaubnis (Nr. 1 des Bescheids) und forderte ihn unter Androhung von Zwangsmitteln auf, den Führerschein unverzüglich, spätestens fünf Tage nach Zustellung des Bescheids, zurückzugeben (Nrn. 2 und 3).
Die gegen den Bescheid erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht Würzburg mit Urteil vom 27. April 2016 abgewiesen.
Dagegen wendet sich der Kläger mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung, dem der Beklagte entgegentritt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II. Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Aus der Antragsbegründung, auf die sich die Prüfung des Verwaltungsgerichtshofs beschränkt (§ 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO), ergeben sich die geltend gemachten Zulassungsgründe (§ 124 Abs. 2 Nr. 1, 2 und 3 VwGO) nicht.
1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) liegen vor, wenn ein tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird (zu diesem Maßstab vgl. BVerfG, B.v. 16.7.2013 – 1 BvR 3057.11 – BVerfGE 134, 106/118; B.v. 21.1.2009 – 1 BvR 2524.06 – NVwZ 2009, 515 m. w. N.). Solche Zweifel können der Antragsbegründung nicht entnommen werden.
Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310), zuletzt geändert durch Gesetz vom 8. Juni 2015 (BGBl I S. 904), und § 46 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 18. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980), zuletzt geändert durch Verordnung vom 2. Oktober 2015 (BGBl I S. 1674), hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich ihr Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG ist die Fahrerlaubnis zu entziehen, ergeben sich acht oder mehr Punkte im Fahreignungsregister. Diese Voraussetzung ist hier erfüllt.
1.1 Der Kläger macht geltend, er habe die zweite Stufe des Verwarnungssystems gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG a. F. nicht ordnungsgemäß durchlaufen. Die Fahrerlaubnisbehörde habe nach der Meldung des Kraftfahrt-Bundesamts vom 6. Februar 2014 bei einem Stand von 15 Punkten (alt) nicht nur nicht rechtzeitig, sondern zu keinem Zeitpunkt eine Verwarnung nach dieser Vorschrift ausgesprochen. Entgegen der Einschätzung des Verwaltungsgerichts sei das schuldhaft gewesen. Durch den Akteninhalt sei belegt, dass der Fahrerlaubnisbehörde der Punktestand des Klägers im maßgeblichen Zeitraum bewusst gewesen sei. Die Behörde sei also trotz Kenntnis des Sachverhalts untätig geblieben. Dies stelle eine sachwidrige Vorgehensweise der Fahrerlaubnisbehörde dar. Die Untätigkeit der Fahrerlaubnisbehörde habe darüber hinaus dazu geführt, dass dem Kläger die Möglichkeit einer Punktereduzierung durch die Teilnahme an einer verkehrspsychologischen Beratung gemäß § 4 Abs. 4 Satz 2 StVG a. F. genommen worden sei, da er von dieser Möglichkeit keine Kenntnis erlangt habe. Diese Möglichkeit sei dem Kläger anschließend durch die Änderung des § 4 StVG mit Wirkung zum 1. Mai 2014 endgültig genommen worden; aufgrund dessen habe der Verstoß auch nicht durch die neuerliche Verwarnung vom 22. Januar 2015 geheilt werden können. Daher sei hier in Anlehnung an § 4 Abs. 5 Satz 2 StVG a. F. ein Punktabzug vorzunehmen.
a) Dem Zulassungsvorbringen ist zuzugeben, dass die Fahrerlaubnisbehörde nach der Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamts vom 6. Februar 2014 gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 StVG a. F. verpflichtet gewesen wäre, gegenüber dem Kläger die Teilnahme an einem Aufbauseminar anzuordnen und ihm hierfür eine Frist zu setzen. Außerdem hätte sie ihn nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Satz 2 StVG a. F. schriftlich auf die Möglichkeit einer verkehrspsychologischen Beratung nach § 4 Abs. 9 StVG a. F. mit der Möglichkeit eines Punktabzugs nach § 4 Abs. 4 Satz 2 StVG a. F. hinweisen müssen. Der Kläger hätte dann durch die Teilnahme an einer verkehrspsychologischen Beratung die Möglichkeit gehabt hätte, bei einem Stand von 14 oder 15 Punkten im Verkehrszentralregister zwei Punkte abzubauen, wenn er der Fahrerlaubnisbehörde hierüber innerhalb von drei Monaten nach Beendigung eine Bescheinigung vorgelegt hätte.
Jedoch führt das Unterlassen der Fahrerlaubnisbehörde nicht dazu, dass dem Kläger ein Punktabzug gewährt werden müsste. Einen Abzug von zwei Punkten nach § 4 Abs. 4 Satz 2 StVG a. F. kann der Kläger nicht beanspruchen, denn er hat an einer verkehrspsychologischen Beratung nicht teilgenommen. Dafür, dass der Kläger so gestellt werden müsste, als hätte er an der verkehrspsychologischen Beratung teilgenommen, weil die Fahrerlaubnisbehörde ihn nicht gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Satz 2 StVG a. F. verwarnt und ihn nicht auf die Möglichkeit einer verkehrspsychologischen Beratung und den dadurch möglichen Abbau von zwei Punkten hingewiesen hat (vgl. § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Satz 3 StVG a. F.), gibt es keine gesetzliche Grundlage.
b) Die Fahrerlaubnisbehörde hat den Kläger vor der Entziehung der Fahrerlaubnis mit Schreiben vom 9. September 2009 nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG a. F. und mit Schreiben vom 21. Januar 2015 nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG verwarnt.
Dadurch, dass die Fahrerlaubnisbehörde den Kläger erst nach dem Inkrafttreten von § 4 Abs. 5 StVG zum 1. Mai 2014 (Gesetz v. 28.8.2013, BGBl I S. 3313) verwarnt hat, ergab sich für den Kläger nicht mehr die Möglichkeit zum Punktabbau durch eine verkehrspsychologische Beratung, weil § 4 StVG in der ab 1. Mai 2014 geltenden Fassung das nicht mehr vorsieht, sondern in § 4 Abs. 7 StVG nur noch bei einem Stand von ein bis fünf Punkten einen Punktabbau durch freiwillige Teilnahme an einem Fahreignungsseminar ermöglicht.
In welchen Fällen sich der Punktestand bei einem nicht ordnungsgemäßen Durchlaufen des Stufensystems verringert, regelt § 4 Abs. 6 Sätze 3 bis 5 StVG. Nach § 4 Abs. 6 Satz 2 StVG ist, sofern die Maßnahme der davor liegenden Stufe noch nicht ergriffen worden ist, diese zu ergreifen. In diesem Fall verringert sich der Punktestand mit Wirkung vom Tag des Ausstellens der ergriffenen Ermahnung auf fünf Punkte und der ergriffenen Verwarnung auf sieben Punkte, wenn der Punktestand zu diesem Zeitpunkt nicht bereits durch Tilgungen oder Punktabzüge niedriger ist (§ 4 Abs. 6 Satz 3 Nr. 1 und 2 StVG). Diese Fälle liegen hier nicht vor.
Eine Anwendung des bis zum 30. April 2014 geltenden Rechts (§ 4 Abs. 5 Satz 2 StVG a. F.), wonach dem Kläger ein Punktabzug hätte gewährt werden müssen, weil er bei Ergreifen der Maßnahme der zweiten Stufe am 22. Januar 2015 durch die der Fahrerlaubnisbehörde zu diesem Zeitpunkt noch unbekannte weitere Zuwiderhandlung vom 20. Januar 2015 nach dem früher auch insoweit geltenden Tattagprinzip bereits acht Punkte erreicht hatte, ist nach dem Inkrafttreten der Gesetzesänderung zum 1. Mai 2014 mangels Übergangsvorschrift nicht möglich.
