Aktenzeichen M 17 S 16.31731
Leitsatz
Ein Schutzsuchender, für den ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG festgestellt worden war, kann im Falle seiner Inhaftierung im Heimatland kein Rechtsschutzbedürfnis gegen den Widerruf des Abschiebungsverbots und die Ablehnung subsidiären Schutzes geltend machen. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Der Antrag wird abgelehnt.
II.
Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gründe
I.
Der Antragsteller ist Staatsangehöriger Indiens und Zugehöriger der Sikh. Er reiste nach eigenen Angaben am … 2004 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am … 2004 Asylantrag.
Mit Bescheid vom 21. Dezember 2004 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) die Anerkennung als Asylberechtigter ab (Nr. 1), stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes (Nr. 2) und Abschiebungshindernisse nach § 53 des Ausländergesetzes (Nr. 3) nicht vorliegen und drohte die Abschiebung nach Indien an (Nr. 4). Hiergegen erhob der damalige Bevollmächtigte des Antragstellers mit Schriftsatz vom 4. Januar 2005 Klage, wobei u. a. darauf hingewiesen wurde, dass der Antragsteller Vorsitzender bzw. Präsident der Gruppe West der … International sei. In der mündlichen Verhandlung am … 2007 hob die Beklagtenvertreterin auf Hinweis des Gerichts, dass hohen Funktionären der … International in Indien Folter drohe, den Bescheid vom 21. Dezember 2004 in Nrn. 3 und 4 auf und stellte fest, dass beim Antragsteller ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG [a. F.] bestehe. Nach übereinstimmender Erledigungserklärungen der Beteiligten wurde das Verfahren mit Beschluss vom 2. April 2007 eingestellt.
Mit Bescheid vom 11. April 2007 wurde das Ergebnis der mündlichen Verhandlung bestätigt und der Bescheid vom 21. Dezember 2004 in Ziffern 3 und 4 aufgehoben (Nr. 1) sowie festgestellt, dass das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 2 AufenthG [a. F.] hinsichtlich Indien vorliegt, im Übrigen aber keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG [a. F.] vorliegen (Nr. 2).
Nachdem die Prozessbevollmächtigten des Antragstellers der Ausländerbehörde mit Schreiben vom 11. Januar 2016 mitgeteilt hatten, dass dieser bei seiner Einreise in Indien am … 2015 festgenommen worden sei, bat die Ausländerbehörde die Antragsgegnerin mit Schreiben vom 20. Januar 2016 um Prüfung von Widerruf bzw. Rücknahme des subsidiären Schutzes bzw. der Abschiebungsverbote. Mit Schreiben vom 1. Februar 2016 gab der Beklagte den Prozessbevollmächtigten des Antragstellers Gelegenheit, zum beabsichtigten Widerruf des Abschiebungsverbots innerhalb eines Monats Stellung zu nehmen.
Mit Bescheid vom 13. April 2016 wurde dann die mit Bescheid vom 11. April 2007 getroffene Feststellung, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG [a. F.] vorliegt, widerrufen (Nr. 1), der subsidiäre Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 1 und 3 AsylG nicht zuerkannt (Nr. 2) und die sofortige Vollziehung des Bescheides angeordnet (Nr. 3).
