Verwaltungsrecht

Feststellung des Verlust des Rechts auf Einreise und Freizügigkeit

Aktenzeichen  10 ZB 20.1171

Datum:
23.7.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 20529
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FreizügG/EU § 6 Abs. 1 Abs. 3, § 7 Abs. 2
GG Art. 6 Abs. 1
EMRK Art. 8 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Für die im Rahmen einer tatrichterlichen Prognose festzustellende Wiederholungsgefahr gilt bei der Verlustfeststellung nach § 6 FreizügG/EU ein differenzierender, mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts. Dem Grundsatz der Freizügigkeit wird dadurch Rechnung getragen, dass an die hinreichende Wahrscheinlichkeit keine allzu geringen Anforderungen gestellt werden dürfen (Anschluss an BVerwG BeckRS 2013, 47815 Rn. 16). (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei einer auf spezialpräventive Gründe zu stützenden Verlustfeststellung (§ 6 Abs. 2 FreizügG/EU) hat das Verwaltungsgericht eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. Dabei sind die besonderen Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (Anschluss an VGH München BeckRS 2019, 13718 Rn. 27). (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
3. Einer Strafaussetzungsentscheidung der Strafvollstreckungskammer kommt zwar eine erhebliche indizielle Bedeutung zu. Die Ausländerbehörde und die Verwaltungsgerichte sind für die Frage der Beurteilung der Wiederholungsgefahr daran aber nicht gebunden; dabei bedarf es jedoch einer substantiierten Begründung, wenn von der strafgerichtlichen Entscheidung abgewichen wird (Anschluss an BVerfG BeckRS 2016, 53810 Rn. 21). (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 9 K 19.857 2020-03-04 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Anfechtungsklage gegen den Bescheid der Beklagten vom 25. Januar 2019, mit dem der Verlust des Rechts des Klägers auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet festgestellt, die Einreise und der Aufenthalt befristet untersagt sowie der Kläger zum Verlassen der Bundesrepublik Deutschland aufgefordert und ihm für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise die Abschiebung nach Rumänien angedroht wurde, weiter.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich weder die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO noch andere Zulassungsgründe im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 bis 5 VwGO.
1. Es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Solche Zweifel bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Dies ist jedoch nicht der Fall.
Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, die Verlustfeststellung sei rechtmäßig. Das Verhalten des Klägers, der zuletzt während offener Bewährung mit Urteil des Landgerichts München I vom 3. August 2017 wegen Körperverletzung, Erpressung und besonders schwerer räuberischer Erpressung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt worden sei, stelle eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit dar, die Grundinteressen der Gesellschaft berühre. Nicht erforderlich sei insofern, dass die Gefahr der Begehung einer in Art. 81 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV genannten Straftaten (Terrorismus, Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung, Drogen- und Waffenhandel, Geldwäsche, Korruption und organisierte Kriminalität) bestehe. Vom Kläger gehe trotz der Aussetzung des Strafrestes auf Bewährung auch gegenwärtig eine Wiederholungsgefahr aus, da nach Einschätzung eines Gutachters ein beim Kläger erkennbares Verhaltensmuster, Konflikte mit Gewalt zu lösen, nicht erfolgreich therapiert sei. Die Strafvollstreckungskammer habe einen Wegfall der Wiederholungsgefahr für den Fall der Absolvierung eines Anti-Gewalt-Trainings und ggf. einer Psychotherapie angenommen. Dem könne sich das Verwaltungsgericht nicht anschließen, weil dem Kläger nach wie vor die Einsicht in das Unrecht seiner Taten fehle, er sie vielmehr bagatellisiere und dazu neige, die Schuld dem Opfer seiner Straftaten, seiner Lebensgefährtin unter Mutter seiner Tochter, zuzuschieben. Auch sei nicht ausschließbar, dass der Kläger gegenüber anderen Partnerinnen Gewalt zur Durchsetzung seiner Ziele und Ansprüche anwenden werde. Angesichts der Bedeutung der durch den Kläger verletzten Rechtsgüter seien an die Feststellung einer Wiederholungsgefahr keine zu hohen Anforderungen zu stellen. Die Verlustfeststellung sei ermessensfehlerfrei erfolgt, insbesondere verstoße sie weder gegen Art. 8 EMRK noch gegen Art. 6 GG. Ein tatsächlicher Kontakt zu seiner am 1. September 2011 geborenen Tochter bestehe nicht. Die wirtschaftliche Integration habe die Beklagte ausreichend berücksichtigt. Der Kläger sei mit Rumänien, wo er aufgewachsen sei und studiert habe, weiterhin verbunden. Die Befristung des Aufenthalts- und Einreiseverbots auf sieben Jahre sei nicht zu beanstanden.
