Aktenzeichen B 6 K 17.732
Leitsatz
Von einem der Feststellung des Verlusts des Rechts auf Freizügigkeit entgegenstehenden Fortfall der Wiederholungsgefahr kann nicht ausgegangen werden, solange ein drogenabhängiger, krimineller Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und darüber hinaus die damit verbundene Erwartung künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat (zuletzt BayVGH, B. v. 14.06.2018 – 10 ZB 18.794,BeckRS 2018, 14531). (Rn. 36) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
1. Ziffer 2 des Bescheides der Beklagten vom 11.08.2017 wird aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Von den Kosten des Verfahrens tragen der Kläger zwei Drittel und die Beklagte ein Drittel.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch den jeweiligen Vollstreckungsgläubiger durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Gründe
1. Die zulässige Klage ist nur teilweise begründet.
1. 1 Ziffer 2 des angefochtenen Bescheides vom 11.08.2017 ist gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufzuheben, weil aus den im Prozesskostenhilfebeschluss unter 3.1 dargestellten Gründen die Abschiebungsanordnung bzw. Abschiebungsandrohung rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist.
Sowohl die Abschiebungsandrohung gemäß § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG als auch die Anordnung einer Abschiebung gemäß § 59 Abs. 5 AufenthG setzen voraus, dass der Ausländer zur Ausreise verpflichtet ist. Ungeachtet der Feststellung des Verlustes seines Unionsrechts auf Einreise und Aufenthalt ist der Kläger gemäß § 11 Abs. 2 FreizügG/EU in Verbindung mit § 50 Abs. 1 AufenthG nicht ausreisepflichtig, weil er gemäß § 101 Abs. 1 in Verbindung mit § 9 Abs. 1 AufenthG eine Niederlassungserlaubnis besitzt. Scheitert somit insbesondere auch die Anordnung einer Abschiebung gemäß § 59 Abs. 5 AufenthG bereits an der Voraussetzung einer Ausreisepflicht, kommt es auf die im Prozesskostenhilfebeschluss unter 3.2 aufgeworfene und von der Beklagtenseite in der mündlichen Verhandlung aufgegriffene Frage, ob § 59 Abs. 5 AufenthG über § 11 Abs. 2 FreizügG/EU grundsätzlich anwendbar wäre, nicht entscheidungserheblich an.
1.2 Ziffer 1 des angefochtenen Bescheides vom 11.08.2017 ist gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht aufzuheben, weil die Feststellung des Verlustes des Unionsrechts auf Einreise und Aufenthalt rechtmäßig und der Kläger dadurch nicht in seinen Rechten verletzt ist.
1.2.1 Das Gericht verweist zunächst auf die im Prozesskostenhilfebeschluss unter 1. dargestellten Gründe. Auch wenn auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abzustellen ist, können diese Ausführungen nach wie vor Geltung beanspruchen, weil sich die Sach- und Rechtslage nicht entscheidungserheblich geändert hat.
Zur Frage, ob der Kläger ein Daueraufenthaltsrecht im Sinne des § 6 Abs. 4 in Verbindung mit § 2 Abs. 2 Nr. 7 und § 4a FreizügG/EU erworben hat, wurden neue Erkenntnisse weder vorgetragen noch sind solche sonst ersichtlich. Es bleibt daher dabei, dass der Kläger nicht den besonderen Schutz eines Daueraufenthaltsberechtigten gemäß § 6 Abs. 4 FreizügG/EU genießt und demzufolge auch nicht in den Genuss des weitergehenden Schutzes gemäß § 6 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 FreizügG/EU kommt mit der Folge, dass die Verlustfeststellung keiner „schwerwiegenden“ oder gar „zwingenden“ Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung bedarf.
Die Annahme, dass vom Kläger eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung ausgeht, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, wird durch die nach Erlass des Prozesskostenhilfebeschlusses zusätzlich gewonnenen Erkenntnisse in keiner Weise erschüttert, sondern im Gegenteil bestätigt.
