Aktenzeichen M 12 S 16.33538
VwZG VwZG § 4 Abs. 1
Leitsatz
1 Die Zustellungsfiktion kann nur eintreten, wenn unter der zuletzt angegebenen Anschrift ein Zustellungsversuch unternommen wurde, der den zustellungsrechtlichen Vorschriften entspricht. (redaktioneller Leitsatz)
2 Eine Verfahrenseinstellung wegen Nichterscheinens zur Anhörung ist nur rechtmäßig, wenn die Ladung zur Anhörung ordnungsgemäß zugestellt wurde. Ist dies nicht der Fall, kann die Rücknahmefiktion nicht eintreten. (redaktioneller Leitsatz)
3 Ist die Verfahrenseinstellung fehlerhaft, entbehrt die Abschiebungsandrohung der Rechtsgrundlage. Das Asylverfahren ist fortzusetzen, der Ausländer kann nicht auf das Wiederaufnahmeverfahren verwiesen werden. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers (Az. M 12 K 16.33537) gegen den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 5. Oktober 2016 wird angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gründe
I.
Der Antragsteller ist nach eigenen Angaben eritreischer Staatsangehöriger und reiste am … November 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Er stellte am 9. August 2016 einen Asylantrag.
Mit Schreiben vom 1. September 2016 hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) den Antragsteller zur persönlichen Anhörung am 7. September 2016 geladen. Die Ladung wurde laut Aktenvermerk (Bl. 61 der Behördenakte) am selben Tag als Einschreiben zur Post gegeben. Zu dem Termin ist der Antragsteller nicht erschienen. Das Einschreiben kam am 8. September 2016 mit dem Vermerk zurück, dass der Antragsteller unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln sei.
Mit Bescheid vom 5. Oktober 2016 stellte die Antragsgegnerin fest, dass der Asylantrag als zurückgenommen gilt, das Verfahren eingestellt ist (Nr. 1) und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2). Der Antragsteller wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde die Abschiebung nach Eritrea oder in einen anderen Staat angedroht, in den der Antragsteller einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist (Nr. 3). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4).
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dem Antragsteller sei der 7. September 2016 als Termin zur persönlichen Anhörung mitgeteilt worden. Er sei jedoch ohne genügende Entschuldigung nicht erschienen. Erscheine ein Antragsteller ohne genügende Entschuldigung nicht zur Anhörung, werde nach § 33 Abs. 2 Nr. 1 AsylG vermutet, dass er das Verfahren nicht betreibe. Der Asylantrag gelte als zurückgenommen, da der Antragsteller das Verfahren nicht betreibe. Daher sei festzustellen, dass das Asylverfahren eingestellt sei. Ein Nachweis, dass das Versäumnis auf Umstände zurückzuführen war, auf die der Antragsteller keinen Einfluss hatte, sei bis zur Entscheidung nicht eingereicht worden. Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG seien weder vorgetragen worden noch lägen sie nach den Erkenntnissen des Bundesamtes vor. Bereits das augenscheinliche Desinteresse an der Weiterführung des Asylverfahrens lasse drohende Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG im Heimatland zweifelhaft erscheinen. Deshalb sei dies ein deutliches Indiz dafür, dass er bislang keinen Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG im Herkunftsland ausgesetzt gewesen sei und ihm diese Gefahren auch bei einer Rückkehr nicht drohten. Anhaltspunkte für eine kürzere Fristfestsetzung aufgrund schutzwürdiger Belange seien weder vorgetragen worden noch lägen sie nach den Erkenntnissen des Bundesamtes vor.
Mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom … Oktober 2016, bei Gericht am 14. Oktober 2016 eingegangen, hat der Antragsteller Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erhoben und beantragt, den Bescheid der Antragsgegnerin vom 5. Oktober 2016 aufzuheben und diese zu verpflichten, dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise subsidiären Schutz zuzuerkennen, hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 bzw. 7 Satz 1 AufenthG gegeben sind.
Gleichzeitig hat er beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, es treffe nicht zu, dass der Antragsteller ohne genügende Entschuldigung nicht zur persönlichen Anhörung erschienen sei, da er gar nicht zur Anhörung geladen worden sei. Der Antragsteller habe nie die ihm zugewiesene Unterkunft für eine irgendwie relevante Zeit verlassen. Im Übrigen fehle es an einer korrekten Belehrung.
Mit Schreiben vom … November 2016 hat die Hausleitung der Gemeinschaftsunterkunft … Str. … in München mitgeteilt, dass der Antragsteller dort bis 14. November 2016 wohnhaft war.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- sowie die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag ist zulässig und begründet.