Das Zulassungsvorbringen des Klägers zieht diese Erwägungen nicht durchgreifend in Zweifel.
a) Das Verwaltungsgericht ist zunächst zu Recht davon ausgegangen, dass die Verlustfeststellung am Maßstab von § 6 Abs. 1 bis 3 FreizügG/EU zu messen ist, weil der Kläger nicht daueraufenthaltsberechtigt im Sinne von § 6 Abs. 4 FreizügG/EU ist. Die eingangs der Antragsbegründung aufgestellte, nicht näher begründete Behauptung des Klägers, ihm stehe ein Daueraufenthaltsrecht nach § 6 Abs. 4 FreizügG/EU zu, kann der Senat nicht nachvollziehen, zumal der Kläger später selbst ausführt, dass die erforderliche fünfjährige Aufenthaltsdauer im Oktober 2020 erreicht sein werde. Angesichts einer Ersteinreise im Jahr 2010, dem dauerhaften Verlassen des Bundesgebiets im Jahr 2014 aus Furcht vor einer Ersatzfreiheitsstrafe, einer erneuten Einreise im Oktober 2015, der Flucht vor Strafverfolgung im April 2016, der Auslieferung nach Deutschland im Januar 2017 und der anschließend bis zum 22. November 2019 verbüßten Haftstrafe liegt die Annahme, der Kläger habe sich fünf Jahre ununterbrochen rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten, fern (zur Schädlichkeit von Haftzeiten für die erforderliche Kontinuität des rechtmäßigen Aufenthalts vgl. etwa BayVGH, B.v. 21.1.2020 – 10 ZB 19.2250 – juris Rn. 6).
b) Soweit sich der Kläger gegen den vom Verwaltungsgericht angelegten nach der Bedeutung des gefährdeten Schutzgutes differenzierenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab wendet und sich dabei auf das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 7. März 2012 (11 S 3269/11 – juris) als Beleg für die „jüngere Rechtsprechung“ bezieht, ist darauf hinzuweisen, dass das Bundesverwaltungsgericht bereits im Urteil vom 15. Januar 2013 (1 C 10.12 – juris) der vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg vertretenen Rechtsauffassung entgegengetreten ist. Das Bundesverwaltungsgericht hat nochmals ausdrücklich betont, dass für die im Rahmen einer tatrichterlichen Prognose festzustellende Wiederholungsgefahr ein differenzierender, mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gelte. Der Bedeutung des Grundsatzes der Freizügigkeit werde dadurch Rechnung getragen, dass an die nach dem Ausmaß des möglichen Schadens differenzierende hinreichende Wahrscheinlichkeit keine allzu geringen Anforderungen gestellt werden dürften. Der differenzierende Wahrscheinlichkeitsmaßstab bei der Frage der Wiederholungsgefahr führe daher selbst bei Unionsbürgern nicht zu einem unionsrechtswidrigen Gefahrenexport zu Lasten anderer Mitgliedstaaten (BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 16; dem folgend etwa BayVGH, B.v. 17.12.2015 – 10 ZB 15.1394 – juris Rn. 12).
c) An der Annahme des Verwaltungsgerichts, vom Kläger gehe eine hinreichende Widerholungsgefahr aus, bestehen auch zum Zeitpunkt der Senatsentscheidung und unter Berücksichtigung des Zulassungsvorbringens keine ernstlichen Zweifel.
Der Kläger trägt hierzu vor, dass es sich bei beiden abgeurteilten Taten um Beziehungstaten gehandelt habe, die ihren Anlass in einem „komplexen, emotional schwer belasteten (sic) Beziehungskonflikt zu der Geschädigten (gehabt hätten), der nur aufgrund einer erheblichen und für den Kläger untypischen Alkoholisierung derart eskalieren konnte“. Die eigentliche Straftat sei erst „im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung, an welcher zwei Personen (!) (sic) beteiligt waren und auch erst aus einer günstigen Gelegenheit, als der Kläger zufällig und ohne vorherige Planung zwei Bierflaschen als Drohungsmittel mit sich führte“ entstanden. Der Kläger habe nie die Absicht gehabt, die Flaschen zu einer echten Verletzung tatsächlich einzusetzen. Anlass der Tat sei die enttäuschte Hoffnung des Klägers gewesen, mit der Geschädigten und der gemeinsamen Tochter wieder in einer familiären Gemeinschaft leben zu können. Eine Wiederholungsgefahr bestehe nicht, weil dem Kläger mittlerweile klar sei, dass es eine gemeinsame Zukunft mit der Geschädigten nicht geben werde. Der angestrebte Umgang mit seiner Tochter diene lediglich dem Kindeswohl. Die abgeurteilte Tat lasse auch nach Einschätzung des psychiatrischen Gutachtens vom 29. Oktober 2019 keinen Rückschluss auf die Persönlichkeit des Klägers zu. Der Kläger erkenne auch das Unrecht der Taten an und schiebe niemand anderem die Schuld zu. Der Strafvollzug habe prägend auf den Kläger gewirkt. Der Kläger habe auch Einsicht in die „verheerende Wirkung“ von Alkoholgenuss und lebe deshalb abstinent. Er habe in der Haft mit einem Anti-Gewalt-Training begonnen, die durch fachärztliches Attest vom 25. Mai 2020 geforderte Fortsetzung dieses Trainings sei kein Problem. Soweit dieses Attest einen Bedarf an psychotherapeutischer Beratung für den Fall sehe, dass im Rahmen der Umgangskontakte mit seiner Tochter ein entsprechender Bedarf auftrete, erscheine dies „(a) bweichend von der vorläufigen Auffassung des Therapeuten“ höchst unwahrscheinlich. Das Verhältnis zu seiner Tochter sei für den Kläger essentiell. Insgesamt handele es sich bei den Straftaten um singuläre Ereignisse, die ihre Ursache in der Beziehung zur Geschädigten hätten und hinsichtlich derer in Ermangelung eines Kontakts mit der Geschädigten keine Wiederholungsgefahr drohe. Dies ergebe sich auch unter Zugrundelegung verschiedener Prognosemethoden (wird ausgeführt).
Damit wird die Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts nicht ernsthaft in Zweifel gezogen.
Bei einer auf spezialpräventive Gründe zu stützenden Verlustfeststellung (§ 6 Abs. 2 FreizügG/EU) hat das Verwaltungsgericht eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. Dabei sind die besonderen Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (stRspr, siehe z.B. BayVGH, U.v. 21.5.2019 – 10 B 19.55 – juris Rn. 27). Der Stand einer eventuellen Therapie ist dabei genauso zu berücksichtigten wie die bisherige Führung des Betreffenden in der Haft. Maßgeblich ist aber in jedem Fall der aktuelle Stand zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung. Von einem Fortfall der Wiederholungsgefahr kann nicht ausgegangen werden, solange der Kläger nicht eine erforderliche Therapie erfolgreich abgeschlossen und – darüber hinaus – die damit verbundene Erwartung eines künftig straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat (stRspr, vgl. z.B. BayVGH, B.v. 1.3.2019 – 10 ZB 18.2494 – juris Rn. 10).
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Senats kommt einer Strafaussetzungsentscheidung der Strafvollstreckungskammer zwar eine erhebliche indizielle Bedeutung zu. Die Ausländerbehörde und die Verwaltungsgerichte sind für die Frage der Beurteilung der Wiederholungsgefahr daran aber nicht gebunden; dabei bedarf es jedoch einer substantiierten Begründung, wenn von der strafgerichtlichen Entscheidung abgewichen wird (BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 21). Hier ist zu berücksichtigen, dass vorzeitige Haftentlassung und Ausweisung oder – wie hier – Verlustfeststellung – unterschiedliche Zwecke verfolgen und deshalb unterschiedlichen Regeln unterliegen: Bei Aussetzungsentscheidungen nach § 57 StGB geht es um die Frage, ob die Wiedereingliederung eines in Haft befindlichen Straftäters weiter im Vollzug stattfinden muss oder durch vorzeitige Entlassung für die Dauer der Bewährungszeit ggf. unter Auflagen „offen“ inmitten der Gesellschaft verantwortet werden kann. Bei dieser Entscheidung stehen naturgemäß vor allem Resozialisierungsgesichtspunkte im Vordergrund; zu ermitteln ist, ob der Täter das Potenzial hat, sich während der Bewährungszeit straffrei zu führen. Demgegenüber geht es bei der Ausweisung und der Verlustfeststellung um die Frage, ob das Risiko eines Misslingens der Resozialisierung von der deutschen Gesellschaft oder von der Gesellschaft im Heimatstaat des Ausländers getragen werden muss. Die der Ausweisung bzw. Verlustfeststellung zu Grunde liegende Prognoseentscheidung bezieht sich folglich nicht nur auf die Dauer der Bewährungszeit, sondern hat einen längeren Zeithorizont in den Blick zu nehmen. Denn es geht hier um die Beurteilung, ob es dem Ausländer gelingen wird, über die Bewährungszeit hinaus ein straffreies Leben zu führen. Bei dieser längerfristigen Prognose kommt dem Verhalten des Ausländers während der Haft und nach einer vorzeitigen Haftentlassung zwar erhebliches tatsächliches Gewicht zu. Dies hat aber nicht zur Folge, dass mit einer strafrechtlichen Aussetzungsentscheidung ausländerrechtlich eine Wiederholungsgefahr zwangsläufig oder zumindest regelmäßig entfällt. Maßgeblich ist vielmehr, ob der Täter im entscheidungserheblichen Zeitpunkt auf tatsächlich vorhandene Integrationsfaktoren verweisen kann; das Potenzial, sich während der Bewährungszeit straffrei zu führen, ist nur ein solcher Faktor, genügt aber für sich genommen nicht (BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 10 C 10/12 – juris Rn. 19; BayVGH, B.v. 27.9.2019 – 10 ZB 19.1781 – juris Rn. 11; B.v. 14.1.2019 – 10 ZB 18.1413 – juris Rn. 10).
Ausgehend hiervon geht auch zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats und auch unter Berücksichtigung der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer vom 19. November 2019 eine Wiederholungsgefahr vom Kläger aus.
Dabei ist für den Senat bereits das der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer zugrundeliegende psychiatrische Gutachten vom 29. Oktober 2019 nicht in jeder Hinsicht nachvollziehbar, sodass die indizielle Wirkung des sich darauf stützenden Bewährungsbeschlusses der Strafvollstreckungskammer jedenfalls erheblich gemindert sein dürfte. So wertete es das Gutachten als positiv, dass der Kläger Gewalttaten nicht abstreite (S. 30 des Gutachtens, Bl. 180 der Akte des Verwaltungsgerichts), obwohl der Kläger gegenüber dem Gutachter insbesondere den durch das Strafgericht festgestellten „maßvoll wuchtigen Schlag mit der Kante einer Hand“ in das Gesicht der Geschädigten (S. 5 des UA, Bl. 96 der Akte des Verwaltungsgerichts) gegenüber dem Gutachter ausdrücklich abgestritten hat (S. 23 des Gutachtens, Bl. 173 der Akte des Verwaltungsgerichts), was im Gutachten an anderer Stelle auch festgestellt wird (S. 36 des Gutachtens, Bl. 186 der Akte des Verwaltungsgerichts). Angesichts des Umstandes, dass der Kläger auch sonst gegenüber dem Gutachter ein Tatgeschehen schilderte, dass in praktisch allen zentralen Punkten vom abgeurteilten Sachverhalt abweicht, erscheint es dem Senat nicht ohne Weiteres plausibel, dass der Gutachter seiner Gefahrenprognose andere Schilderungen des Klägers (etwa zu vorangegangen Beziehungen) ohne Weiteres zu Grunde legt. Auch die Annahme des Gutachters, dass es „auch in der Vergangenheit nicht zu schwerwiegenden körperlichen Übergriffen“ gekommen sei, (S. 33 des Gutachtens, Bl. 183 der Akte des Verwaltungsgerichts), kann der Senat angesichts der abgeurteilten Vortat aus dem Jahr 2012, bei der der Kläger seine Lebensgefährtin nach den Feststellungen des AG München im Urteil vom 10. Juli 2013 „von hinten an den Haaren packte und sie mit dem Gesicht gegen den Boden drückte“ und ihr anschließend „mit der Faust und mit der flachen Hand gegen den Kopf“ schlug, nicht nachvollziehen.
Ungeachtet dessen hält der Senat auch unter Zugrundelegung der Ergebnisse des psychiatrischen Gutachtens vom 29. Oktober 2019 eine Wiederholungsgefahr für gegeben. Das Gutachten selbst kommt zu dem Ergebnis, dass als „Risikofaktor für zukünftige Gewalttätigkeiten ausschließlich erneute konflikthafte intime Beziehungen zu werten“ seien (S. 33 des Gutachtens, Bl. 183 der Akte des Verwaltungsgerichts). Im Hinblick auf künftige Gewaltdelikte zu Lasten der geschädigten Mutter seiner Tochter bestehe eine entsprechende Gefahr bei einem „Kontaktverbot außerhalb von jugendamtlich organisierten Kontakten zur Tochter“ nicht. Um „Gewalttätigkeiten in späteren Beziehungen vorzubeugen“ sei ein Anti-Gewalt-Training „unerlässlich“ (S. 40 f. des Gutachtens, Bl. 190 f. der Akte des Verwaltungsgerichts). Die Notwendigkeit eines solchen Trainings wird auch durch die fachärztliche Stellungnahme vom 25. Mai 2020 ausdrücklich bestätigt. Ohne den Abschluss eines Anti-Gewalt-Trainings besteht daher nach Einschätzung sowohl des Gutachters als auch des behandelnden Facharztes in jeder potentiellen konflikthaften Beziehung des Klägers die Gefahr von Gewalttätigkeiten. Bedeutung erlangt dabei nach Auffassung des Senats, dass der Kläger nach über sieben Monaten seit der Haftentlassung das Anti-Aggressions-Training offenbar noch immer nicht fortgesetzt hat. Angesichts dessen kann der Senat nicht erkennen, dass die der Gefahrenprognose der Strafvollstreckungskammer zugrundeliegende Annahme, der Kläger werde das in der JVA begonnene Anti-Gewalt-Training fortsetzen (vgl. Ziffer IV.4. des Bewährungsbeschlusses vom 19. November 2019), einer aktuellen Gefahrenprognose noch zu Grunde gelegt werden könnte. Jedenfalls kann von einer abgeschlossenen Aufarbeitung des Gewaltproblems beim Kläger, der wiederholt und bei der letzten Tat unter offener Bewährung mit erheblicher Aggression und in teils gefährlicher Weise gegen seine Lebensgefährtin vorgegangen ist, nicht die Rede sein.
d) Auch die von der Beklagten nach § 6 Abs. 1 und Abs. 3 FreizügG/EU zu treffende Ermessensentscheidung (vgl. BayVGH, B.v. 2.8.2012 – 10 ZB 11.2751 – juris Rn. 4) ist nicht zu beanstanden. Die Beklagte hat erkannt, dass die Entscheidung über die Verlustfeststellung in ihrem Ermessen liegt, und die tatbezogenen Umstände eingehend gewürdigt. Sie hat auch hinreichend die gemäß § 6 Abs. 3 FreizügG/EU zu berücksichtigenden Belange abgewogen und dabei insbesondere die Dauer des Aufenthalts, den Integrationsstand und die familiäre Situation bewertet. Eine Fehlgewichtung ist darin nicht zu sehen.
e) Ebenso begegnet die Auffassung des Verwaltungsgerichts, die Verlustfeststellung erweise sich auch unter Berücksichtigung der persönlichen Bindungen des Klägers im Bundesgebiet als verhältnismäßig, keinen ernstlichen Zweifeln. Das umfangreiche Zulassungsvorbringen zu den nun anstehenden ersten Kontakten des Klägers zu seiner Tochter ändert nichts daran, dass eine tatsächlich gelebte Vater-Kind-Beziehung aufgrund der Auslandsabwesenheit in den Jahren 2014 bis 2015 und der Inhaftierung von 2017 bis 2019 sowie dem Kontaktverbot zur Mutter des Kindes letztlich nicht mehr bestand und der Kläger erste Bemühungen in Richtung einer Umgangsregelung erst wieder unter dem Eindruck der bevorstehenden Aufenthaltsbeendigung angestrengt hat. Es ist nicht erkennbar, dass das Kindeswohl der Tochter, für die die dauerhafte Trennung vom Vater auch nach Schilderung des zuständigen Jugendamtes gelebte Realität ist und für die es „okay“ wäre, mit einem Kontakt im Monat „anzufangen“ (S. 2 der Stellungnahme des Jugendamtes vom 13. Mai 2020, Bl. 60 der Gerichtsakte), durch eine Aufenthaltsbeendigung ernsthaft gefährdet wäre. Selbst der Kläger schildert insofern nur, das Kind habe „großes Interesse“ an ihrem Vater. Auch unter Berücksichtigung des nunmehr zum 17. Juni 2020 begründeten Arbeitsverhältnisses des Klägers ist angesichts der noch immer starken – auch familiären – Bindungen des Klägers nach Rumänen, wo er sich von seiner Geburt im Jahr 1980 bis 2010, von 2014 bis 2015 und von 2016 bis 2017 aufgehalten hat, eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 6 Abs. 1 GG nicht zu erkennen.