Die der strafrechtlichen Verurteilung des Klägers vom 14.03.2017, von der das erkennende Gericht erst nach Erlass des Prozesskostenhilfebeschlusses vom 14.08.2018 Kenntnis erlangte, zu Grunde liegenden Umstände lassen zweifelsfrei ein persönliches Verhalten erkennen, das eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Bereits aus dem Urteil selbst ergibt sich, dass es sich bei den begangenen Straftaten um typische Beschaffungskriminalität handelt. Diese Feststellung trifft auch der Sachverständige in dem Forensischpsychiatrischen Gutachten vom 16.08.2018. Zur Frage der Wiederholungswahrscheinlichkeit für gleichgelagerte Straftaten führt er aus, dass „strafbares Verhalten als Grundlage zur Sicherstellung seiner Suchtmittelproblematik“ sich beim Kläger zu einer stabilen Verhaltensweise entwickelt habe. Es sei nicht damit zu rechnen, dass er nach einer vollzogenen Haftstrafe vom Suchtmittelkonsum Abstand nehmen werde, ihm fehlten hierfür die notwendigen Kompetenzen im Sinne von Copingmechanismen zur Bearbeitung seiner Probleme oder auch zum Umgang mit akut auftauchenden Belastungsfaktoren. Insofern werde er erneut zu Methamphetamin greifen und, nachdem er nach wie vor nicht die benötigten finanziellen Mittel besitze, unweigerlich auch neuerlich Straftaten begehen. Letztlich sei wiederum mit einschlägigen Delikten zu rechnen.
Angesichts dieser nachvollziehbaren und überzeugenden Prognose liegt die tatbestandliche Voraussetzung einer gegenwärtigen, tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung der öffentlichen Ordnung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor, ohne dass es darauf ankommt, ob im strafrechtlichen Berufungsverfahren die erneute Unterbringung des Klägers in einer Entziehungsanstalt angeordnet werden wird. Denn nach ständiger Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs zu § 6 FreizügG/EU kann von einem der Feststellung des Verlusts des Rechts auf Freizügigkeit entgegenstehenden Fortfall der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange ein drogenabhängiger, krimineller Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und darüber hinaus die damit verbundene Erwartung künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat (zuletzt BayVGH, Beschluss vom 14.06.2018 – 10 ZB 18.794, juris Rn. 6). Da der Kläger, selbst wenn sein Berufungsantrag im Sinne der Anordnung eines erneuten Maßregelvollzuges Erfolg haben sollte, das vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof geforderte Stadium noch nicht annähernd erreicht hat, bestand aus rechtlichen Gründen für das erkennende Gericht keine Veranlassung, die Entscheidung des Landgerichts B … abzuwarten.
Ohne dass es vor diesem Hintergrund entscheidungserheblich darauf ankommt, wird darauf hingewiesen, dass der Sachverständige die Erfolgsaussicht eines erneuten Maßregelvollzuges nicht vorbehaltslos, sondern nur unter der Voraussetzung einer intensiven teilinstitutionalisierten Nachsorge, z. B. Wohnungsnahme in einer betreuten Wohngemeinschaft, bejaht hat. Auch wenn der Kläger im Schreiben an seine Strafverteidigerin vom 29.09.2018 seine Bereitschaft hierzu – durchaus glaubhaft – beteuert hat, rechtfertigt dies angesichts seiner Vorgeschichte zwar einen vorsichtigen Optimismus, aber noch keine zuverlässige positive Prognose. So ergibt sich aus dem Gutachten vom 16.08.2018 auch, dass der Kläger schon einmal – nach seiner Entlassung aus dem Bezirkskrankenhaus B … – im betreuten Wohnen lebte, aber trotzdem wieder rückfällig wurde. Der Kläger wurde in der Vergangenheit auch nicht „falsch“ in dem Sinne therapiert, dass die Erwartung gerechtfertigt wäre, eine „richtige“ Therapie führe garantiert oder mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zum Erfolg. Der Sachverständige konnte feststellen, dass aufgrund der regulär abgeschlossenen Maßregelbehandlung nach § 64 StGB und einer ebenfalls regulär abgeschlossenen Therapie nach § 35 BtMG der Kläger die Komponenten seiner Suchtmittelabhängigkeit, die Auslöser für Rückfälle und auch die Folgen seiner Suchtmittelproblematik kennt. Zumindest auf der theoretischen Ebene seien ihm auch Möglichkeiten vermittelt worden, mit Problemen etc. adäquat umzugehen. Die Problematik liege offensichtlich darin, dass er nicht fähig sei, auch über einen längeren Zeitraum hinweg die auf der theoretischen Ebene erlernten Fähigkeiten und Fertigkeiten praktisch umzusetzen. Ob gegebenenfalls das neben den üblichen Ambulanzkontakten im Rahmen der ambulanten Sicherungsnachsorge geforderte intensivere teilinstitutionalisierte Nachbetreuungsprogramm den Kläger nachhaltig und dauerhaft in die Lage versetzen wird, sich von den Drogen, egal was kommt, fernzuhalten, lässt sich nicht mit Gewissheit oder auch nur beachtlicher Wahrscheinlichkeit prognostizieren.