Eine analoge Anwendung der Vorschrift zum Punktabzug zur Beseitigung der Folgen (etwaig) rechtswidrigen Verwaltungshandelns bzw. -unterlassens ist allenfalls in besonderen Ausnahmefällen möglich. Der Gesetzgeber hat mit der Neuregelung des § 4 StVG zum 1. Mai 2014 nicht nur die Warnfunktion des Punktsystems erheblich eingeschränkt, indem er auf die Kenntnis der Fahrerlaubnisbehörde von den Punkten für die Zuwiderhandlungen abstellt (vgl. § 4 Abs. 6 Satz 4 sowie § 4 Abs. 5 Satz 5 und 6 StVG), sondern auch die Möglichkeit zum Punktabbau – wie dargestellt – beschränkt. Das kommt auch in der Übergangsvorschrift des § 65 Abs. 3 Nr. 5 Buchst. a Satz 1 StVG zum Ausdruck. Danach sind Punkteabzüge nach § 4 Abs. 4 Satz 1 und 2 StVG a. F. vorzunehmen, wenn die Bescheinigung über die Teilnahme an einem Aufbauseminar oder einer verkehrspsychologischen Beratung bis zum Ablauf des 30. April 2014 der Fahrerlaubnisbehörde vorgelegt worden ist. Die Vorschrift sieht also ausdrücklich keine Regelung dahingehend vor, dass, ist eine allgemeine Maßnahme der zweiten Stufe mit der Möglichkeit eines Punktabbaus vor dem 1. Mai 2014 ergriffen worden, die Vorlage über die Teilnahme an einer verkehrspsychologischen Beratung auch nach dem 1. Mai 2014 noch möglich ist, wie etwa die Vorschrift des § 65 Abs. 4 StVG im Verhältnis Aufbauseminar und Fahreignungsseminar.
Ob und ggf. unter welchen Umständen eine Punktereduzierung in analoger Anwendung der Vorschrift des § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG in einem solchen Fall denkbar ist, kann hier offen bleiben; denn sie käme allenfalls bei einem rechtsmissbräuchlichen Vorgehen der Fahrerlaubnisbehörde in Frage (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 28.4.2016 – 11 CS 16.537 – juris).
Eine Übergangsregelung, bis zu welchem Zeitpunkt die Maßnahme nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG a. F. noch zu ergreifen ist, um die Bescheinigung noch bis zum Ablauf des 30. April 2014 der Fahrerlaubnisbehörde vorlegen zu können, fehlt. Daher sind grundsätzlich die bis zum 30. April 2014 geltenden gesetzlichen Regelungen auch bis zum 30. April 2014 anzuwenden. Eine gesetzliche Regelung, innerhalb welchen Zeitraums die Fahrerlaubnisbehörde nach Kenntnisnahme von den Zuwiderhandlungen und der sich daraus ergebenden Punkte die einzelnen Maßnahmen zu ergreifen hat, besteht nicht. Eine etwaige Untätigkeit der Fahrerlaubnisbehörde trotz Kenntnis von den Zuwiderhandlungen und dem Punktestand würde sich aufgrund des Stufensystems im Regelfall zugunsten des Fahrerlaubnisinhabers auswirken, weil es dann wegen Versäumung rechtzeitiger Maßnahmen eher zu einer Punkteverringerung nach § 4 Abs. 6 Satz 2 und 3 StVG kommen kann. Im vorliegenden Fall wirkt sich wegen der Änderung der gesetzlichen Regelungen zum 1. Mai 2014 die Untätigkeit der Behörde zulasten des Fahrerlaubnisinhabers aus. Das Gesetz sieht jedoch auch in seinen Übergangsbestimmungen keine den Fahrerlaubnisinhaber begünstigende Regelung vor, wonach sich der Punktestand des Fahrerlaubnisinhabers verringern könnte, wenn die Behörde Maßnahmen, die nach altem, auslaufenden Recht möglich waren, nicht rechtzeitig ergriffen hat.