1. Der Antrag ist zulässig, ihm fehlt insbesondere nicht das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis. Der Antragsteller hat keine einfachere und effektivere Möglichkeit zur Realisierung seines Rechtsschutzes. Der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens beim Bundesamt gemäß § 33 Abs. 5 Satz 2 AsylG in der seit dem 17. März 2016 geltenden Fassung stellt keine solche Möglichkeit dar (so auch VG Augsburg, B. v. 27.6.2016 – Au 6 S 16.30700 – juris; VG Chemnitz, U. v. 22.9.2016 – 4 K 780/16.A – juris; VG Berlin, B. v. 19.8.2016 – 6 L 417.16 A – juris; a. A. VG Ansbach, B. v. 29.04.2016 – AN 4 S 1630410 – juris, Rn. 13 ff.; VG Regensburg, B. v. 18.04.2016 – RO 9 S 16.30620 – juris, Rn. 11 ff).
Das Interesse an gerichtlichem Rechtsschutz kann erst dann entfallen, wenn das mit dem Rechtsschutzbegehren verfolgte Ziel durch ein gleich geeignetes, keine anderweitigen rechtlichen Nachteile mit sich bringendes behördliches Verfahren ebenso erreicht werden kann wie in dem angestrebten gerichtlichen Verfahren. Hingegen reicht es nicht, wenn der Gesetzgeber die Möglichkeit eröffnet, einen Antrag an die zuständige Behörde zu stellen, der andere Rechtsfolgen als eine gerichtliche Aufhebung des belastenden Verwaltungsakts zeitigt (BVerfG, B. v. 20.7.2016 – 2 BvR 1385/16 – juris). Vorrangiges Rechtsschutzziel des Eilverfahrens ist es zwar, den Antragsteller vor aufenthaltsbeendenden Maßnahmen aufgrund der ausgesprochenen Abschiebungsandrohung zu schützen. Dieses Ziel kann er auch mit dem Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens erreichen. Diese Vorgehensweise ist indes im Vergleich zu dem vorliegenden Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO mit verfahrensmäßigen Nachteilen verbunden. Denn dem Antragsteller würde auf diese Weise die – vom Gesetz ausdrücklich eingeräumte – Möglichkeit genommen, eine auf ein einmaliges Fehlverhalten hin ergangene rechtmäßige Einstellungsentscheidung nach § 33 Abs. 5 Satz 1 AsylG aus der Welt zu schaffen, weil er gezwungen wäre, den entsprechenden Antrag für eine ggf. rechtswidrig ergangene Einstellungsverfügung zu verbrauchen (VG Köln, B. v. 19.5.2016 – 3 L 1060/16.A – juris). Nach dem Wortlaut des § 33 Abs. 5 Satz 6 Nr. 2 AsylG sperrt die erste Wiederaufnahmeentscheidung nach § 33 Abs. 5 Satz 2 AsylG ein späteres erneutes Wiederaufnahmebegehren selbst dann, wenn die erste Verfahrenseinstellung nach § 33 Abs. 5 Satz 1 AsylG rechtswidrig gewesen ist. In einer derartigen Fallgestaltung ist aufgrund des in Art. 19 Abs. 4 GG normierten Gebots des effektiven Rechtsschutzes das Rechtsschutzbedürfnis für eine Anfechtungsklage und einen Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO gegeben.
2. Der Antrag ist auch begründet.
Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage im Fall des hier einschlägigen § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO ganz oder teilweise anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung. Es hat abzuwägen zwischen dem sich aus § 75 AsylG ergebenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Bei dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO allein erforderliche summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage, dass die Klage voraussichtlich erfolglos bleiben wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid schon bei kursorischer Prüfung als rechtswidrig, so besteht kein öffentliches Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht hinreichend absehbar, verbleibt es bei einer allgemeinen Interessenabwägung.
Nach der hier gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung ist im vorliegenden Fall davon auszugehen, dass die Anfechtungsklage des Antragstellers aller Voraussicht nach erfolgreich sein wird. Denn der Bescheid der Antragsgegnerin vom 5. Oktober 2016 ist nach summarischer Prüfung rechtswidrig und verletzt den Antragsteller in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO). Damit überwiegt das persönliche Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung der Klage das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung.
Rechtsgrundlage der Einstellungsverfügung ist § 33 Abs. 5 Satz 1 AsylG. Danach stellt das Bundesamt das Asylverfahren in den Fällen der Absätze 1 und 3 ein. Gemäß § 33 Abs. 1 AsylG gilt der Asylantrag als zurückgenommen, wenn der Ausländer das Verfahren nicht betreibt. Das Nichtbetreiben wird gemäß § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Alt. 2 AsylG gesetzlich vermutet, wenn der Ausländer einer Aufforderung zur Anhörung nach § 25 AsylG nicht nachgekommen ist. Diese Vermutung gilt nach Satz 2 der Vorschrift dann nicht, wenn unverzüglich nachgewiesen wird, dass das Versäumnis auf Umstände zurückzuführen war, auf die der Ausländer keinen Einfluss hatte. Gemäß § 33 Abs. 4 AsylG sind die Betroffenen auf diese Rechtsfolge schriftlich und gegen Empfangsbekenntnis hinzuweisen.
Die gesetzliche Vermutung des Nichtbetreibens des Verfahrens aufgrund Nichterscheinens zur Anhörung als Grundlage der Rücknahmefiktion setzt voraus, dass der Antragsteller zur Anhörung aufgefordert worden ist.
Im vorliegenden Fall hat die Antragsgegnerin den Antragsteller mit Schreiben vom 1. September 2016 zur persönlichen Anhörung am 7. September 2016 geladen. Die Ladung wurde laut Aktenvermerk am selben Tag als Einschreiben zur Post gegeben. Das Einschreiben ist am 8. September 2016 mit dem Vermerk zurückgekommen, dass der Antragsteller unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln sei.
Die Antragsgegnerin hat die Zustellung der Ladung gem. § 4 Abs. 1 Alt. 1 Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) mittels Einschreiben durch Übergabe beabsichtigt. Gem. § 4 Abs. 2 Satz 2 VwZG gilt das Dokument in diesem Fall am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als zugestellt, es sei denn, dass es nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Nachdem die Ladung als unzustellbar zur Antragsgegnerin zurückgekommen ist, steht fest, dass die Ladung dem Antragsteller tatsächlich nicht zugegangen ist. Die Dreitagesfiktion greift in diesem Fall nicht, so dass eine wirksame Zustellung nach § 4 VwZG nicht erfolgt ist.
Zwar muss der Ausländer Zustellungen unter der letzten Anschrift, die der jeweiligen Stelle aufgrund seines Asylantrags oder seiner Mitteilung bekannt ist, gegen sich gelten lassen, wenn er für das Verfahren weder einen Bevollmächtigten bestellt noch einen Empfangsberechtigten benannt hat oder diesen nicht zugestellt werden kann (§ 10 Abs. 2 Satz 1 AsylG). Gem. § 10 Abs. 2 Satz 4 AsylG gilt die Zustellung an die letzte Anschrift in diesem Fall mit der Aufgabe zur Post als bewirkt, selbst wenn die Sendung als unzustellbar zurückkommt. Diese Zustellungsfiktion wird jedoch nur ausgelöst, wenn unter der zuletzt angegebenen Anschrift nach den Vorschriften des Verwaltungszustellungsgesetzes ein Versuch der Zustellung unternommen wurde, der den zustellungsrechtlichen Vorschriften entsprochen hat (Funke-Kaiser in GK-AsylVfG, Stand: Oktober 2016, § 10 AsylG Rn. 256). Ein erheblicher Mangel liegt vor, wenn auf der Sendung unzutreffend vermerkt wird, dass der Adressat unter der angegebenen Adresse nicht zu erreichen ist, obwohl er tatsächlich in der Einrichtung wohnhaft war (VG Köln, B. v. 3.4.2003 – 2 L 749/03.A – juris) oder wenn die mit der Zustellung beauftragte Person keine Ersatzzustellung vorgenommen hat, obwohl diese rechtlich zulässig und möglich gewesen wäre.
Im vorliegenden Fall leidet der Zustellversuch an einem derart erheblichen Mangel, so dass die Zustellfiktion nicht eingetreten ist. Denn fälschlicherweise wurde auf dem Einschreiben vermerkt, dass der Antragsteller unter der angegebenen Adresse nicht zu ermitteln sei, obwohl dieser nach Auskunft der Hausleitung der Gemeinschaftsunterkunft vom … November 2016 dort tatsächlich bis 14. November 2016 und damit auch zum maßgeblichen Zeitpunkt des Zustellversuchs in der Einrichtung wohnhaft war. Eine Zustellung hätte dort somit erfolgen können, sei es an den Antragsteller persönlich oder einen sonstigen Empfangsberechtigten (vgl. VG Düsseldorf, U. v. 15.8.2014 – 13 K 1781/14.A – juris).
Nachdem sich die von der Antragsgegnerin vorgenommene Verfahrenseinstellung als rechtsfehlerhaft erweist, kann auch die auf der Grundlage des § 32 Satz 1 AsylG getroffene Entscheidung über das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG keinen isolierten Bestand haben. Ebenso entbehrt die Abschiebungsandrohung gem. § 34 AsylG einer Rechtsgrundlage, da das Verfahren fortzusetzen und dem Antragsteller der Aufenthalt im Bundesgebiet zur Durchführung des Asylverfahrens nach § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylG weiterhin gestattet ist, so dass die Voraussetzungen des § 34 Abs. 1 AsylG derzeit nicht vorliegen.
3. Dem Antrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).