f) Schließlich ist die Befristungsentscheidung der Beklagten nach § 7 Abs. 2 Satz 5 FreizügG/EU in der Fassung des Änderungsbescheids vom 2. Juli 2020 rechtlich nicht zu beanstanden. Mit diesem Änderungsbescheid, den der Kläger mit Schriftsatz vom 22. Juli 2020 in seine Klage einbezogen hat, hat die Beklagte das nach § 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU bestehende Einreise- und Aufenthaltsverbot auf vier Jahre und sechs Monate befristet. Diese Fristlänge ist unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls (§ 7 Abs. 2 Satz 6 FreizügG/EU) rechtlich nicht zu beanstanden, zumal der Kläger im Schriftsatz vom 22. Juli 2020 insoweit keine Einwände erhoben hat.
Die Befristungsentscheidung ist auf der Grundlage der aktuellen Tatsachengrundlage und unter Würdigung des Verhaltens des Betroffenen nach der Verlustfeststellung zu treffen (BVerwG, U.v. 25.3.2015 – 1 C 18.14 – juris Rn. 31 m.w.N.). Dabei ist in einem ersten Schritt eine an dem Gewicht des Grundes für die Verlustfeststellung sowie dem mit der Maßnahme verfolgten spezialpräventiven Zweck orientierte äußerste Frist zu bestimmen. Hierzu bedarf es der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Verlustfeststellung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr mit Blick auf die im vorliegenden Fall bedeutsame Gefahrenschwelle des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU zu tragen vermag (vgl. BVerwG, U.v. 25.3.2015 – 1 C 18.14 – juris Rn. 35; VGH BW, U.v. 15.2.2017 – 11 S 983/16 – juris Rn. 36). Die im Hinblick auf die zur Gefahrenabwehr als erforderlich angesehene Sperrfrist ist einem zweiten Schritt unter Berücksichtigung schützenswerter Interessen des Klägers zu ermitteln und zu gewichten (vgl. BVerwG, U.v. 25.3.2015 – 1 C 18.14 – juris Rn. 37). Maßgebend ist die aktuelle Situation des Betroffenen (vgl. BayVGH, U.v. 29.1.2019 – 10 B 18.1094 – juris Rn. 51; B.v. 21.4.2016 – 10 ZB 14.2448 – juris Rn. 5 m.w.N.).
Gemessen daran erweist sich die Befristung auf vier Jahr und sechs Monate vor dem Hintergrund der vom Kläger ausgehenden Gefahr u.a. für das besonders schützenswerte Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit als angemessen. Der Kläger, der nicht daueraufenthaltsberechtigt war und sich deshalb nicht auf die Schutzvorschriften des § 6 Abs. 4 und Abs. 5 FreizügG/EU berufen kann, hat abgesehen von seiner Tochter keine weiteren erheblichen Bindungen im Bundesgebiet. Eine nachhaltige wirtschaftliche Integration hat nicht stattgefunden. Auch die sich erst wieder anbahnende Bindung zu seiner Tochter zwingt nicht zu einer kürzeren Befristung. Angesichts des Alters des Kindes und der Befristung der Wiedereinreisesperre auf vier Jahre und sechs Monate ist es möglich, dass der Kläger zu einem Zeitpunkt wieder nach Deutschland zurückkehren wird, der einerseits für das Kind noch absehbar ist, andererseits noch einen ausreichend langen Zeitraum für eine gelebte Vater-Tochter-Beziehung lässt.
2. Die Zulassungsgründe der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO, der grundsätzlichen Bedeutung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, der Abweichung von obergerichtlicher Rechtsprechung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO und des Verfahrensmangels im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO sind nicht den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegt. Das Zulassungsvorbringen enthält hierzu weder ausdrücklich noch der Sache nach Ausführungen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

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