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass durch die Gesetzesänderung zum 1. Dezember 2013 das zuerkannte Abschiebungsverbot eine Aufwertung als subsidiärer Schutz nach § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG erfahren habe. Die im Erstverfahren zwar nicht eindeutig thematisierte, aber durch das Versagen der Flüchtlingseigenschaft im Ergebnis im Klageverfahren erkennbare Feststellung von Ausschlussgründen nach § 60 Abs. 8 AufenthG sei gemäß § 4 Abs. 2 AsylVfG auch bezogen auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes erforderlich. Nach dem Verfassungsschutzbericht des Bundesministeriums des Innern gehöre die … zum Spektrum der separatistisch-terroristischen Organisationen der Sikh, deren Ziel die Gründung eines eigenen, von Indien unabhängigen States „Khalistan“ auf dem Gebiet des indischen Bundesstaates Punjab sei. Die Organisation operiere auch mit terroristischen Mitteln und versuche, die politische Lage im Punjab mit gezielten Anschlägen zu destabilisieren. Dass sie den Separatismus der Sikh und die Bestrebungen nach einem unabhängigen „Khalistan“ unter anderem auch mit terroristischen Mitteln unterstütze, ergebe sich aus deren Auflistung auf der EU-Terrorismusliste und aus anderen Erkenntnisquellen. Ein hoher Funktionär der … International Deutschland sei nach der Rechtsprechung gemäß § 4 Abs. 2 AsylG von der Zuerkennung subsidiären Schutzes ausgeschlossen. Aufgrund der Funktion des Antragstellers in der Organisation … International rechtfertigten weiterhin schwerwiegende Gründe die Annahme im Sinne des Wortlauts des § 4 Abs. 2 Satz 1 AsylG, dass er eine Gefahr gemäß Nr. 4 darstelle. Denn Anhaltspunkte, dass er heute nicht mehr in relevanter Funktion der … zuzurechnen sei oder sich gar davon distanziert habe, seien nicht gegeben. Abweichend von § 73 Abs. 3 AsylG bedürfe es vorliegend einer Entscheidung zu Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht, da sich der Antragsteller nicht in Deutschland aufhalte und diesbezüglich kein Rechtschutzbedürfnis bestehe.
Mit Schriftsatz vom 2. Mai 2016, beim Bayerischen Verwaltungsgericht München eingegangen am 3. Mai 2016, erhoben die Prozessbevollmächtigten des Antragstellers hiergegen Klage (M 17 K 16. 30970). Mit weiterem Schriftsatz vom 14. Juli 2016, bei Gericht eingegangen am 15. Juli 2016, beantragten sie,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Widerruf rechtswidrig sei, weil bereits am 13. Dezember 2013, das heißt nach Inkrafttreten der Gesetzesänderung, eine Überprüfung erfolgt und entschieden worden sei, dass die Voraussetzungen für einen Widerruf bzw. eine Rücknahme nicht vorlägen. Der Antragsteller genieße daher Vertrauensschutz. Es werde bestritten, dass der Antragsteller zum maßgeblichen – aktuellen – Zeitpunkt eine leitende Funktion bei der … ausübe. Es sei nicht richtig, dass das dem Antragsteller zuerkannte Abschiebungsverbot zum subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG aufgewertet worden sei. § 60 Abs. 2 AufenthG n. F. habe vielmehr eine Änderung dahingehend erfahren, dass er, auf Unionsrecht beruhend, Teil des Asylantrags geworden sei (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG). § 60 Abs. 2 AufenthG a. F. sei ein aliud gegenüber § 60 Abs. 2 AufenthG n. F.. Die Ausschlussgründe nach § 60 Abs. 8 AufenthG und § 4 Abs. 2 AsylG in der aktuellen Geltung bezögen sich ausschließlich auf das aktuell gültige Recht. Der Antragsteller habe nie die Position des § 60 Abs. 1 AufenthG, des § 3 Abs. 2 AsylG oder internationalen subsidiären Schutz besessen. Zwar sei die Antragstellerseite der Auffassung, dass das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 2 AufenthG a. F. weiter fortgelte, aber die Antragsgegnerin hätte zumindest prüfen müssen, ob dem Antragsteller nicht das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 5 AufenthG zugute komme.
Ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung sei nicht früher gestellt worden, da der Antragsteller bereits in Indien inhaftiert gewesen sei, so dass wohl das Rechtschutzbedürfnis gefehlt hätte. Die Familie des Antragstellers berichte aber, dass dieser hoffe, bald in Freiheit zu kommen, so dass eine Rückkehr des Klägers im Raum stehe und ein aktueller Schutzbedarf wieder gegeben sein werde.
Die Antragsgegnerin stellte keinen Antrag.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte in diesem Verfahren und im Verfahren M 17 K 16.30970 sowie auf die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen, ist bereits unzulässig, da diesem Antrag das Rechtschutzbedürfnis fehlt.