1.2.2 Angesichts der schweren, ein Grundinteresse der Gesellschaft berührenden Gefährdung, die nach alledem vom Kläger ausgeht, entspricht die Feststellung des Verlustes des Unionsrechts auf Einreise und Aufenthalt auch einer pflichtgemäßen Ermessensausübung (vgl. § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU: „kann“). Die Beklagte hat weder die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten noch von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht (§ 114 Satz 1 VwGO). Insbesondere hat sie auch die Bleibeinteressen des Klägers umfassend und sachgerecht gewürdigt. Insoweit folgt das Gericht der Begründung des Bescheides vom 11.08.2017 (S. 11 ff, Ziffer 2.6) und sieht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 117 Abs. 5 VwGO).
Zur Situation des Klägers im Bundesgebiet ist ergänzend auf die folgenden Ausführungen im Forensischpsychiatrischen Gutachten vom 16.08.2018 (S. 38) hinzuweisen:
„Er (der Kläger) selbst beschreibt seine biographische Entwicklung ab dem Jahr 2005 als Katastrophe, zusammenfassend kann der Unterzeichner diese Sichtweise durchaus teilen. Zuvor war Herr … noch einigermaßen sozial integriert mit Arbeitstätigkeit, seit Antritt seiner ersten Haft war er allerdings nie wieder wirklich sozial integriert, stattdessen mehrfach inhaftiert, es gelang ihm nur noch kurzzeitig, nach einer Maßnahme nach § 64 StGB, einen stabilen sozialen Rahmen mit Wohnung und Arbeit aufzubauen. Ansonsten war sein Leben allerdings dominiert von Suchtmittelkonsum und den sich daraus ergebenden strafrechtlichen und sozialen Folgen.
Eine altersübliche Sozialisation mit Familie und stabilen beruflichen Verhältnissen sowie allgemeinen sozialen und gesellschaftlichen Interessen findet sich bei ihm nicht. Er verfügt auch nicht über einen altersüblichen Freundes- und Bekanntenkreis außerhalb der Suchtmittel konsumierenden Szene.“
Weder die Lebensgefährtin des Klägers, die in diesem Zusammenhang als stabilisierender Faktor gar nicht erwähnt wird, noch seine Familie – der Bruder ist ebenfalls drogenabhängig mit den daraus resultierenden Problemen – vermochten dem Kläger den erforderlichen Halt zu geben.
Angesichts dieser Lebensumstände des Klägers einerseits und der von ihm ausgehenden schweren Gefährdung andererseits erweist sich die Verlustfeststellung insbesondere auch nicht als unverhältnismäßig.
1.2 Ziffer 3 des angefochtenen Bescheides vom 11.08.2017 ist gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht aufzuheben, weil aus den im Prozesskostenhilfebeschluss unter 2. dargestellten Gründen die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes auf fünf Jahre rechtmäßig und der Kläger dadurch nicht in seinen Rechten verletzt ist. Weder die Klägerseite noch die Beklagtenseite ist dem Verständnis der Ziffer 3 des Bescheides vom 11.08.2017 als Befristungsentscheidung gemäß § 7 Abs. 2 Satz 5 FreizügG/EU entgegengetreten. Einwände gegen die Länger der Frist wurden von der Klägerseite nicht – auch nicht hilfsweise – erhoben.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO, wonach die Kosten gegeneinander aufzuheben oder verhältnismäßig zu teilen sind, wenn ein Beteiligter teils obsiegt, teils unterliegt. Für die zweite Alternative sprechen vorliegend die Gewichtung von Obsiegen und Unterliegen sowie der Umstand, dass im Falle einer Kostenaufhebung der allein anwaltlich vertretene Kläger gemäß § 155 Abs. 1 Satz 2 VwGO seine außergerichtlichen Kosten vollumfänglich selbst zu tragen hätte.
3. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 ZPO.