Warum die Fahrerlaubnisbehörde vom 12. Februar 2014 bis zum 30. April 2014 die Maßnahme nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG a. F. nicht ergriffen hat, ergibt sich aus den vorgelegten Akten und dem Vortrag des Beklagten im gerichtlichen Verfahren nicht. Von einem rechtsmissbräuchlichen Vorgehen der Fahrerlaubnisbehörde ist hier angesichts des relativ kurzen Zeitraums der Untätigkeit vom 12. Februar 2014 bis zum 30. April 2014, in der nicht nur die Anordnung nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 StVG a. F. hätte ergehen müssen, sondern der Kläger auch das anzuordnende Aufbauseminar und anschließend die verkehrspsychologische Beratung hätte absolvieren müssen, jedoch nicht auszugehen.
Soweit der Kläger rügt, dass die Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamts vom 30. Dezember 2014 erst durch die Verwarnung vom 22. Januar 2015 umgesetzt wurde, liegt darin offensichtlich keine rechtsmissbräuchliche Verzögerung.
1.2 Der Kläger trägt weiter vor, die Warnfunktion des Stufensystems sei erst mit der (weiteren) Gesetzesänderung zum 5. Dezember 2014 (Gesetz v. 28.11.2014, BGBl I S. 1802) entfallen. Das Stelle im Hinblick auf die Zuwiderhandlung des Klägers vom 11. August 2014, die mit einem Punkt bewertet worden sei, eine unzulässige unechte Rückwirkung dar. Dabei übersieht der Kläger jedoch, dass er mit dieser Zuwiderhandlung erst sieben Punkte erreicht hatte, ein Punktestand, an den das Gesetz im Verhältnis zum Stand von sechs Punkten (vgl. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG) keine weitere Rechtsfolge knüpft. Insoweit liegt keine Rückanknüpfung an in der Vergangenheit liegende Tatsachen vor. Das Vorliegen einer unechten Rückwirkung kann nicht mit dem unterlassenen Handeln der Fahrerlaubnisbehörde im Fall des Klägers begründet werden.
1.3 Der Kläger sieht einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, das Willkürverbot und das Rechtsstaatsprinzip darin, dass es nach neuem Recht darauf ankommt, wann die Fahrerlaubnisbehörde von Punkten für Zuwiderhandlungen erfährt (§ 4 Abs. 5 Satz 5, Abs. 6 Satz 4 StVG). Dadurch werde massiv das Einlegen von Rechtsmitteln erschwert. Hätte sich der Kläger nicht gegen die Taten vom 15. Juli 2014 und 11. August 2014 zur Wehr gesetzt, wäre auf sie noch die Regelung des § 4 StVG in der Fassung vor dem 5. Dezember 2014 mit der Folge einer Punktereduzierung anwendbar gewesen.
Ob das so gewesen wäre, weil die (beabsichtigte) Aufgabe der Warnfunktion des Stufensystems im Gesetzeswortlaut der Änderung zum 1. Mai 2014 nicht ausreichend zum Ausdruck gekommen ist (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 8.6.2015 – 11 CS 15.718 – juris Rn. 19 f.) kann hier offen bleiben. Denn der Kläger hat einen Stand von acht Punkten erst mit der Zuwiderhandlung vom 20. Januar 2015 erreicht. Zu diesem Zeitpunkt war durch die Gesetzesänderung zum 5. Dezember 2014 ausreichend klargestellt, dass der Gesetzgeber die Warnfunktion des Stufensystems nicht mehr aufrechterhalten wollte. Es ist der Fahrerlaubnisbehörde schlicht nicht möglich, Taten zu berücksichtigen, die noch nicht rechtskräftig geahndet sind. Sie können nicht einer Ermahnung oder Verwarnung zugrunde gelegt werden. Hierüber kann die Fahrerlaubnisbehörde im Gegensatz zum Betroffenen in der Regel auch keine Kenntnis haben. Der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG wird dadurch nicht verletzt, da das Abstellen auf die Rechtskraft einer verkehrsrechtlichen Ahndung einen sachlichen Grund darstellt. Es stellt auch keinen Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG dar, dass der Gesetzgeber die in § 4 Abs. 5 Satz 1 und 2 StVG a. F. geregelte Warn- und Erziehungsfunktion und die damit einhergehende Verringerung der Punktestände weitestgehend aufgegeben hat. Es ist nicht ersichtlich, dass es verfassungsrechtlich geboten wäre, eine solche Begünstigung für Personen, die in kurzen zeitlichen Abständen erhebliche Verkehrsverstöße begehen, beizubehalten. Soweit keine willkürliche Verzögerung der Kenntnisnahme durch die Behörde vorliegt, ist es nicht zu beanstanden, die entsprechenden Maßnahmen vom Kenntnisstand der Fahrerlaubnisbehörde abhängig zu machen (vgl. OVG NW, B.v. 27.4.2015 – 16 226/15 – juris Rn. 13).
2. Die Berufung ist auch nicht wegen besonderer rechtlicher Schwierigkeiten der Rechtssache zuzulassen (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO). Hierzu hätte der Kläger darlegen müssen, dass die Beantwortung der für die Entscheidung erheblichen Fragen in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht voraussichtlich das durchschnittliche Maß nicht unerheblich überschreitende Schwierigkeiten bereitet, sich also der Rechtsstreit wegen seiner Komplexität und abstrakten Fehleranfälligkeit aus der Mehrzahl der verwaltungsgerichtlichen Verfahren heraushebt. Dies lässt sich der Antragsbegründung nicht entnehmen. Dass der Kläger nicht auf die Möglichkeit einer verkehrspsychologischen Beratung mit Punktabbau hingewiesen wurde, kann, wie dargelegt, mangels gesetzlicher Grundlage nicht zu einem Punktabzug führen, zumindest soweit nicht von einem rechtsmissbräuchlichen Vorgehen der Behörden auszugehen ist.
3. Auch die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) liegt nicht vor. Hierzu muss der Rechtsmittelführer eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formulieren, ausführen, weshalb diese Frage entscheidungserheblich ist, erläutern, weshalb die vorformulierte Frage klärungsbedürftig ist, und darlegen, warum der Frage eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (st.Rspr., vgl. BayVGH, B.v. 3.2.2016 – 10 ZB 15.1413 – juris Rn. 8; B.v. 15.1.2016 – 7 ZB 15.929 – juris Rn. 5; Happ in Eyermann, VwGO, § 124a Rn. 72).
Die Rechtsfrage, ob es zulasten des Betroffenen gehen darf, wenn ihm die Möglichkeit einer Punktereduzierung durch die Teilnahme an einer verkehrspsychologischen Beratung gemäß § 4 Abs. 4 Satz 2 StVG a. F. aufgrund eines Behördenfehlers genommen wurde und die Möglichkeit des Nachholens der Punktereduzierung durch eine verkehrspsychologische Beratung dem Betroffenen in der Folge durch eine Gesetzesänderung genommen wurde, ist nicht grundsätzlich bedeutsam. Sie lässt sich aus dem Gesetz beantworten. Das Vorliegen eines Ausnahmefalls kann nur im Einzelfall beurteilt werden.
4. Der Antrag auf Zulassung der Berufung war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO abzulehnen. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 2 und 1 GKG i. V. m. den Empfehlungen in Nr. 46.1, 46.3 und 46.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (abgedruckt in Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl. 2016, Anh. § 164 Rn. 14).
5. Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124 a Abs. 5 Satz 4 VwGO).