Aktenzeichen M 1 S 17.46651
Leitsatz
Im Asylrecht fehlt es an der Bekanntgabe eines Bescheides, wenn der Asylsuchende lediglich zufällig Kenntnis von diesem erhält, da es an einem wissentlichen und willentlichen Handeln der zuständigen Behörde fehlt. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Es wird vorläufig festgestellt, dass der Bescheid des Bundesamts vom 10. Mai 2017 – Az. … – nicht wirksam geworden ist, das Asylverfahren des Antragstellers nicht bestandskräftig abgeschlossen und eine Abschiebungsandrohung nicht wirksam erfolgt ist.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt Eilrechtsschutz gegen die drohende Überstellung nach Pakistan.
Der Antragsteller ist nach eigenen Angaben pakistanischer Staatsangehöriger, reiste im Dezember 2014 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 27. Januar 2015 einen Asylantrag.
Das Bundesamt für … (Bundesamt) lehnte mit Bescheid vom 10. Mai 2017 (Az. …) die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) und auf subsidiären Schutz (Nr. 3) ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Der Antragsteller wurde aufgefordert, innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen, anderenfalls wurde ihm die Abschiebung nach Pakistan bzw. in einen anderen Staat, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist, angedroht (Nr. 5). Zudem wurde das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).
Dieser Bescheid wurde samt Zuleitungsschreiben an den Antragsteller unter der Adresse „D …“ adressiert (Bl. 112, 127 Behördenakte). Gemäß Postzustellungsurkunde vom 12. Mai 2017 war der Kläger unter dieser Anschrift nicht zu ermitteln (Bl. 148 ff. Behördenakte).
Aufgrund des Zuweisungsbescheids vom 3. März 2015 war dem Kläger im maßgeblichen Zeitraum Mai 2017 eine Unterkunft unter der Adresse „P …“ als Wohnsitz zugewiesen (Bl. 27 Behördenakte). Gemäß einer durch das Landratsamt … am 11. September 2017 gegenüber dem Gericht erteilten Auskunft soll sich der Kläger für eine Teilnahme am Integrationscampus in … interessiert haben, weshalb er künftig zur Wohnsitznahme unter der Adresse „D …“ verpflichtet werden sollte. Ein entsprechender Zuweisungsbescheid sei von der zuständigen Regierungsaufnahmestelle unter dem Datum 27. Juni 2017 zwar erstellt, dem Kläger im Ergebnis jedoch letztlich nicht zugestellt worden, weil er sich kurzfristig gegen die Teilnahme am Integrationscampus entschieden habe. Dieser (sich in der Behördenakte nicht befindliche) Zuweisungsbescheid sei trotzdem u.a. an das Bundesamt geleitet worden, weshalb das Bundesamt den Bescheid vom 10. Mai 2017 an die Adresse „D …“ geschickt habe.
Mit Schriftsatz vom … Juni 2017 – eingegangen bei Gericht am selben Tag – erhob der Antragsteller durch seinen Verfahrensbevollmächtigten Klage gegen den Bescheid vom 10. Mai 2017.
Mit Schriftsatz vom … August 2017 – eingegangen bei Gericht am selben Tag – beantragt der Antragsteller,
festzustellen, dass die Klage vom …06.2017 aufschiebende Wirkung hat.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Antragsteller im Rahmen einer Vorsprache bei der Ausländerbehörde von dem Bescheid vom 10. Mai 2017 erfahren habe. Der Bescheid sei dem Antragsteller nicht zugestellt worden und gelte auch nicht als zugestellt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten im Klage- und Eilverfahren sowie auf die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ist nach § 123 Abs. 1 VwGO zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.
Das Gericht muss das Antragsbegehren – ebenso wie das Klagebegehren in der Hauptsache – von Amts wegen ermitteln (BVerwG, U.v. 22.5.1980 – 2 C 30/78 – juris Rn. 21). Dabei darf es zwar nach § 88 VwGO nicht über das Klagebegehren hinausgehen, ist aber auch nicht an vom Antragsteller bzw. Kläger gestellte Anträge gebunden. Das Rechtsschutzbegehren ist aus der Antragsbegründung ersichtlich nach § 88 VwGO dahingehend auszulegen, dass der Antragsteller die (vorläufige) Feststellung begehrt, dass der Bescheid des Bundesamts vom 10. Mai nicht wirksam geworden ist, sein Asylverfahren nicht bestandskräftig abgeschlossen wurde und er mangels wirksamer Abschiebungsandrohung nicht nach Pakistan überstellt werden darf.
1. Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Dabei hat der Antragsteller sowohl den (aus dem streitigen Rechtsverhältnis abgeleiteten) Anspruch, bezüglich dessen die vorläufige Regelung getroffen werden soll (Anordnungsanspruch), wie auch die Dringlichkeit einer vorläufigen Regelung (Anordnungs-grund) glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO). Maßgeblich für die Beurteilung sind dabei die rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts.
2. Der Antrag ist zulässig, insbesondere ist er nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO statthaft.
Zwar ist vorläufiger Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO gemäß § 123 Abs. 5 VwGO grundsätzlich vorrangig. Vorliegend ist jedoch in der Hauptsache kein Anfechtungsrechtsbehelf statthaft, da der Bescheid vom 10. Mai 2017 dem Antragsteller nicht bekanntgegeben und damit nicht wirksam wurde, § 43 Abs. 1 Satz 1 VwVfG.
Gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1 VwVfG wird ein Verwaltungsakt demjenigen, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, in dem Zeitpunkt wirksam, indem er ihm bekannt gegeben wird. Eine Bekanntgabe liegt nur dann vor, wenn die für die Bekanntgabe zuständige Behörde in amtlicher Eigenschaft wissentlich und willentlich den Inhalt des Verwaltungsaktes dem Betroffenen gegenüber eröffnet hat und der Verwaltungsakt dem Adressaten zugegangen ist (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 15. Auflage 2014, § 41 Rn. 6).
Der Bescheid vom 10. Mai 2017 konnte dem Kläger unter der Adresse „D …“ nicht bekannt gegeben werden, da der Kläger kein Wohnsitz unter dieser Adresse zugewiesen worden war und er sich dort auch nicht tatsächlich aufhielt. Eine wirksame Bekanntgabe des Bescheids unter der Adresse „P …“ ist aus den Akten nicht ersichtlich. In der zufälligen Kenntniserlangung durch den Kläger von dem Bescheid im Rahmen der Vorsprache bei der Ausländerbehörde ist keine Bekanntgabe zu sehen, da der Inhalt des Bescheids hierbei nicht von der zuständigen Behörde (Bundesamt) wissentlich und willentlich dem Kläger gegenüber eröffnet wurde.
Folglich ist in der Hauptsache nicht die Anfechtungsklage, sondern eine allgemeine Feststellungsklage auf Feststellung des Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses statthaft (vgl. BVerwG, U.v. 21.11.1986 – 8 C 127/84 – juris Rn. 16; VGH BW, B.v. 7.12.1990 – 10 S 2466/90 – NVwZ 1991, 1195 f.) und richtet sich der einstweilige Rechtsschutz daher nach § 123 Abs. 1 VwGO.
3. Die Voraussetzungen für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung liegen vor, da die Antragspartei einen Anordnungsanspruch auf vorläufige Feststellung hat, dass der Bescheid des Bundesamts vom 10. Mai 2017 nicht wirksam geworden, das Asylverfahren des Antragstellers nicht bestandskräftig abgeschlossen worden und eine Abschiebungsandrohung nicht wirksam erfolgt ist, sowie einen Anordnungsgrund hinreichend glaubhaft machen konnte.
Mangels Bekanntgabe des Bescheids vom 10. Mai 2017 wurde der Bescheid nicht wirksam und das Asylverfahren des Antragstellers nicht bestandskräftig abgeschlossen; auch ist die Abschiebungsandrohung nicht wirksam geworden (s.o.). Die Feststellungsklage hat somit in der Hauptsache aller Voraussicht nach Erfolg, insbesondere liegt auch im Hinblick darauf, dass der Bescheid der zuständigen Ausländerbehörde gegenüber bekannt gegeben wurde und damit zumindest aus deren Sicht scheinbar rechtswirksam geworden ist, das erforderliche Feststellungsinteresse vor (vgl. BVerwG, U.v. 21.11.1986 – 8 C 127/84 – juris Rn. 16). Der Anordnungsanspruch auf vorläufige Feststellung ist daher gegeben.
Auch ein Anordnungsgrund ist zu bejahen, da das Bundesamt gemäß der Abschlussmitteilung an die Ausländerbehörde vom 22. Juni 2017 davon ausgeht, dass der Bescheid vom 10. Mai 2017 am 25. Mai 2017 bestandskräftig geworden und die Abschiebungsandrohung seit dem 10. Juni 2017 vollziehbar sei. Der Antragsteller hat aus Gründen effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) ein Interesse an einer vorläufigen Feststellung im Wege einer einstweiligen Anordnung, ein Abwarten der Hauptsache ist ihm nicht zumutbar.
5. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).