Aktenzeichen M 26 K 17.42360
Leitsatz
1. Zwar sind auf dem afghanischen Arbeitsmarkt junge kräftige Männer als ungelernte Hilfskräfte bzw. Tagelöhner in einfache Tätigkeiten, bei denen harte körperliche Arbeit gefragt ist, zu vermitteln, die allenfalls geeignet sind, das Existenzminimum des Arbeitssuchenden zu sichern; es erscheint indes ausgeschlossen, über eine derartige Tätigkeit den Lebensunterhalt für eine vierköpfige Familie zu sichern. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt. Der Bescheid des Bundesamtes für … vom 16. Mai 2017 wird in den Nrn. 4, 5 und 6 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen.
II. Von den Kosten des Verfahrens tragen die Kläger 2/3 und die Beklagte 1/3.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Soweit die Klage zurückgenommen wurde, war das Verfahren einzustellen (§ 92 Abs. 3 VwGO).
Soweit die Klage aufrechterhalten wurde, ist sie zulässig und begründet.
Die Kläger haben im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) einen Anspruch auf die Verpflichtung der Beklagten, ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die entgegenstehende Feststellung, die Abschiebungsandrohung nach Afghanistan sowie das festgesetzte Einreise- und Aufenthaltsverbot erweisen sich somit als rechtswidrig und sind folglich aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs können schlechte humanitäre Bedingungen eine auf eine Bevölkerungsgruppe bezogene Gefahrenlage darstellen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK führt. Bei der Rückkehr von Familien mit minderjährigen Kindern ist dies angesichts der in Afghanistan derzeit herrschenden Rahmenbedingungen im Allgemeinen der Fall, so dass für diese ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG besteht (vgl. BayVGH, U.v. 23.3.1017 – 13a B 17.30030 – juris, B.v. 30.9.2015 – 13a ZB 15.30063 – juris, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – InfAuslR 2015, 212). Dabei gilt, dass die mit dem Kläger zu 1. in Deutschland zusammenlebende Ehefrau und die gemeinsamen Kinder im Rahmen der gebotenen Gefahrenprognose bei Rückkehr nach Afghanistan mit zu berücksichtigen sind, da der Kläger zu 1. mit ihnen als Familie in der Bundesrepublik Deutschland zusammenlebt (hierzu BayVGH, U.v. 21.11.2018 – 13a B 18.30632; U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31960). Damit ist der Prüfung eine gemeinsame Rückkehr des Klägers mit seiner Frau und seinen Kindern nach Afghanistan zugrunde zu legen.
Es ist nach diesem Maßstab derzeit davon auszugehen, dass der Kläger zu 1., wenn er mit seiner Ehefrau und seinen drei Kindern nach Afghanistan zurückkehrt, alsbald nach der Rückkehr mit der Familie in eine extreme Gefahrenlage geraten würde, die eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich als unzumutbar erscheinen lässt. Unter den vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in seinen oben zitierten Entscheidungen anhand der aktuellen Erkenntnismittel dargestellten Rahmenbedingungen wird es dem Kläger nicht möglich sein, für sich und seine Familie eine menschenwürdige Lebensgrundlage hinsichtlich Arbeit, Wasser und Gesundheitsversorgung zu schaffen. Es liegt ein außergewöhnlicher Fall vor, in dem die humanitären Gründe gegen die Abschiebung zwingend sind. Es ist nicht sichergestellt, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan den Lebensunterhalt für sich und seine Familie wird erwirtschaften können, um die elementaren Bedürfnisse der Familie zu befriedigen. Hierbei ist zwar zu berücksichtigen, dass der Kläger über berufliche Erfahrungen im Transportgewerbe verfügt. Auch die Klägerin zu 2. hat zeitweise ein eigenes Friseurgeschäft gehabt. Es ist jedoch trotzdem davon auszugehen, dass die Kläger einem harten Verdrängungswettbewerb mit vielen anderen Arbeitskräften ausgesetzt sein würden. Auf dem afghanischen Arbeitsmarkt sind zwar junge kräftige Männer in einfache Tätigkeiten, bei denen harte körperliche Arbeit gefragt ist, noch zu vermitteln. Bei den angebotenen Erwerbstätigkeiten handelt es sich jedoch meist um solche als ungelernte Hilfskräfte bzw. Tagelöhner, die allenfalls geeignet sind, das Existenzminimum des Arbeitssuchenden selbst sicherzustellen. Dem Gericht erscheint es ausgeschlossen, dass der Kläger über eine derartige Tätigkeit den Lebensunterhalt für sich und seine Familie wird sichern können. Da die Ehefrau des Klägers die Kinder, insbesondere auch die volljährige behinderte Tochter, zu versorgen hat, scheidet es aus, anzunehmen, dass sie zur Zeit in nennenswertem Umfang zum Familienunterhalt beitragen kann.
Dabei ist das Gericht der Auffassung, dass die zweifellos gegebene dauerhafte Hilfsbedürftigkeit der volljährigen behinderten Tochter A … in diesem Einzelfall maßgeblich dazu beiträgt, dass bei Rückkehr eine extreme Gefahrenlage droht. Auch ist das Gericht der Auffassung, dass den noch nicht volljährigen Kindern nicht angesonnen werden kann, zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen, auch wenn ihre Altersgenossen in Afghanistan häufig bereits arbeiten dürften.
Ob bei den Klägern zudem die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, bedarf vorliegend keiner Entscheidung, da es sich bei den national begründeten Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. der EMRK und
§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand mit mehreren Anspruchsgrundlagen handelt (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – juris Rn. 17).
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.