Aktenzeichen M 6 K 17.31094
Leitsatz
Für aus dem europäischen Ausland zurückkehrende, alleinstehende, männliche arbeitsfähige afghanische Staatsangehörige besteht in Afghanistan keine extreme Gefahrenlage. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
1. Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 24. Mai 2017 entschieden werden, obwohl auf Seiten der Beklagten niemand erschienen ist. In der Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Falle des Nichterscheinens eines Beteiligten ohne ihn verhandelt und entschieden werden könne (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO). Die Beklagte ist form- und fristgerecht geladen worden.
2. Die Klage gegen die Nrn. 1, 3 bis 6 des Bescheids der Beklagten vom 10. Januar 2017 hat keinen Erfolg. Sie ist zulässig, aber unbegründet. Der Bescheid ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO analog).
Maßgeblicher Zeitpunkt zur Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist derjenige der mündlichen Verhandlung am 24. Mai 2017 (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Asylgesetz – AsylG -).
Zur Begründung der vorliegenden Entscheidung wird zunächst auf die zutreffenden Ausführungen in der Begründung des angegriffenen Bescheids des Bundeamts vom 10. Januar 2017 Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG). Ergänzend ist jedoch folgendes auszuführen:
2.1 Ob der Kläger vor seiner Ausreise tatsächlich eine außereheliche Beziehung zu seiner Schwiegermutter hatte, die von seinem Schwiegervater entdeckt und zum Anlass von Gewalt gegen ihn genommen wurde sowie Grundlage weiterer Verfolgungsmaßnahmen gegen ihn im Falle einer Rückkehr sein könnte, bleibt offen. Selbst wenn man dieses Geschehen nämlich als wahr unterstellt, wäre der Kläger darauf zu verweisen, sich an einem anderen Ort als seinem Heimatdort in Afghanistan niederzulassen. Selbst wenn der Kläger es mit Recht als zu gefährlich ansehen sollte, sich im Großraum Kabul niederzulassen, stünden ihm insbesondere mit größeren Städten, wie etwa Mazar-e Sharif oder Bamiyan als Alternative? zur Verfügung, wobei letztere den Vorzug hätte, dass dort zahlreiche Hazara leben. Selbst wenn er also eine asylrelevante Verfolgung insbesondere durch seinen Schwiegervater und dessen Familie zu befürchten hätte, wäre er gem. § 3 e AsylG auf eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verweisen.
2.2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes im Sinne von § 4 Abs. 1 AsylG. Es sind keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür feststellbar, dass dem Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine ernsthafte Gefahr oder Schaden im Sinne des § 4 Satz 1 Satz 2 Nr. 1 bis 3 AsylG droht.
2.2.1 Es ist weder etwas dafür vorgetragen, noch ersichtlich, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe droht (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG).
Allerdings ignoriert der angegriffene Bescheid des Bundesamts vom 10. Januar 2017 zu Unrecht die möglichen Konsequenzen, die Männern im Falle einer aufgedeckten außerehelichen Beziehung seitens der Familie der Frau, ggf. – wie hier – des Ehemannes und seiner Familie und nicht zuletzt von Seiten staatlicher oder religiöser sowie gesellschaftlich relevanter weiterer Akteure drohen. Dem Gericht liegen unter dem Stichwort „Zina“ hierzu nicht nur die von der Klagepartei in das Verfahren eingeführten Informationen vor. Sie alle stimmen darin überein, dass es (von ganz vereinzelten Fällen abgesehen) gegenüber dem an einer solchen Beziehung beteiligten Mann in der Regel nicht zu einer erheblichen Bestrafung, schon gar nicht zur Tötung kommt. Ehebruch und voreheliche bzw. außereheliche Beziehungen sind in Afghanistan nach dem staatlichen Recht strafbar. Im Falle einer Anzeige kommt es gegenüber den beteiligten Männern überwiegend zur Verurteilung zu Geldstrafen, selten zu Haftstrafen. Sich auf religiösen Vorschriften gründende Sanktionen können im Einzelfall weitergehen. So sind etwa Peitschenhiebe, allerdings nur in einem einzigen Fall die Steinigung beider an einer solchen Beziehung Beteiligter bekannt. In der überwiegenden Zahl der Fälle kommt es jedoch zu keinerlei solchen Sanktionen, weil die Familien, wohl auch um die Schande nicht öffentlich werden zu lassen, die Angelegenheit untereinander regeln. Das kann, wie vom Kläger geschildert, etwa auch die Scheidung des betrogenen Ehepartners, aber auch Geldzahlungen zum Inhalt haben.
Insofern kann den Gründen des Bescheids nicht gefolgt werden, als er keinerlei Konsequenzen des Klägers für den Fall der Richtigkeit dessen Schilderung hinsichtlich seiner Fluchtgründe in Erwägung zieht. Im Ergebnis verhilft dies der Klage gleichwohl nicht zum Erfolg, weil der Kläger, wie ausgeführt, auf eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verweisen ist. Aus demselben Grund erübrigen sich Ausführungen zu der Frage, ob dem Kläger subsidiärer Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG zuzuerkennen wäre.
2.2.2 Dem Kläger ist auch nicht nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG subsidiärer Schutz zuzuerkennen.
Nach allen der Kammer vorliegenden und in das Verfahren eingeführten Informationen ist nicht von einer ernsten individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit des Klägers als Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes in Afghanistan auszugehen. Hinsichtlich der Methodik zur Beurteilung dieser Frage folgt die Kammer der obergerichtlichen Rechtsprechung (z.B. BayVGH, B.v. 17.1.2017 – 13a ZB 16.30182, juris; BVerwG, U.v. 13.2.2014 – 10 C 613, NVwZ-RR 2014, 487; VG München, U.v. 3.4.2017 – M 17 K 16.34975, juris, Rn. 33 m.w.N.). Daraus folgt für den vorliegenden Fall, dass dem Kläger kein subsidiärer Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG zuzuerkennen ist.
Nach dem aktuellen UNAMA-Bericht „Afghanistan annual report on protection of civilians in armed conflicts 2016“ vom Februar 2017 versteht diese Organisation unter der sog. Zentralregion folgende Provinzen: Kabul, Kapisa, Logar, Maidan Wardak, Parwan, und Panjshir. Hier leben insgesamt 5.787.000 Menschen. Unter ihnen gab es laut dem genannten UNAMA-Bericht im Jahr 2016 2.348 zivile Opfer. Daraus errechnet sich für jeden, der sich dort aufhält, eine Wahrscheinlichkeit von 1:2464, Opfer willkürlicher Gewalt zu werden. Nimmt man im Sinne eines Sicherheitszuschlags mit Blick darauf, dass auf Grund der insgesamt schwierigen und unsicheren Lage in Afghanistan möglicherweise nicht alle Opfer Organisationen wie der UNAMA bekannt oder von diesen gezählt werden, eine um 50% höher liegende Opferzahl an, also vorliegend 3.522 Opfer, errechnet sich hieraus eine Wahrscheinlichkeit von 1:1.643, was erheblich jenen Maßstab von 1:800 unterschreitet, den die obergerichtliche Rechtsprechung als Beurteilungsmaßstab dafür entwickelt hat, wann jedenfalls noch nicht vom Vorliegen einer jedermann betreffenden erheblichen Gefahr, Opfer willkürlicher Gewalt zu werden, ausgegangen werden muss (im Anschluss an BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 – NVwZ 2012, 454). Es bedürfte einer etwa doppelt so hoch liegenden Zahl an zivilen Opfern, damit der Maßstab von 1:800 erreicht bzw. überschritten wäre.
Selbst wenn man hinsichtlich der Voraussetzung für die Zuerkennung subsidiären Schutzes (für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gilt dies entsprechend) im Falle des Klägers zu einer anderen Einschätzung gelangen würde, wäre dieser nach § 4 Abs. 3 AsylG i.V.m. § 3e AsylG auf eine innerstaatliche Fluchtalternative – insbesondere die Städte Mazar-e Sharif und Bamiyan einschließlich deren Umfeld – zu verweisen.
2.3. Es liegen keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor.
Bei den national begründeten Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK und dem nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG handelt es sich um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – BVerwGE 140, 319 Rn. 6f).
Vorliegend gibt es im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. § 3 EMRK keine Anhaltspunkte für die Annahme, der Kläger werde im Falle seiner Rückkehr in sein Heimatland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt. Es müsste mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit dem Kläger eine solche unmenschliche Behandlung oder extreme Gewalt drohen oder es müssten so schlechte humanitäre Bedingungen herrschen, dass sein Überleben als gefährdet erscheint. Für all dies ist nach den Umständen des vorliegenden Falles nichts ersichtlich. Auch der Kläger selbst hat nicht vorgetragen, weshalb ein Überleben – schlimmstenfalls am Rande des Existenzminimums – für ihn in Afghanistan schlichtweg unmöglich sein sollte. Der vorstehend zitierte UN-Bericht spricht zwar von schwierigen Bedingungen für Rückkehrer, nennt aber auch zahlreiche positive Aspekte und stellt fest, rund ¾ der für den Bericht befragten Rückkehrer hätten auch nach mehreren Monaten Aufenthalt erklärt, ihre Rückkehr sei die richtige Entscheidung gewesen. Zusammenfassend geht das Gericht deshalb im Fall des Klägers auch in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bayrischen Verwaltungsgerichtshofs (B.v. 23.1.2017 – 13a ZB 17.30044 – Juris, Ls. Nr. 1 und Rn. 5) davon aus, dass es einem arbeitsfähigen, gesunden jungen Mann regelmäßig möglich ist, auch ohne nennenswertes Vermögen im Fall einer zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland Afghanistan durch Gelegenheitsarbeiten in seiner Heimatregion oder in Kabul ein kleines Einkommen zu erzielen und damit wenigstens ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten. Auch unter Auswertung der zuletzt in das vorliegende Verfahren eingeführten Erkenntnismittel liegen dem Gericht keine Informationen vor, dass sich diese Aussage nicht weiterhin so aufrechterhalten ließe. Vielmehr gibt es einzelne, wenn auch kleine positive Anzeichen hinsichtlich einer Stabilisierung der Lage zumindest in einigen Teilen des Landes, jedenfalls aber keine derart signifikante landesweite Verschlechterung der Lage, dass dem Kläger und auch sonst keinem außer Landes befindlichen afghanischen Staatsangehörigen die Rückkehr in sein Heimatland nicht zugemutet werden könnte.
Die allgemeine Gefahrenlage in Afghanistan stellt sich auch nicht als für den Kläger als derart zu einer extremen Gefahrenlage zugespitzt dar, dass eine entsprechende Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG geboten wäre. Wann allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Die drohenden Gefahren müssen nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich für Betroffene die begründete Furcht ableiten lässt, in erheblicher Weise Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Dies setzt voraus, dass der konkret Betroffene mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach der Rückkehr in sein Heimatland in eine lebensgefährliche Situation gerät, aus der er sich weder alleine noch mit erreichbarer Hilfe anderer befreien kann, ihm gleichsam sehenden Auges der sichere Tod oder schwerste Verletzungen bevorstehen (vgl. z. B. BVerwG, U.v. 29.6.2010 – 10 C 10.09 – Juris Rn. 15). Nach den insoweit auch hier geltenden Ausführungen zu § 60 Abs. 5 AufenthG ist im vorliegenden Fall hiervon nicht auszugehen. Auch der Kläger hat zu diesem Aspekt nichts vorgetragen. Die angeblich drohende Verfolgung durch den Schwiegervater und dessen Familie ist im vorliegenden Zusammenhang nicht erneut zu berücksichtigen und zu bewerten.
Schließlich ist zu berücksichtigen, dass es dem Kläger, der nach seinen Angaben Eigentümer eines Hauses in der Region Kabul ist, ohne weiteres möglich war, aus eigener Kraft seine immerhin mehrere tausend Dollar teure Reise nach Deutschland zu finanzieren. Das Gericht ist daher davon überzeugt, dass es ihm im Falle seiner Rückkehr auch ohne familiären Rückhalt und Unterstützung möglich wäre, in seinem Heimatland – wenn nicht in Kabul, dann in einer der anderen größeren, als hinreichend sicher geltenden Städte – wieder Fuß zu fassen und sich eine Existenz aufzubauen. Um sich eine finanzielle Basis zu schaffen kann er auch auf seinen Immobilienbesitz in Kabul zurückgreifen. Zudem hatte der vom Kläger geschilderte Vorfall jedenfalls für seine Schwiegermutter lediglich die Konsequenz der Scheidung vom Schwiegervater, was den Schluss nahelegt, dass dem Kläger seinerseits jedenfalls keine schwerwiegenden Konsequenzen drohen würden, selbst wenn ihn die Familie des Schwiegervaters oder dieser selbst nach seiner Rückkehr irgendwie ausfindig machen könnten. Da der Kläger nicht von einer Anzeige bei staatlichen Stellen berichtet hat, ist von dieser Seite her nicht mit Konsequenzen, schon gar nicht landesweit, zu rechnen.
Ob diese Annahmen auch dann noch so aufrechterhalten werden könnte, wenn eine Rückkehr des Klägers in sein Heimatland konkret ansteht, kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht beurteilt werden. Dazu ist die Lage in Afghanistan viel zu volatil und instabil. Sie wird anhand der aktuellen Erkenntnisse zu gegebener Zeit von der hierfür zuständigen Behörde neu zu ermitteln und zu bewerten sein.
3. Da sich die Nrn. 1, 3 und 4 des Bescheids vom 10. Januar 2017 somit als rechtmäßig erweisen, durfte das Bundesamt nach Maßgabe des § 34 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG eine Ausreiseaufforderung und eine Abschiebungsandrohung aussprechen.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit hat ihre Rechtsgrundlage in § 167 VwGO i.V.m. § 708 ff. der Zivilprozessordnung (ZPO).