Aktenzeichen M 10 S 17.40312
VwGO VwGO § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, Abs. 5
ZPO ZPO § 180, § 181 Abs. 1
VwZG VwZG § 3 Abs. 2
Leitsatz
1 Liegt ein Zustellungsmangel bei der Aufforderung zur Anhörung vor und wird das Verfahren daraufhin eingestellt, hat der Eilantrag dagegen Erfolg, weil die gesetzliche Vermutung des Nichtbetreibens auf der Grundlage der Rücknahmefiktion nicht besteht. (Rn. 13 – 14) (redaktioneller Leitsatz)
2 In einer Gemeinschaftsunterkunft gelten nicht die Zustellungsvorschriften für eine Aufnahmeeinrichtung; eine Ersatzzustellung durch Einlegung in den Briefkasten (§ 180 ZPO) ist nicht vorgesehen. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 17. Januar 2017 gegen die Abschiebungsandrohung vom 10. Januar 2017 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Gründe
I.
Der Antragsteller ist eigenen Angaben zufolge pakistanischer Staatsangehöriger, der am 4. August 2016 Asylantrag stellte.
Zur Anhörung durch die Antragsgegnerin wurde der Antragsteller mit Schreiben vom 17. November 2016 geladen. Laut PZU traf der Postzusteller den Antragsteller am 22. November 2016 nicht in der Gemeinschaftsunterkunft Patriotstellung in G. an. Weil die Übergabe nicht möglich war, legte der Zusteller „das Schriftstück in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung“ ein.
Durch streitgegenständlichen Bescheid vom 10. Januar 2017 wurde das Asylverfahren eingestellt, der Asylantrag gelte als zurückgenommen (Nr. 1). Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen (2.). Die Antragspartei wurde unter Androhung der Abschiebung nach Pakistan aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland binnen einer Woche zu verlassen (3.).
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Antragsteller habe das Verfahren nicht betrieben, er sei der Aufforderung zur Anhörung nicht nachgekommen. (§ 25, § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 2. Alt. AsylG). Konkrete individuelle Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 5, Abs. 7 AufenthG seien in Bezug auf das Heimatland nicht vorgetragen oder ersichtlich. Die Rechtsbehelfsbelehrung:führt aus, gegen diesen Bescheid könne innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung Klage bei dem Verwaltungsgericht München erhoben werden. Die Klage habe keine aufschiebende Wirkung. Ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 VwGO könne bei dem genannten Verwaltungsgericht gestellt werden. Der Bescheid wurde als Einschreiben am 11. Januar 2017 zur Post gegeben.
Der Antragsteller erhob hiergegen am 17. Januar 2017 Klage (M 10 K 17.30763) und beantragt im vorliegenden Verfahren mit Schriftsatz vom 11. Mai 2017 die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Zur Begründung wird ausgeführt, der Antragsteller habe die Ladung zur Anhörung nicht bekommen. Eine Ersatzzustellung sei nach § 180 ZPO in einer Gemeinschaftsunterkunft unzulässig.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die übermittelte Behördenakte Bezug genommen.
II.
1. Der Antrag ist zulässig. Die Klage wurde rechtzeitig innerhalb der Zweiwochenfrist des § 74 Abs. 1 1. Alt. AsylG erhoben und hat keine aufschiebende Wirkung, § 75 Abs. 1 AsylG; hier liegt kein Fall des § 38 Abs. 1 AsylG, sondern des § 38 Abs. 2 AsylG (Rücknahme des Asylantrags) vor. Eine Frist für den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist für eine Entscheidung des Bundesamts nach § 33 Abs. 1, Abs. 5 AsylG gesetzlich nicht vorgesehen.
Zum anderen besteht ein Rechtsschutzbedürfnis auch trotz des Umstands, dass der Antragsteller einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß § 33 Abs. 5 Satz 2 AsylG stellen könnte (vgl. VG Augsburg, B.v. 17.11.2016 – Au 3 S. 16.32189 – juris Rn. 18 m.w.N.; VG München, B.v. 29.11.2016 – M 12 S. 16.33538 – juris Rn. 12).
2. Der Antrag hat in der Sache Erfolg.
Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage im Fall des hier einschlägigen § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO ganz oder teilweise anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung. Es hat abzuwägen zwischen dem sich aus § 75 AsylG ergebenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Bei dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO allein erforderliche summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage, dass die Klage voraussichtlich erfolglos bleiben wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid schon bei kursorischer Prüfung als rechtswidrig, so besteht kein öffentliches Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht hinreichend absehbar, verbleibt es bei einer allgemeinen Interessenabwägung.
Nach der hier gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung ist im vorliegenden Fall davon auszugehen, dass die Anfechtungsklage des Antragstellers aller Voraussicht nach erfolgreich sein wird. Denn der Bescheid der Antragsgegnerin vom 10. Januar 2017 ist nach summarischer Prüfung rechtswidrig und verletzt den Antragsteller in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO). Damit überwiegt das persönliche Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung der Klage das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung.
Rechtsgrundlage der Einstellungsverfügung ist § 33 Abs. 5 Satz 1 AsylG. Danach stellt das Bundesamt das Asylverfahren in den Fällen der Absätze 1 und 3 ein. Gemäß § 33 Abs. 1 AsylG gilt der Asylantrag als zurückgenommen, wenn der Ausländer das Verfahren nicht betreibt. Das Nichtbetreiben wird gemäß § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Alt. 2 AsylG gesetzlich vermutet, wenn der Ausländer einer Aufforderung zur Anhörung nach § 25 AsylG nicht nachgekommen ist. Diese Vermutung gilt nach Satz 2 der Vorschrift dann nicht, wenn unverzüglich nachgewiesen wird, dass das Versäumnis auf Umstände zurückzuführen war, auf die der Ausländer keinen Einfluss hatte. Gemäß § 33 Abs. 4 AsylG sind die Betroffenen auf diese Rechtsfolge schriftlich und gegen Empfangsbekenntnis hinzuweisen.
Die gesetzliche Vermutung des Nichtbetreibens des Verfahrens aufgrund Nichterscheinens zur Anhörung als Grundlage der Rücknahmefiktion setzt voraus, dass der Antragsteller zur Anhörung aufgefordert worden ist.
Im vorliegenden Fall hat die Antragsgegnerin den Antragsteller mit Schreiben vom 17. November 2016 zur persönlichen Anhörung am 2. Dezember 2016 geladen. Die Ladung sollte mit PZU zugestellt werden. Dieser Zustellversuch schlug aber fehl, es liegt ein Zustellungsmangel vor.
Bei der Unterkunft Patriotstellung in G. handelt es sich um eine Gemeinschaftsunterkunft nach § 53 AsylG. Für diese gilt nicht die für Aufnahmeeinrichtungen (§§ 44 bis 47 AsylG) vorgesehene Zustellungsvorschrift des § 10 Abs. 4 AsylG, es verbleibt bei den allgemeinen Zustellungsvorschriften, hier dem Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) i.V.m. §§ 177 bis 182 ZPO (§ 3 Abs. 2 VwZG). Für Gemeinschaftsunterkünfte ist danach eine Ersatzzustellung nach § 180 ZPO durch Einlegen in den Briefkasten nicht vorgesehen, die Ersatzzustellung durch Niederlegung bei u.a. einer von der Post dafür bestimmten Stelle am Ort der Zustellung nach § 181 Abs. 1 ZPO, § 3 Abs. 2 VwZG ist aber möglich; dabei ist über die Niederlegung eine schriftliche Mitteilung auf dem vorgesehenen Formular unter der Anschrift der Person, der zugestellt werden soll, in der bei gewöhnlichen Briefen üblichen Weise abzugeben.
Ausweislich der Postzustellungsurkunde hat der Zusteller am 22. November 2016 die Übergabe des Schriftstücks – erfolglos – versucht. Deshalb nahm er unter Verstoß gegen § 180 ZPO die Einlegung in einen Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung vor, anstatt das Schriftstück bei der hierfür bestimmten Stelle niederzulegen, und eine schriftliche Mitteilung über die Niederlegung in der bei gewöhnlichen Briefen üblichen Weise abzugeben.
Damit liegt keine formfehlerfreie Zustellung vor. Der Antragsteller hat die Aufforderung zur Anhörung nicht erhalten, eine Heilung ist nicht eingetreten. Der streitgegenständliche Bescheid vom 10. Januar 2017 ist im Klageverfahren aufzuheben.
Dem Antrag ist deshalb mit der Kostenfolge nach § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG stattzugeben.
Dieser Beschluss ist nach § 80 AsylG unanfechtbar.