Aktenzeichen Au 6 K 17.32980
Leitsatz
1. Es hängt vom konkreten Einzelfall ab, ob eine Zwangsrekrutierung Minderjähriger, die grundsätzlich eine gegen Kinder gerichtete Verfolgungshandlung darstellen kann, eine Verfolgung auf Grund eines Verfolgungsmerkmals darstellt und in einem Verfolgungszusammenhang steht. (Rn. 19 – 21) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein volljähriger, alleinstehender und arbeitsfähiger Mann, der mit den Lebensverhältnissen in Afghanistan vertraut ist, kann seinen Lebensunterhalt in Kabul sicherstellen. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Auf die Klage hin wird Ziffer 4 des angefochtenen Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 8. Mai 2017 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet festzustellen, dass für den Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegt.
Ziffern 5 und 6 dieses Bescheids werden aufgehoben, soweit sie dieser Verpflichtung entgegenstehen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kläger hat zwei Drittel, die Beklagte ein Drittel der Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch den jeweiligen Vollstreckungsgläubiger durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Die zulässige Klage ist teilweise begründet, denn der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) zwar keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder auf die Gewährung subsidiären Schutzes, aber einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der angefochtene Bescheid vom 8. Mai 2017 ist im tenorierten Umfang rechtswidrig und verletzt insoweit den Kläger in dessen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 VwGO). Es wird hinsichtlich der Begründung zu § 3 AsylG und zu § 4 AsylG Bezug genommen auf die Gründe des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine Verfolgung i. S. des § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationale Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten. Die Gefahr einer derartigen Verfolgung bei seiner Rückkehr nach Afghanistan hat der Kläger nicht glaubhaft gemacht.
a) Es ist Sache des Schutzsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
b) Der Kläger konnte mit seinem individuellen Vortrag nicht glaubhaft machen, dass ihm in Afghanistan eine flüchtlingsrelevante Verfolgung droht.
Soweit der Kläger sich auf die Ermordung seines Vaters und seines älteren Bruders beruft, die von Taliban ermordet worden seien, weil sie auch Mädchen unterrichtet bzw. ihnen Nachhilfe erteilt hätten, mag dies eine Verfolgung dieser beiden älteren Männer der Familie wegen deren politischer Überzeugung gleicher Bildungschancen für Jungen und Mädchen sein, die jedoch auf den Kläger als wesentlich jüngeren Jungen ohne für eine Wissensvermittlung erforderliche Bildung nicht übertragbar ist. Die vor dem Bundesamt geschilderten Verfolgungshandlungen waren auch nicht auf den Kläger persönlich, sondern auf jene beiden Männer gerichtet. Zwar bejahte der Kläger, die Taliban hätten gesagt, wenn der Vater und der Sohn so handelten, würden es die anderen Söhne auch so machen. Wenn viele Leute z. B. Mädchen unterrichteten, hätten die Taliban bald weniger Macht. Es sollte für niemanden eine Entwicklung möglich sein, die ihren Vorstellungen widerspreche (Anhörungsprotokoll BAMF-Akte Bl. 34). Doch ist aus seinem Vortrag beim Bundesamt nicht nachvollziehbar, wann und weshalb die Taliban dies einem deutlich Minderjährigen gesagt haben sollen, von dem für sie mangels Bildungsstand gerade nicht die Gefahr ausging, in die Fußstapfen seines Vaters oder seines älteren Bruders zu treten. Mag der Kläger auch die o.g. innere Überzeugung heute als fast Erwachsener teilen, so ist doch nicht plausibel, weshalb die Taliban ausgerechnet einen mutmaßlich oppositionell eingestellten Afghanen in ihre Reihen oder gar zum Djihad zwingen sollten, auf dessen Loyalität sie sich gerade nicht verlassen können. Ein Verfolgungsmerkmal der politischen Überzeugung ist daher nicht glaubhaft gemacht im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 AsylG.
Soweit der Kläger und sein Bruder (als Kläger im Parallelverfahren Au 6 K 17.32981) – untereinander inhaltlich übereinstimmend – in der mündlichen Verhandlung eine Folterung durch die Taliban 40 Tage plus eine Woche nach der Ermordung ihres ältesten Bruders angegeben haben (Niederschrift vom 12.12.2017, S. 3 f.), handelt es sich um eine wesentliche Steigerung ihres Vorbringens, die schon deswegen nicht überzeugend ist, weil sie beim Bundesamt nicht erwähnt worden ist. Dort gab der Kläger an (BAMF-Akte Bl. 34): „Wenn wir das Land nicht verlassen hätten, hätten die Taliban uns auch noch getötet. Einmal wurden wir bedroht. Dabei haben die Taliban meinem Bruder die Finger gebrochen.“ Auf Frage: Bist Du selber ernsthaft bedroht worden? gab er an: „Ich selber wurde bedroht und geschlagen. Die Taliban sagten, dass wir mit ihnen arbeiten sollen, sonst würden wir getötet werden wie mein Vater und mein Bruder.“ Auf Frage: Wie oft waren die Bedrohung, gab er an: Die Bedrohungen waren nicht nur einmal und dann im nächsten Monat wieder, sondern wöchentlich.“ Trotz dieser detaillierten Nachfragen und der Anwesenheit des Amtsvormundes, der sich auch zu Wort meldete, erwähnte der Kläger die Folterung mit Schlägen auf die Fußsohlen nicht. Auf Nachfrage des Einzelrichters in der mündlichen Verhandlung, warum er diesen Vorfall nicht schon beim Bundesamt geschildert habe, erklärt der Kläger, er sei bei der Anhörung nicht danach gefragt worden (Niederschrift vom 12.12.2017, S. 4). Das überzeugt nicht angesichts seiner detaillierten Angaben zu anderen Teilen seiner Biografie und knüpft nicht glaubhaft an ein Verfolgungsmerkmal der politischen Überzeugung an. Übrigens erwähnte auch sein Bruder in dessen getrennter Befragung durch das Bundesamt den Vorfall nicht. Soweit aus dem gesteigerten Vortrag ersichtlich – seine Richtigkeit unterstellt –, wollten die Taliban den Kläger und seinen Bruder eher in ihrem Sinne koranisch indoktrinieren denn als oppositionell Denkenden eliminieren wie seinen Vater und seinen ältesten Bruder, die – anders als der Kläger – einen höheren und sie zum Unterrichten befähigenden Bildungsstand gehabt haben sollen, während der Kläger zum Geldverdienen für die in Not geratene Familie gerade die Schule verlassen musste (BAMF-Akte Bl. 33) und keine Chance auf weiterführende Bildung mehr hatte. Abgesehen von der fehlenden Glaubhaftigkeit ist daher auch kein Merkmal im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 AsylG betroffen.
Anknüpfungspunkt für einen etwaigen Flüchtlingsschutz kann daher im Fall des Klägers allein seine zunächst behauptete drohende Zwangsrekrutierung durch Taliban sein. Es fehlt nach Überzeugung des Verwaltungsgerichts hier allerdings zum Einen die sachliche Grundlage im Vorbringen, denn nach seinen Einlassungen in der mündlichen Verhandlung – ihre Richtigkeit unterstellt – wurde der Kläger von Taliban zum Koranunterricht in die Moschee gezwungen, aber nicht zu Kampfhandlungen i.w.S.; zum Anderen fehlt seinem Vorbringen beim Bundesamt die nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung zwischen der in § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG genannten Verfolgungshandlung – Zwangsrekrutierung – und einem Verfolgungsgrund auf Grund eines unveränderlichen Merkmals bzw. einer deutlich abgegrenzten Gruppenidentität im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 oder Nr. 5 AsylG: Zur Flüchtlingsrelevanz einer drohenden Zwangsrekrutierung hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH, U.v. 23.3.2017 – 13a B 17.30011 – juris Rn. 32 ff.) ausgeführt, aus den Erkenntnismitteln lasse sich nicht der Schluss ziehen, die zwangsweise Rekrutierung Minderjähriger sei in Afghanistan derart weit verbreitet, dass es sich um eine Verfolgung der sozialen Gruppe der minderjährigen afghanischen Staatsangehörigen im Sinn einer Gruppenverfolgung handele, außer je nach den spezifischen Umständen des Einzelfalls liege eine individuelle Verfolgung vor, was eine Plausibilität des klägerischen Vortrags voraussetze (BayVGH a.a.O. Rn. 33, 37 ff.). Ein Anknüpfungsmerkmal für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinn eines Verfolgungsgrundes Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe wird dabei im Merkmal „Kinder“ im Sinn von § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG und damit in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinn von § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gesehen (BayVGH a.a.O. Rn. 37 ff.). Dies überzeugt jedoch nicht: Zum Einen stellen Kinder gerade keine eigene sozialen Gruppe der minderjährigen afghanischen Staatsangehörigen dar (so auch BayVGH a.a.O. Rn. 32), da sie weder durch ein unveränderliches Merkmal miteinander verbunden sind – ihre Minderjährigkeit entfällt mit Vollendung des 18. Lebensjahrs wie auch hier beim Kläger, der am 5. Mai 2018 volljährig wird –, zum Anderen hätte eine sozialen Gruppe der minderjährigen afghanischen Staatsangehörigen auch keine deutlich abgegrenzte Identität, denn sie sind schlicht Teil ihrer Familien, Stämme und Volksgruppen. Auch ein Verfolgungsmerkmal der politischen Überzeugung ist hier nicht glaubhaft gemacht im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 AsylG (vgl. soeben).
Dass eine Zwangsrekrutierung Minderjähriger grundsätzlich eine gegen Kinder gerichtete Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG sein kann (BayVGH a.a.O. Rn. 41 unter Verweis auf die unverbindliche Einschätzung des UNHCR), ist nicht ausgeschlossen. Aber ob sie im konkreten Einzelfall auch eine Verfolgung auf Grund eines Verfolgungsmerkmals darstellt und in einem Verfolgungszusammenhang steht, hängt vom Einzelfall ab. Vorliegend jedenfalls fehlen nach Überzeugung des Verwaltungsgerichts der erforderliche Verfolgungsgrund und der Verfolgungszusammenhang.
Schließlich kann nicht aus einem etwaigen Rekrutierungsversuch als Minderjähriger auf eine im Fall der Rückkehr vorliegende Gefahr eines erneuten Rekrutierungsversuchs geschlossen werden, wenn ein Afghane – wie hier der Kläger – im derzeit entscheidungserheblichen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 2 AsylG) zwar noch minderjährig ist, dieses Merkmal aber zwangsläufig bis zu einer etwaigen Rückführung verlieren wird, weil er bis zum Eintritt seiner Volljährigkeit ohnehin als unbegleiteter Minderjähriger von einem Abschiebungsverbot (§ 58 Abs. 1a AufenthG) geschützt ist, so dass bis dahin eine Rückführung ausgeschlossen ist. Es liegt insofern gerade kein unveränderliches Merkmal vor.
2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes i.S. des § 4 Abs. 1 AsylG. Er hat keine stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihm bei einer Rückkehr nach Afghanistan ein ernsthafter Schaden i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 AsylG droht.
a) Der Kläger hat eine ernsthafte Bedrohung durch Dritte, die dem afghanischen Staat zurechenbar wäre, so sie eine Gefährdungslage i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG begründen würde, nicht glaubhaft gemacht (vgl. oben).
b) Auch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegen nicht vor. Dem Kläger droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan nach derzeitigem Kenntnisstand des Gerichts keine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
Die Frage, ob die in Afghanistan oder Teilen von Afghanistan stattfindenden gewalttätigen Auseinandersetzungen nach Intensität und Größenordnung als vereinzelt auftretende Gewalttaten i.S. von Art. 1 Nr. 2 des Zusatzprotokolls vom 8. Juni 1977 zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte (BGBl. 1990 II S. 1637) – ZP II – oder aber als anhaltende Kampfhandlungen bewaffneter Gruppen im Sinne von Art. 1 Nr. 1 ZP II zu qualifizieren sind, kann dahinstehen, weil nach der Überzeugung des Gerichts der Kläger keiner erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt wäre. Denn es fehlt vorliegend an einer Verdichtung allgemeiner Gefahren, die weitere Voraussetzung für die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ist.
Eine Verdichtung allgemeiner Gefahren ist in der Heimatprovinz des Klägers in … nicht anzunehmen. Ausgehend von einer Bevölkerungszahl von über 910.000 Menschen in der Heimatprovinz … (EASO Country of Origin Information Report, Afghanistan, Security Situation, November 2016, S. 120, https://www…europa.eu/s…pdf) und einer Opferzahl von 105 Personen im ersten Halbjahr (UNAMA, Midyear Report vom Juli 2017, S. 73, https://unama.unmissions.org/sites/default/files/protection_of_civilians_in_armed_conflict_midyear_report_2017_july_2017.pdf) sind selbst bei Verdoppelung der Opferzahl (als Hochrechnung auf den Zeitraum eines ganzen Jahres) weder die Anforderungen der Rechtsprechung an einen bewaffneten innerstaatlichen Konflikt erfüllt (vgl. BayVGH, B.v. 17.8.2016 – 13a ZB 16.30090 – Rn. 10 m.w.N.; BayVGH, B.v. 25.1.2017 – 13a ZB 16.30374 – Rn. 11), noch ist ein im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes (vgl. BVerwG, U. v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 – juris) entsprechend hohes Risiko, Opfer willkürlicher Gewalt zu werden, gegeben. Für … teilt UNAMA im Halbjahresbericht 2017 (a.a.O. S. 73) mit, dass dort 30 Zivilisten getötet und 75 verletzt worden seien sowie sich die Opferzahl gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 36% verringert habe. Damit ist das Risiko, dort durch Anschläge Schaden an Leib oder Leben zu erleiden, noch weit unterhalb der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.
Es spricht vorliegend auch nichts dafür, dass der Kläger sich sonst derart exponiert hat, dass er landesweit eine Verfolgung befürchten müsste. Dies ergibt sich zum Einen aus seiner eigenen Verfolgungsgeschichte, die keine glaubwürdigen konkret-individuellen Bedrohungen seiner Person in Afghanistan aufweist (vgl. oben), zum Anderen daraus, dass er nicht in den Konflikt verwickelt gewesen ist. Individuelle, gefahrerhöhende Umstände, die zu einer Verdichtung der allgemeinen Gefahren im Rahmen eines bewaffneten internationalen Konflikts in der Person des Klägers führen, hat dieser nicht vorgetragen, sondern die behauptete Zwangsanwendung durch Taliban im Zusammenhang mit Indoktrinierungs-, nicht aber mit Rekrutierungsversuchen geschildert.
3. Dem Kläger steht derzeit (§ 77 Abs. 2 Satz 1 AsylG) aber jedenfalls wegen seiner Minderjährigkeit ein Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu.
a) Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK setzt voraus, dass der Betroffene im Falle einer Rückkehr einer besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt wäre. Dies wäre bei dem Kläger derzeit noch der Fall, wenn er als noch Minderjähriger nach Afghanistan zurückkehren müsste.
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Dies ist insbesondere auch dann der Fall, wenn es dem Betroffenen nicht (mehr) gelingen würde, seine elementaren Bedürfnisse, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – Asylmagazin 2015, 197) und die aus zu erwartenden schwierigen Lebensbedingungen resultierenden Gefährdungen im Einzelfall eine solche Intensität aufweisen, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist.
Gemessen hieran liegen diese besonders strengen Voraussetzungen vor. Der noch minderjährige und psychisch kranke, noch in einer Jugendhilfeeinrichtung lebende Kläger würde im Fall seiner Abschiebung nach Afghanistan einer besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt sein, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass seine elementarsten Bedürfnisse im Sinne eines absoluten Existenzminimums nicht mehr gesichert wären.
Das Gericht geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass ein alleinstehender Mann seinen Lebensunterhalt in Kabul sicherstellen kann (vgl. hierzu auch BayVGH, B.v. 14.1.2015 – 13a ZB 14.30410 – juris Rn. 5), wenn er volljährig, arbeitsfähig und mit den Lebensverhältnissen in Afghanistan vertraut ist, wobei maßgeblich nicht einmal ein Vertrautsein erforderlich ist, sondern es für einen Rückkehrer genügt, wenn er den größten Teil seines Lebens in einer islamisch geprägten Umgebung verbracht hat und eine der beiden Landessprachen spricht (BayVGH, B.v. 13.12.2016 – 13a ZB 16.30116 – Rn. 4). Daran fehlt es beim Kläger insofern, als er noch nicht volljährig und daher derzeit besonders schutzbedürftig ist (vgl. BayVGH, U.v. 23.3.2017 – 13a B 17.30011 – juris Rn. 44 ff.). Möglicherweise ist er auch psychisch gemindert belastbar (vgl. die nicht fachärztliche psychotherapeutische Stellungnahme von Dipl.-Psychologin … vom 17.2.2017, Behördenakte des BAMF Bl. 37 ff.). Insgesamt ist er voraussichtlich außer Stande, ohne Hilfe Erwachsener sich in der für ihn fremden Umgebung von Kabul als möglichem Rückführungsziel zurechtzufinden und seine elementarsten Bedürfnisse im Sinne eines absoluten Existenzminimums noch zu sichern. An dieser Bewertung ändert die Tatsache nichts, dass er eine Ausbildung als Maler begonnen hat und lernfähig ist, da die Ausbildung zum Einen noch nicht abgeschlossen ist und zum Anderen aus der beschützenden und Tagesstruktur bietenden Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung (Wohngruppe) heraus betrieben wird. Der Kläger ist aufgrund seiner individuellen Disposition derzeit besonders schutzbedürftig.
b) Ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (vgl. BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – BVerwGE 140, 319 Rn. 16 und 17). Es kann daher dahingestellt bleiben, ob die bisher vorliegenden Atteste bereits ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 und Satz 2 AufenthG wegen einer zielstaatsbezogenen erheblichen konkreten Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen, die eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung voraussetzt, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, rechtfertigen.
4. Die Gewährung von Abschiebungsschutz hat zur Folge, dass auch die entsprechende Abschiebungsandrohung in Ziffer 5 (§ 34 Abs. 1 AsylG) sowie das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot in Ziffer 6 des streitgegenständlichen Bescheids (§ 11 Abs. 1 AufenthG) derzeit aufzuheben waren.
5. Kosten: § 155 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83b AsylG; vorläufige Vollstreckbarkeit: § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. der Zivilprozessordnung (ZPO).