1. Dem Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO kommt Sicherungsfunktion zu, d. h., es soll der Eintritt vollendeter Tatsachen vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens verhindert werden (vgl. Schmidt in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 80 Rn. 55). Das Rechtsschutzinteresse fehlt insbesondere dann, wenn die gerichtliche Entscheidung von vornherein nutzlos ist, wenn auch ohne eine Entscheidung gemäß § 80 Abs. 5 VwGO eine Vollziehung des in der Hauptsache angefochtenen Verwaltungsakts ausgeschlossen ist oder der Eintritt der aufschiebenden Wirkung dem Antragsteller sonst keinen Vorteil bringt (Schmidt in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 80 Rn. 66; Kopp/Schenke, VwGO, 20. Aufl. 2014, § 80 Rn. 136).
2. Der Antragsteller möchte mit der aufschiebenden Wirkung seiner Klage erreichen, dass der Widerrufsbescheid vom 13. April 2016 nicht vollziehbar ist, für ihn also vorerst weiterhin das Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG a. F. gilt. Der Antragsteller ist jedoch gegenwärtig in Indien inhaftiert und es liegen keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, dass er in nächster Zeit entlassen wird. Auch der Bevollmächtigte des Antragstellers hat lediglich angegeben, dass die Familie des Antragstellers berichte, dass der Antragsteller hoffe, bald in Freiheit zu kommen. Eine unmittelbar bevorstehende Entlassung kann dem jedoch nicht entnommen werden. Ebenso wenig ist die Wiedereinreise des Antragstellers in die Bundesrepublik Deutschland bereits konkret absehbar, so dass auch eine Abschiebung, vor der das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG a. F. letztendlich schützen soll, nicht im Raum steht. Hinzu kommt, dass der Antragsteller nach telefonischer Auskunft der Ausländerbehörde gegenwärtig noch im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 AufenthG ist, so dass er auch aus diesem Grund nicht abgeschoben werden kann. Sollte diese in Zukunft aufgehoben werden, könnte er dagegen gegebenenfalls Rechtsmittel einlegen. Haftentlassung, Einreise und etwaige Abschiebung sind somit rein hypothetische künftige Ereignisse, so dass hier weder der Eintritt vollendeter Tatsachen im Raum steht noch der Antragsteller durch die Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gegenwärtig einen Vorteil hat. Das Rechtsschutzbedürfnis für einen Eilantrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist nach alledem zu verneinen.
3. Im Übrigen spricht auch Einiges dafür, dass das Rechtsschutzbedürfnis deshalb zu verneinen ist, weil der Antragsteller sein Ziel auf anderem Wege möglicherweise effizienter erreichen könnte (vgl. Rennert in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, Vor §§ 40-53 Rn. 12). So könnte er bei einer etwaigen Wiedereinreise in die Bundesrepublik Deutschland einen Folgeantrag (§ 71 AsylG) stellen, bei dem dann z. B. auch seine erneute Inhaftierung in Indien berücksichtigt werden könnte. Selbst wenn der Asylfolgeantrag die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen nicht erfüllen sollte, hätte das Bundesamt etwaige Abschiebungsverbote – hier insbesondere § 60 Abs. 5 AufenthG – zu prüfen und gegebenenfalls festzustellen (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Stand April 2016, § 71 AsylG Rn. 72). Mit dem hiesigen Eilverfahren bzw. dem Hauptsacheverfahren M 17 K 16.30970 kann der Antragsteller diese Feststellung dagegen nicht erreichen, da Streitgegenstand insoweit nur die Feststellung subsidiären Schutzes bzw. § 60 Abs. 2 AufenthG a. F. ist, der jedoch nicht mit § 60 Abs. 5 AufenthG n. F. übereinstimmt und nach Auffassung des Gerichts auch nicht nach dieser Vorschrift fort gilt (vgl. § 104 Abs. 9 AufenthG; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand April 2016, § 4 Rn. 12; BVerwG, U.v. 25.3.2015 – 1 C 16/14 – juris Rn. 25).
Der (gerichtskostenfreie, § 83b AsylG) Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen.