Aktenzeichen Au 5 K 17.32165
Leitsatz
Irakische Christen, die nicht aus den kurdisch kontrollierten Teilen des Nordiraks stammen, unterliegen im Irak einer Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure. (Rn. 22 – 24) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Der Bescheid des Bundesamts für … vom 24. März 2017 wird in Nr. 1 aufgehoben.
II.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
III.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
IV.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage des Klägers ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden, da sich die Beteiligten übereinstimmend mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden erklärt haben (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
Die zulässige Klage ist bereits im Hauptantrag begründet, so dass es keiner Entscheidung über die gestellten Hilfsanträge bedurfte. Der mit der Klage angegriffene Bescheid des Bundesamts vom 24. März 2017 ist in dessen Nr. 1 rechtswidrig und verletzt den Kläger insoweit in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Kläger besitzt entsprechend dem im Verfahren seiner Mutter ergangenem Bescheid des Bundesamtes vom 24. Mai 2016 (Gz.: *) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG. Als Angehöriger der christlich-orthodoxen Religionsgemeinschaft, was auch von der Beklagten nicht bestritten wird, ist der Kläger aufgrund seiner Herkunftsprovinz einer regional-begrenzten Gruppenverfolgung ausgesetzt.
Wie sich aus den dem Gericht vorliegenden Stellungnahmen sowie Auskünften und Gutachten ergibt, ist die Situation für Christen außerhalb des kurdisch kontrollierten Teils des Nordiraks prekär. Das gilt insbesondere für die Großstadt, aus der der Kläger und seine Familie stammen. Christen sind überdurchschnittlich oft Opfer von Entführungen und Erpressungen. Sie sind auch bevorzugtes Angriffsziel von Extremisten oft in Verbindung mit dem Vorwurf der Kollaboration mit den Besatzungstruppen. Bei der Religionsausübung in Kirchen müssen Christen jederzeit mit Terroranschlägen rechnen. Da Kirchen zudem (auch) Zeichen des christlichen Glaubens sind, dokumentieren gerade diese Anschläge eine „feindliche Gesinnung“ gegenüber dem Christentum. Schließlich sind in der jüngsten Vergangenheit viele Christen aus dem Irak geflohen. Die beschriebenen Verfolgungshandlungen knüpfen allerdings nicht nur am Merkmal des Christentums an, sondern Christen werden auch nur deshalb häufig Opfer von Erpressungen, weil sie der reicheren Gesellschaftsschicht des Iraks angehören, oder Opfer von Anschlägen von islamischen Terroristen, weil man ihnen Kollaboration mit den Besatzungstruppen vorwirft und um einen Keil zwischen Muslime und Christen im Irak zu schlagen. Damit ist für die Verfolgung aber gerade kein bestimmtes Verhalten oder kein bestimmter Anlass maßgeblich, wodurch für den Einzelnen die Gefahr umso größer und – hinsichtlich ihrer Aktualität – unkalkulierbarer wird, weil sie ausschließlich an kollektive, dem einzelnen unverfügbare Merkmale anknüpft. Erpressungen, Geiselnahmen und Anschläge auf Christen kamen in der jüngsten Vergangenheit sehr häufig vor. Hinzu kommt eine hohe Dunkelziffer, weil Anzeigen wegen der Ineffizienz der Polizei nicht erstattet werden.
Außerhalb des kurdisch kontrollierten Teils des Nordiraks muss ein Christ somit, nur weil er der christlichen Glaubensgemeinschaft angehört, jederzeit mit entsprechenden Übergriffen auf seine Person rechnen, sobald er sich als Christ zu erkennen gibt bzw. als solcher von Islamisten erkannt wird. Der Grund dafür liegt darin, dass Christen von der Mehrzahl der Moslems im Irak als „Ungläubige“ angesehen werden und im Hinblick auf eine zunehmende islamische Radikalisierung des Iraks Ungläubige entweder zum Islam bekehrt oder aber beseitigt werden sollen. Allgemein leben Christen daher im Irak in einem Klima zunehmender gesellschaftlicher Verachtung, womit Verfolgungshandlungen in den Augen der Verfolger gerechtfertigt oder doch tatsächlich begünstigt werden. Die in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel belegen daher eine Vielzahl von Verfolgungsmaßnahmen, die nach ihrer Intensität und Häufigkeit so dicht und eng gestreut sind, dass bei objektiver Betrachtung für jedes Gruppenmitglied die Furcht begründet ist, selbst ein Opfer solcher Verfolgungsmaßnahmen zu werden. Damit liegen aber die Voraussetzungen zur Bejahung einer Gruppenverfolgung der Christen im Irak (durch nichtstaatliche Akteure) vor.
Gänzlich anders ist dagegen die Situation im kurdisch kontrollierten Nordirak. Nach den ins Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln finden dort allenfalls vereinzelte Übergriffe auf Christen statt. Im Wesentlichen können die Christen dort aber unbehelligt leben. Sie unterliegen zudem staatlichen Förderprogrammen und erhalten staatliche Gelder, um sich eine Existenz aufzubauen. Übergriffe, wie sie aus den anderen Teilen des Iraks gemeldet wurden, insbesondere Anschläge auf christliche Einrichtungen und Kirchen, haben im kurdisch kontrollierten Teil des Nordiraks nicht stattgefunden. Dementsprechend kann auch nicht von einer Gruppenverfolgung der im kurdisch kontrollierten Teil des Nordiraks ansässigen Christen gesprochen werden.
Im Ergebnis kann daher festgehalten werden, dass irakische Christen, die nicht aus den kurdisch kontrollierten Gebieten des Nordirak stammen (Dohuk, Erbil und Sulaimaniya), einer Gruppenverfolgung als Angehörige der Christen unterliegen (regional begrenzte Gruppenverfolgung).
Aufgrund vorstehender Ausführungen kann daher offen bleiben, ob der Kläger auch im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG aus religiösen Gründen im Irak individuell verfolgt wird bzw. wurde. Es spricht viel dafür, dass aufgrund der derzeitigen Situation im Herkunftsgebiet des Klägers (Provinz Mosul) das religiöse Existenzminimum für Christen nicht gewährleistet ist. Da das Gericht jedoch davon ausgeht, dass irakische Christen, die nicht aus den kurdisch kontrollierten Teilen des Nordiraks stammen, bereits als Angehörige der Gruppe der Christen im Irak politischer Verfolgung unterliegen, kann diese Frage letztlich offen bleiben.
Da der Kläger unstreitig Christ ist und nicht aus den kurdisch kontrollierten Gebieten des Nordiraks, sondern aus * stammt, unterliegt er gemäß den vorgenannten Grundsätzen einer Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure. Fehlerhaft geht der mit der Klage angegriffene Bescheid des Bundesamtes an mehreren Stellen davon aus, dass der Kläger aus der Provinz Dohuk in der Region Irak-Kurdistan stammt. Dies ist jedoch unzutreffend.
Tatsachen, die die Regelvermutung im Falle des Klägers widerlegen könnten, sind nicht ersichtlich. Mangels verwandtschaftlicher Anknüpfungspunkte im kurdisch kontrollierten Teil des Nordiraks besteht für den Kläger auch keine inländische Fluchtalternative. Dementsprechend liegt bei ihm als Mitglied der christlichen Glaubensgemeinschaft die Voraussetzung des § 3 Abs. 1 AsylG vor. Infolge dessen ist der verfahrensgegenständliche Bescheid der Beklagten vom 24. März 2017 in Nr. 1 rechtswidrig und war vom Gericht antragsgemäß aufzuheben. Auf die Frage, ob überdies ein Verfahrensfehler seitens der Beklagten anlässlich der Anhörung des Klägers bzw. von dessen Erziehungsberechtigten vorliegt, kam es daher ebenfalls nicht an. Dem folgend war der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamtes in Nr. 1 der Feststellung, dass für den Kläger die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 AsylG nicht gegeben sind, aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Da die Klage nach allem bereits im Hauptantrag erfolgreich ist, bedarf es keiner Entscheidung mehr über den Hilfsantrag des Klägers hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG) (§ 31 Abs. 3 Satz 2 AsylG in entsprechender Anwendung).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Als im Verfahren unterlegen hat die Beklagte die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO.