Aktenzeichen Au 5 K 16.31988
Leitsatz
Bei der Beurteilung der Frage, welche Gefahren einem Rückkehrer durch die Abschiebung in dessen Heimatstaat drohen, ist zu beachten, dass regelmäßig von einer gemeinsamen Rückkehr aller Familienangehörigen auszugehen ist. Gehören dazu auch minderjährige zu versorgende Kinder, ist eine extreme Gefahrenlage anzunehmen. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20. September 2016 wird in den Ziffern 4, 5 und 6 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen.
II.
Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage der Kläger ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten übereinstimmend auf die Durchführung einer solchen verzichtet haben (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
Die auf die Feststellung eines Abschiebungsverbotes hinsichtlich Afghanistans, die Aufhebung einer Abschiebungsandrohung und eines gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbotes mit Schriftsatz vom 9. Januar 2017 beschränkte Klage ist zulässig und in diesem Umfang begründet.
Soweit der Bescheid des Bundesamtes mit der Klage angegriffen ist, ist dieser rechtswidrig und verletzt die Kläger insoweit in ihren Rechten. Die Kläger haben einen Anspruch auf Feststellung, dass ein Abschiebungsverbot hinsichtlich Afghanistans besteht (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der insoweit entgegenstehende Bescheid des Bundesamtes vom 20. September 2016 war daher antragsgemäß in dessen Ziffern 4 bis 6 aufzuheben. Maßgeblich für das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes hinsichtlich Afghanistans ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung im schriftlichen Verfahren (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG).
Die Kläger haben einen Anspruch auf Feststellung des Bestehens eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG. Nach dieser Bestimmung darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl 1952 II Seite 658) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.
Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes können schlechte humanitäre Bedingungen eine auf eine Bevölkerungsgruppe bezogene Gefahrenlage darstellen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK führt. Bei der Rückkehr von Familien mit minderjährigen Kindern ist dies angesichts der in Afghanistan derzeit herrschenden Rahmenbedingungen im Allgemeinen der Fall, so dass für diese ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG besteht (vgl. BayVGH, B. v. 30.9.2015 – 13a ZB 15.30063 – juris Rn. 5; U. v. 21.11.2014 – 13a B 14.30284 – Asylmagazin 2015, 197; U. v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – InfAuslR 2015, 212).
Nach ständiger Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (vgl. z. B. B. v. 14.1.2015 – 13a ZB 14.30410 – juris Rn. 5; B. v. 30.9.2015 – 13a ZB 15.30063 – juris Rn.6) ist weiter aufgrund der Auskunftslage und der ins Verfahren eingeführten Erkenntnismittel davon auszugehen, dass ein alleinstehender, arbeitsfähiger männlicher afghanischer Rückkehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht alsbald nach einer Rückkehr in eine derartige extreme Gefahrenlage geraten würde, die eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich als unzumutbar erscheinen ließe. Zwar ist die Versorgungslage in Afghanistan schlecht, jedoch ist im Wege einer Gesamtgefahrenschau nicht anzunehmen, dass bei einer Rückführung nach Afghanistan alsbald und als sichere Folge der Tod drohen würde oder eine ernste Gesundheitsbeeinträchtigung zu erwarten wäre.
Dies zugrunde gelegt, ist es ausgeschlossen, hinsichtlich des Bestehens eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 AufenthG ausschließlich auf den Kläger zu 1. abzustellen. Dies gilt ungeachtet von dessen Alter und bisheriger Tätigkeit im Baugewerbe. Eine extreme Gefahrenlage in Kabul kann sich nämlich für besonders schutzbedürftige Rückkehrer wie minderjährige, alte oder behandlungsbedürftig kranke Personen, alleinstehende Frauen mit und ohne Kinder, Familien mit Kleinkindern und Personen, die aufgrund besonderer persönlicher Merkmale zusätzlicher Diskriminierung unterliegen, ergeben.
Bei der Beurteilung, ob eine extreme Gefahrenlage insbesondere bei einer Rückkehr nach Kabul besteht, ist zu beachten, dass Familienangehörige wegen des Schutzes von Ehe und Familien nach Art. 6 Grundgesetz (GG) nur gemeinsam mit ihren Kindern und ihrem Ehepartner nach Afghanistan zurückkehren können (vgl. BVerfG, B. v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris). Ihre einzelne und isolierte Rückkehr ist weder realistisch noch von Rechts wegen einzufordern. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan geht es damit nicht nur um die Sicherstellung des Lebensunterhalts des Klägers zu 1. Bei der Beantwortung der Frage, ob das Existenzminimum am Zufluchtsort gesichert sein wird, sind alle Familienmitglieder bzw. der Familienverband zu berücksichtigen (VG Augsburg, U. v. 24.5.2012 – Au 6 K 11.30369 – juris Rn. 29) Damit kann auch eine bestehende Unterhaltspflicht des erwerbstätigen Klägers zu 1. nicht unberücksichtigt bleiben (vgl. BayVGH, U. v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – juris Rn. 21). Bei der anzustellenden Prognose, welche Gefahren dem Asylbewerber im Falle einer Abschiebung in dessen Heimatstaat drohen, ist regelmäßig von einer gemeinsamen Rückkehr aller Familienangehörigen auszugehen. Nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen, wie bei Angehörigen, die als politisch Verfolgte Abschiebungsschutz genießen, könne eine andere Betrachtung geboten sein (BVerwG, U. v. 21.9.1999 – 9 C 12/99 – juris Rn. 11). Ein derartiger Ausnahmefall ist hier nicht zu erkennen.
Es ist davon auszugehen, dass der Kläger zu 1. und dessen Ehefrau, die bereits zum jetzigen Zeitpunkt zwei minderjährige Kinder zu versorgen haben (Klägerin zu 3. und 4.), als Rückkehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach der Rückkehr in eine extreme Gefahrenlage geraten würden, die eine Abschiebung in den Heimatsaat verfassungsrechtlich als unzumutbar erscheinen lässt. Im Februar erwarten die Kläger ein weiteres Kind. Insoweit kann nicht lediglich auf eine mögliche künftige Erwerbstätigkeit des Klägers zu 1. abgestellt werden. Es ist nicht sichergestellt, dass der Kläger zu 1. bei einer Rückkehr nach Afghanistan den Lebensunterhalt für sich, seine Ehefrau und dann drei minderjährige Kinder wird erwirtschaften können. Generell sind die Arbeitsmöglichkeiten in Afghanistan jedoch sehr begrenzt. Die Tatsache, dass der Kläger über keine qualifizierte Berufsausbildung verfügt und damit einem harten Verdrängungswettbewerb mit vielen anderen ungelernten Arbeitskräften ausgesetzt ist, dürfte für zusätzliche Schwierigkeiten bei der zukünftigen Eingliederung in den afghanischen Arbeitsmarkt führen. Am ehesten sind auf diesem noch junge kräftige Männer in einfachen Tätigkeiten, bei denen harte körperliche Arbeit gefragt sei, zu vermitteln. Für den Kläger zu 1. kommt entsprechend seiner bisherigen Tätigkeit wohl allenfalls eine erneute Tätigkeit im Baugewerbe in Betracht. In dieses strömen jedoch nach der aktuellen Erkenntnislage eine große Zahl der Rückkehrer und jungen Männer ohne entsprechende Berufsausbildung. Bei den angebotenen Erwerbstätigkeiten handelt es sich meist um Tätigkeiten als ungelernte Hilfskräfte bzw. Tagelöhner, die allenfalls das Existenzminimum des Arbeitssuchenden selbst sichern können. Dem Gericht erscheint es ausgeschlossen, über eine derartige Tätigkeit des Klägers zu 1. den Lebensunterhalt für eine bald fünfköpfige Familie zu sichern. Eine Erwerbstätigkeit der Klägerin zu 2. scheidet mangels entsprechender Berufsausbildung – die Klägerin zu 2. ist Analphabetin und hat bislang lediglich als Hausfrau gearbeitet – und der Betreuung der in Kürze drei minderjährigen Kinder von vorneherein aus. Auf die extrem hohe Kindersterblichkeit in Afghanistan wird hingewiesen. Auch dieser Umstand verbunden mit der für Februar 2017 zu erwartenden Geburt eines weiteren Kindes lässt eine Rückkehr der Kläger zum jetzigen Zeitpunkt nach Afghanistan nicht zu. Da die Familie nur über einen Erwerbsfähigen verfügt, ist das Existenzminimum der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan insbesondere auch unter Berücksichtigung der erforderlichen Betreuung und Versorgung der Klägerin zu 3. und 4. im Alter von gerade einmal sieben und zehn Jahren keinesfalls gesichert. Hinzutritt in Kürze der Betreuungsaufwand für das erwartete weitere Kind. Insoweit geht die im Bescheid des Bundesamts vom 20. September 2016 dargelegte Auffassung zum Vorliegen von Abschiebungsverboten fehl.
Ein anderes rechtliches Ergebnis können auch nicht eventuelle Hilfen für die Kläger aus den Rückkehrprogrammen REAG/GARP bzw. ERIN begründen. Beim humanitären Rückkehrprogramm REAG handelt es sich lediglich um eine Reisebeihilfe, die sich für die Kläger derzeit auf insgesamt 600,00 € belaufen würde. Das GARP-Programm sieht Starthilfen im Umfang von 500,00 € für Erwachsene und von 250,00 € für Kinder unter 12 Jahren vor. Nach dem ERIN-Programm wird freiwilligen Rückkehrern eine Sachleistungsbeihilfe im Umfang von bis zu 2.000,00 € gewährt. In Anbetracht der Schwierigkeiten, die der Kläger zu 1. haben dürfte, als ungelernte Kraft auf dem hart umkämpften afghanischen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen und der wohl über Jahre fortdauernden Erwerbssituation seiner Familie mit lediglich einem Erwerbstätigen und drei Kleinkindern, lassen auch diese Rückkehrbeihilfen, auf die überdies kein Rechtsanspruch besteht (Bundesamt, Auskunft gegenüber VG Augsburg vom 12.8.2016) als nicht ausreichend erscheinen, um dauerhaft ein Überleben der Familie der Kläger in Afghanistan zu gewährleisten.
Im Rahmen einer Gesamtschau würden die Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan in eine ausweglose Lage geraten, die ihnen nicht zugemutet werden kann. Ein Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG liegt daher vor. Aufgrund dessen waren auch die Abschiebungsandrohung in Ziffer 5 und das auf 30 Monate festgesetzte Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 AufenthG antragsgemäß aufzuheben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Als im Verfahren unterlegen hat die Beklagte die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO.