Aktenzeichen M 4 K 16.1114
Leitsatz
Ein zielstaatbezogenes Abschiebungshindernis iSd § 60 Abs. 7 AufenthG kann sich zum einen aus der Krankheit eines Ausländers ergeben, wenn diese sich im Heimatstaat verschlimmert, weil die ärztlichen und medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend sind. Zum anderen kann es sich daraus ergeben, dass der Ausländer die an sich verfügbaren medikamentösen und ärztlichen Behandlungen aus finanziellen oder sonstigen Umständen im Zielstaat tatsächlich nicht erlangen kann (ebenso BVwerG BeckRS 2003, 20532). (redaktioneller Leitsatz)
Die Gesundheitsversorgung ist in Indien grundsätzlich vorhanden und verfügbar. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Die Klage wird abgewiesen.
II.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Die zulässige Klage ist unbegründet, da der Kläger keinen Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis hat. Der Bescheid des Beklagten vom 5. Februar 2016 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO).
Auf die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis finden dieselben Vorschriften Anwendung wie auf die Erteilung (§ 8 Abs. 1 AufenthG).
1. Ein Anspruch des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ergibt sich nicht aus § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG in Verbindung mit § 60 Abs. 7 AufenthG.
Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für den Ausländer eine erhebliche Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. „Erheblich“ in diesem Sinne ist eine drohende Gesundheitsgefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Eine „konkrete“ Gefahr liegt vor, wenn diese Verschlechterung alsbald nach Rückkehr des Ausländers in den Heimatstaat einträte, weil die dort zur Behandlung seiner Leiden zur Verfügung stehenden Möglichkeiten unzureichend sind und er auch anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnte (vgl. VG Ansbach, Urteil vom 15.05.2011 – AN 16 K 10.30197 -juris). Dabei ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist und eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch dann vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist (§ 60 Abs. 7 Satz 3 und 4 AufenthG).
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG) kann sich ein zielstaatbezogenes Abschiebungshindernis im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG zum einen aus der Krankheit eines Ausländers ergeben, wenn diese sich im Heimatstaat verschlimmert, weil die ärztlichen und medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend sind. Zum anderen kann es sich daraus ergeben, dass der Ausländer die an sich verfügbaren medikamentösen und ärztlichen Behandlungen aus sonstigen Umständen im Zielstaat tatsächlich nicht erlangen kann. Denn eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (BVwerG, Urteil vom 29.10.2002, Az. 1 C 1.02 = DVBl 2003 463-465).
Nach § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG sind solche Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.
Nach Auffassung des Gerichts sind die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG vorliegend erfüllt. Selbst wenn dies nicht der Fall wäre, läge bezogen auf den Kläger keine Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor.
a) Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 24. April 2015 leben in Indien mehr als 400 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze. Es ist davon auszugehen, dass ein nicht unerheblicher Teil davon chronisch krank ist. Nach Auffassung des Gerichts handelt es sich bei diesen chronisch Kranken, die unter der Armutsgrenze leben, um eine Bevölkerungsgruppe im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG, für die eine Anordnung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 AufenthG erforderlich ist.
Auch die dann notwendige verfassungskonforme Auslegung (z. B. Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urt. v. 24.10.2014 – 13a B 12.30421 – juris; Bundesverwaltungsgericht, Urt. v. 12.7.2001 – 1 C 5/01 = BVerwGE 115,1; Urt. 29.9.2011- 10 C 24/10 = NVwZ 2012, 451 Rn. 20) des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führt zu keinem anderen Ergebnis, da der Kläger nicht „sehenden Auges in den sicheren Tod geschickt“ werden würde. Insoweit wird auf das Gutachten des Amtsarztes vom 22. April 2016 mit Ergänzung vom 28. Juni 2016 verwiesen. Darüber hinaus könnte sich der Kläger einen Medikamentenvorrat ins Heimatland mitnehmen.
b) Selbst wenn man davon ausgehen würde, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG nicht vorliegen, läge in Bezug auf den Kläger keine konkrete erhebliche Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 und 2 AufenthG vor, da die nötige medizinische Versorgung im Heimatland des Klägers zur Verfügung stünde und ihm auch individuell zugänglich wäre.
(1) Zum einen sind die Behandlungsmöglichkeiten im Heimatland des Klägers ausreichend. Nach dem Bericht des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Indien vom 24. April 2015 ist die Gesundheitsversorgung gerade in … – dem Ort, an dem der Kläger schon vorher längere Zeit als Koch fern von seiner Familie lebte – im Vergleich zu den anderen Landesteilen gut. In … befindet sich nach Aussage des Vertrauensarztes mit dem National Institute of Liver and Biliary Disesases das einzige öffentliche medizinische Zentrum, das in Nordindien Patienten behandle, die eine TIPS Versorgung benötigen. Daher könnte der Kläger bei einer Rückkehr nach … etwaig notwendige Untersuchungen hier durchführen lassen. Auch alle gängigen Medikamente sind dem Bericht des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Indien vom 24. April 2015 zufolge in Indien auf dem freien Markt erhältlich. Die im amtsärztlichen Gutachten und den privaten Attesten aufgelisteten Medikamente sind allesamt gängige Medikamente, die der Kläger auch in Indien erhalten kann, was auch die Aussage des Vertrauensarztes der deutschen Auslandsvertretung in … bestätigt.
(2) Zum anderen ist die notwendige Behandlung oder Medikation auch für den Kläger individuell (finanziell) zugänglich. Die notwendigen Medikamente und Untersuchungen würden nach Überzeugung des Gerichts – soweit sie dem Kläger nicht im Rahmen der medizinischen Grundversorgung kostenfrei zur Verfügung stünden – keine erheblichen Kosten verursachen und der Kläger könnte sie zudem durch eigene Arbeit und/oder mit der Unterstützung seiner Großfamilie finanzieren.
(aa) Nach dem Bericht des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Indien vom 24. April 2015 gewährt der indische Staat die medizinische Grundversorgung kostenfrei. Darüber hinaus gibt es auch einige staatliche Programme, um auch die Ärmsten mit Kranken- und Sozialversicherungsschutz zu versorgen (vgl. Auskunft Auswärtiges Amt vom 28.04.2014 an VG Leipzig, Az. 508-516.80/47964).
Darüber hinaus sind die Kosten für die benötigen Medikamente zur Überzeugung des Gerichts nicht erheblich. Da es sich bei Indien um den weltweit größten Hersteller von Generika handelt und großen Pharmazieunternehmen kein Patentschutz gewährt wird, kosten Medikamente in Indien auch außerhalb der kostenfreien Grundversorgung nur einen Bruchteil der Preise in Europa. Sie sind damit auch für die arme Bevölkerung finanzierbar (vgl. Bericht der Botschaft der BRD in New Delhi vom 30.12.2013 an das VG Sigmaringen, S. 3). Die persönlichen Kosten des Klägers ließen sich durch die Einnahme von Vitamin-K-Antagonisten wie Warfarin, die nach dem für das Gericht nachvollziehbaren und überzeugenden Gutachten des Amtsarztes vom 22. April 2016 mit Ergänzungen vom 28. Juni 2016 eine ausreichende Therapie für den Kläger darstellt, im Gegensatz zur Einnahme von Xarelto auch noch deutlich senken. Warfarin ist in Indien sehr preisgünstig erhältlich. Auf Basis der Auskünfte des Amtsarztes und des Vertrauensarztes der Auslandsvertretung in … würden dem Kläger (je nach notwendiger Dosierung) lediglich Kosten von umgerechnet zwischen 0,5 und vier Euro im Monat entstehen.
Die Umstellung auf Warfarin mit den dafür nötigen Untersuchungen kann noch in Deutschland erfolgen. Nach der Umstellung auf Warfarin sind nur noch alle drei bis vier Wochen Kontrolluntersuchungen notwendig. Für diese Kontrolluntersuchungen ist es dem Kläger möglich und zumutbar, diese (nach entsprechender Schulung) im Wege des Gerinnungsselbstmanagements (INR-Selbstmessung) selbst durchzuführen. Das Vorgehen ähnelt dem bekannten Zuckerselbsttest und das erforderliche Messgerät kann von einem in Deutschland niedergelassenen Arzt verschrieben werden, wobei die Kosten von der gesetzlichen Krankenkasse getragen werden. Das Messgerät kann der Kläger mit in sein Heimatland nehmen, um die Selbstmessung dort fortzusetzen.
Selbst wenn das Gerinnungsselbstmanagement nicht möglich wäre, entstünden dem Kläger auch dann, wenn die INR-Messung in Indien nicht unter die kostenfreie medizinische (Notfall-)Versorgung fiele, zur Überzeugung des Gerichts keine erheblichen Kosten. Die Messung kann jeder praktische Arzt durchführen, sie wird in Deutschland sogar in vielen Apotheken (Kosten von unter zehn Euro pro Messung) angeboten. Das Gericht geht davon aus, dass die INR-Messung zumindest in den großen Städten in Indien problemlos möglich ist und die Kosten sich dabei weit unterhalb des deutschen Niveaus bewegen. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Kontrolluntersuchungen nur alle drei bis vier Wochen notwendig sind, sind die Kosten zur Überzeugung des Gerichts nicht erheblich. Darüber hinaus führt das Ausfallen von Kontrolluntersuchungen nicht zwangsläufig zu einer konkreten erheblichen Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (vgl. hierzu die Stellungnahme des Amtsarztes vom 28. Juni 2016).
(bb) Die Kosten für Medikamente und eventuell benötigte Untersuchungen kann sich der Kläger zudem durch Arbeit finanzieren. Den Aussagen des Hausarztes in seiner Stellungnahme vom 28. Juni 2016 zufolge ist der Kläger dazu in der Lage, zumindest halbtags zu arbeiten. Dass es in Indien zumindest in den Großstädten keine Teilzeitbeschäftigung geben soll, ist für das Gericht nicht nachvollziehbar.
Davon abgesehen geht das Gericht davon aus, dass der Kläger auf die Hilfe seiner indischen Großfamilie rechnen kann, da indische Großfamilien regelmäßig bereit sind, für die medizinische Versorgung gerade eines männlichen Familienangehörigen aufzukommen (vgl. Bericht der Botschaft der BRD in New Delhi vom 30.12.2013 an das VG Sigmaringen, S. 4). Der Kläger verfügt in Indien über eine Großfamilie: Neben der Kernfamilie in Gestalt seiner Eltern, der Ehefrau und den Kindern, hat der Kläger zwei ältere Schwestern, die verheiratet sind und in einem Dorf in der Nähe des Heimatdorfes des Klägers leben. Ein älterer Bruder hat einen Teeladen auf einem benachbarten Markt und ein weiterer älterer Bruder hält sich in Österreich auf.
2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG. Zwar kann Reiseunfähigkeit ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis im Sinne des § 25 Abs. 5 AufenthG begründen (vgl. BVerfG, B. v. 16.4.2002 – 2 BvR 553/02 = InfAuslR 2002, 415). Nach dem für das Gericht nachvollziehbaren und überzeugenden Gutachten des Amtsarztes vom 22. April 2016 ist der Kläger jedoch gegenwärtig reisefähig.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Rechtsmittelbelehrung:
Nach §§ 124, 124 a Abs. 4 VwGO können die Beteiligten die Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil innerhalb eines Monats nach Zustellung beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
beantragen. In dem Antrag ist das angefochtene Urteil zu bezeichnen. Dem Antrag sollen vier Abschriften beigefügt werden.
Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung dieses Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist bei dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof,
Hausanschrift in München: Ludwigstraße 23, 80539 München, oder
Postanschrift in München: Postfach 34 01 48, 80098 München
Hausanschrift in Ansbach: Montgelasplatz 1, 91522 Ansbach
einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.
Über die Zulassung der Berufung entscheidet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und den in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Rechtslehrern mit Befähigung zum Richteramt die in § 67 Abs. 4 Sätze 4 und 7 VwGO sowie in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen und Organisationen.
Beschluss:
Der Streitwert wird auf EUR 5000,00.- festgesetzt (§ 52 Abs. 2 Gerichtskostengesetz -GKG-).
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diesen Beschluss steht den Beteiligten die Beschwerde an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zu, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes EUR 200,– übersteigt oder die Beschwerde zugelassen wurde. Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
einzulegen.
Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, kann die Beschwerde auch noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
Der Beschwerdeschrift eines Beteiligten sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.