Aktenzeichen W 1 K 16.31332
EMRK Art. 3
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1, Abs. 5 S. 1
VwVfG § 49 Abs. 1, § 51 Abs. 1, Abs. 3, Abs. 5
Leitsatz
1 Der Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung nach § 49 Abs. 1 VwVfG verdichtet sich zu einem Rechtsanspruch auf ein Wiederaufgreifen des Verfahrens (und sodann auch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbotes) und erlaubt eine abschließende gerichtliche Entscheidung zugunsten des Klägers, wenn ein Festhalten an der bestandskräftigen Entscheidung zu § 60 Abs. 5 AufenthG zu einem schlechthin unerträglich Ergebnis führen würde und damit das Ermessen auf Null reduziert ist. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
2 Leidet der Kläger unter den Auswirkungen seiner Erkrankung und hierbei insbesondere unter einer ausgeprägten Antriebslosigkeit sowie verminderter Konzentrationsfähigkeit, ist nicht davon auszugehen, dass er bei den äußerst schwierigen Bedingungen des afghanischen Arbeitsmarktes in dem harten Verdrängungswettbewerb um die wenigen und häufig körperlich anstrengenden Hilfsarbeiten, die allein für den Kläger infrage kommen, mit der enormen Zahl der uneingeschränkt gesunden und leistungsfähigen jungen Männer bestehen kann. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
3 Einzelfall, in dem das Gericht davon überzeugt ist, dass der Kläger die erforderliche Behandlung, welche die Auswirkungen seiner Erkrankung abmildert, in Afghanistan nicht wird finanzieren können, falls diese dort überhaupt erhältlich sein sollte. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 1. August 2016 verpflichtet festzustellen, dass bei dem Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegt.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
Die Klage, über die trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung entschieden werden konnte (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist zulässig und begründet. Der Bescheid des Bundesamtes vom 1. August 2016 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) einen Anspruch auf ein Wiederaufgreifen des Verfahrens und die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG, § 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Der Kläger hat zunächst keinen Anspruch aus § 51 Abs. 1 VwVfG auf ein Wiederaufgreifen des durch rechtskräftiges Urteil vom 26. September 2012 abgeschlossenen Verfahrens hinsichtlich des Nichtvorliegens von Abschiebungsverboten, da ein Wiederaufgreifensantrag nach § 51 Abs. 3 VwVfG binnen drei Monaten gestellt werden muss, diese Frist jedoch versäumt wurde. Die Frist beginnt hierbei mit dem Tage, an dem der Betroffene von dem Grund für das Wiederaufgreifen Kenntnis erlangt hat. Erforderlich, aber auch ausreichend ist die positive Kenntnis aller insoweit maßgeblichen Tatsachen, nicht dagegen deren zutreffende rechtliche Einordnung (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 17. Aufl., § 51 Rn. 47). Dem Kläger waren nach seinen stationären Aufenthalten im Universitätsklinikum Würzburg sowie im Bezirksklinikum Lohr, die bis zum 19. Februar 2013 angedauert haben, spätestens durch den ausführlichen Arztbrief vom 8. März 2013, der dem Kläger u.a. eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostizierte, alle erforderlichen Tatsachen für das Vorliegen eines Wiederaufnahmegrundes bekannt, sodass eine Antragstellung am 10. Juli 2013 jedenfalls nicht mehr innerhalb der Drei-Monatsfrist erfolgt ist.
Der Kläger hat jedoch einen Anspruch auf Abänderung des ablehnenden Bescheides nach § 51 Abs. 5 VwVfG i.V.m. § 49 Abs. 1 VwVfG hinsichtlich der Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG (vgl. hierzu: BVerwG, U.v. 21.3.2000 – 9 C 41/99 – juris). Der Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung nach § 49 Abs. 1 VwVfG verdichtet sich zu einem Rechtsanspruch auf ein Wiederaufgreifen des Verfahrens (und sodann auch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbotes) und erlaubt eine abschließende gerichtliche Entscheidung zugunsten des Klägers, wenn ein Festhalten an der bestandskräftigen Entscheidung zu § 60 Abs. 5 AufenthG zu einem schlechthin unerträglich Ergebnis führen würde und damit das Ermessen auf Null reduziert ist. Dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn der Ausländer im Falle einer Abschiebung einer extremen individuellen Gefahrensituation ausgesetzt wäre (vgl. BVerwG, U.v. 20.10.2004 – 1 C 15/03 – juris; Funke-Kaiser, GK AsylG, § 71 AsylG Rn. 349 ff.). So liegt der Fall hier, da der Kläger nach Überzeugung des Gerichts aufgrund seiner individuellen Situation, insbesondere aufgrund der zwischenzeitlich bei ihm eingetretenen schwerwiegenden psychischen Erkrankung in Kombination mit den außerordentlich schwierigen allgemeinen Verhältnissen in Afghanistan, bei seiner Rückkehr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wäre, § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK.
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unzulässig ist. Einschlägig ist hier Art. 3 EMRK, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf. Das wäre beim Kläger der Fall, wenn er nach Afghanistan zurückkehren müsste. Der Kläger muss befürchten, aufgrund der dortigen Lage unter Berücksichtigung seiner individuellen Situation einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Zwar macht der Kläger nicht geltend, dass ihm näher spezifizierte, konkrete Maßnahmen drohen würden, sondern beruft sich auf die allgemein schlechte Lage in seinem Heimatland. Die zu erwartenden schlechten Lebensbedingungen und die daraus resultierenden Gefährdungen weisen im vorliegenden Einzelfall jedoch eine Intensität auf, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist (vgl. etwa BayVGH, U.v. 23.3.2017 – 13a B 17.30030 – juris; U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30284, B.v. 11.01.2017 – 13a ZB 16.30878).
Der Schutzbereich des § 60 Abs. 5 AufenthG ist auch bei einer allgemeinen, auf eine Bevölkerungsgruppe bezogenen Gefahrenlage eröffnet (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris; BayVGH v. 21.11.2014, a.a.O., juris Rn. 16 ff.). Es ist hierbei in Bezug auf den Gefährdungsgrad das Vorliegen eines sehr hohen Niveaus erforderlich, denn nur dann liegt ein außergewöhnlicher Fall vor, in dem die humanitären Gründe gegen eine Ausweisung „zwingend“ sind. Wenn das Bundesverwaltungsgericht (a.a.O.) die allgemeine Lage in Afghanistan nicht als so ernst einstuft, dass ohne weiteres eine Verletzung des Art. 3 EMRK angenommen werden könne, weist dies ebenfalls auf die Notwendigkeit einer besonderen Ausnahmesituation hin (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014, a.a.O. Rn. 19). Eine solche ist jedoch bei dem Kläger gegeben.
Die aktuelle Lage in Afghanistan und in der Hauptstadt Kabul stellen sich wie folgt dar:
Das Auswärtige Amt führt in seinem Lagebericht vom 19. Oktober 2016 (a.a.O. S. 21 ff.) aus, dass Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt sei und trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der Regierung und kontinuierlicher Fortschritte im Jahr 2015 lediglich Rang 171 von 187 im Human Development Index belegt habe. Die afghanische Wirtschaft ringe in der Übergangsphase nach Beendigung des NATO-Kampfeinsatzes zum Jahresende 2014 nicht nur mit der schwierigen Sicherheitslage, sondern auch mit sinkenden internationalen Investitionen und der stark schrumpfenden Nachfrage durch den Rückgang internationaler Truppen um etwa 90%. So seien ausländische Investitionen in der ersten Jahreshälfte 2015 bereits um 30% zurückgegangen, zumal sich die Rahmenbedingungen für Investoren in den vergangenen Jahren kaum verbessert hätten. Die wirtschaftliche Entwicklung bleibe durch die schwache Investitionstätigkeit geprägt. Ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum scheine kurzfristig nicht in Sicht. Rund 36% der Bevölkerung lebe unterhalb der Armutsgrenze. Die Grundversorgung sei für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, was für Rückkehrer naturgemäß verstärkt gelte. Dabei bestehe ein eklatantes Gefälle zwischen urbanen Zentren wie z.B. Kabul und ländlichen Gebieten Afghanistans. Das rapide Bevölkerungswachstum stelle eine weitere Herausforderung für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes dar. Zwischen den Jahren 2012 und 2015 werde das Bevölkerungswachstum auf rund 2,4% pro Jahr geschätzt, was in etwa einer Verdoppelung der Bevölkerung innerhalb einer Generation gleichkomme. Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibe eine zentrale Herausforderung. Nach Angaben des afghanischen Statistikamtes sei die Arbeitslosenquote im Oktober 2015 auf 40% gestiegen. Die internationale Gemeinschaft unterstütze die afghanische Regierung maßgeblich in ihren Bemühungen, die Lebensbedingungen der Menschen in Afghanistan zu verbessern. Aufgrund kultureller Bedingungen seien die Aufnahme und die Chancen außerhalb des eigenen Familien- bzw. Stammesverbandes vor allem in größeren Städten realistisch.
Aus der Lagebeurteilung des Auswärtigen Amtes für Afghanistan vom 28. Juli 2017 ergibt sich insoweit nichts grundlegend Abweichendes: In fast allen Regionen werde von der Bevölkerung die Arbeitslosigkeit als das größte Problem genannt. Die Zahl der neu hinzugekommenen Binnenvertriebenen sei im ersten Halbjahr 2017 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um fast 25% gesunken. Die afghanische Regierung habe unter Beteiligung der internationalen Geberschaft sowie internationaler Organisationen mit der Schaffung einer Koordinierungseinheit zur Reintegration der Binnenflüchtlinge und Rückkehrer reagiert. Ein Großteil der internationalen Geberschaft habe zu-dem beschlossen, die Finanzmittel für humanitäre Hilfe im Rahmen eines Hilfsappells des UN-Koordinierungsbüros für humanitäre Angelegenheit OCHA aufzustocken. Trotz internationaler Hilfe übersteige der derzeitige Versorgungsbedarf allerdings das vorhandene Maß an Unterstützungsmaß-nahmen seitens der Regierung.
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (Afghanistan: Update – Die aktuelle Sicherheitslage vom 14. September 2017, Seite 27 ff.) führt aus, dass Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt bleibe, wobei der Anteil der notleidenden Bevölkerung im Verlaufe des Jahres 2016 um 13% angestiegen sei; 2017 benötigten 9,3 Millionen Afghanen dringend humanitäre Hilfe. Die Arbeitslosenquote sei seit dem Abzug der internationalen Streitkräfte rasant angestiegen und inzwischen auch in städtischen Gebieten hoch. Gleichzeitig seien die Löhne in Gebieten, welche von Rückkehrströmen betroffen seien, signifikant gesunken. Nach wie vor seien die meisten Menschen in der Land- und Viehwirtschaft oder als Tagelöhner tätig. Die zunehmenden Rückkehrströme hätten zu einem enormen Anstieg an Unterkunftsbedarf geführt, weshalb sich insbesondere in der Hauptstadt Kabul die Wohnraumsituation extrem verschärft habe. Rund 68% der Bevölkerung hätten keinen Zugang zu adäquaten Sanitätsinstallationen und ca. 45% keinen Zugang zu aufbereitetem Trinkwasser. Rund 40% der Bevölkerung sei von Lebensmittelunsicherheit betroffen. Die Zahl der von ernsthafter Lebensmittelunsicherheit betroffenen Menschen steige an und umfasse inzwischen 1,6 Millionen Personen. In Gebieten, die von hohen Rückkehrströmen betroffen waren, seien die Lebensmittelpreise stark angestiegen. Etwa 9 Millionen Menschen, in besonderem Maße Frauen und Kinder, hätten keinen oder nur beschränkten Zugang zu Gesundheitseinrichtungen, welchen es auch an angemessener Ausstattung mangele. Im Jahr 2016 sei der Druck zur Rückkehr auf afghanische Flüchtlinge im Iran und in Pakistan dramatisch angestiegen; Kabul sowie die Provinzen im Norden, Nordosten und Osten des Landes seien in besonderem Maße betroffen gewesen. Rückkehrende fänden oft keine adäquate Unterkunft; sie lebten oft in notdürftigen Behausungen mit schlechten Sanitäranlagen. Der eingeschränkte Zugang zu Land, Nahrungsmitteln und Trinkwasser und die begrenzten Möglichkeiten zur Existenzsicherung stellten eine enorme Herausforderung für diesen Personenkreis dar. Aufgrund der äußerst schwierigen Lebensbedingungen würden Rückkehrende oft zu intern Vertriebenen, deren Zahl Ende 2016 auf etwa 1,4 Millionen Menschen geschätzt worden sei und deren Lage sich in den vergangenen Jahren massiv verschlechtert habe. Auch für Flüchtlinge aus Europa gestalte sich eine Rückkehr schwierig. Die Bevölkerung Kabuls solle sich binnen nur sechs Jahren verdreifacht haben. Dort lebten etwa 75% der Bevölkerung in informellen und behelfsmäßigen Behausungen, die oft weder ans Wasserversorgungsnetz noch an die Kanalisation angeschlossen seien. Der Zugang zu Lebensmitteln habe sich rasant verschlechtert, was unter anderem auf die mangelnden Arbeitsmöglichkeiten zurückzuführen sei. Armut sei weit verbreitet. Beinahe die Hälfte der Bevölkerung Kabuls könne sich keine medizinische Behandlung leisten. Die große Zahl der Rückkehrenden und intern Vertriebenen führe zur Überlastung der bereits äußerst stark beanspruchten Infrastruktur zur Erbringung der Grunddienstleistungen in der Hauptstadt Kabul aber auch andernorts, insbesondere in den wichtigsten Provinzstädten und Bezirken.
Dies zugrunde gelegt steht einer Rückführung des Klägers nach Afghanistan ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG entgegen, auch wenn die obergerichtliche Rechtsprechung im Regelfall davon ausgeht, dass für alleinstehende, gesunde, arbeitsfähige junge Männer bei einer Rückkehr nach Afghanistan kein Abschiebungsverbot festzustellen ist (vgl. etwa BayVGH, B.v. 4.8.2017 – 13a ZB 17.30791 – juris). Denn abweichend von den Verhältnissen im Regelfall befindet sich der hiesige Kläger nach Überzeugung des Gerichts in einer besonderen Ausnahmesituation; insbesondere leidet der Kläger vorliegend an einer schwerwiegenden behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung, die eine Abschiebung entgegensteht.
Die besondere Situation des Klägers ist vorliegend zunächst dadurch gekennzeichnet, dass er insoweit glaubhaft bereits in seinem Asylerstverfahren vorgetragen hat, dass er in Afghanistan nur zwei Jahre lang die Schule besucht hat. Dies hat er im hiesigen Verfahren bestätigt und erläuternd ausgeführt, dass er auch in diesen beiden Jahren häufig nicht beim Unterricht anwesend gewesen sei, unter anderem wegen seiner Fußverletzung durch einen Granatensplitter. Er könne daher in seiner Muttersprache Dari nicht Schreiben nur ein kleines bisschen Lesen. Damit ist davon auszugehen, dass es sich bei dem Kläger praktisch um einen Analphabeten handelt. Der Kläger verfügt darüber hinaus auch nicht über besondere berufliche Fähigkeiten, nachdem er in Afghanistan keinen Beruf erlernt hat, sondern lediglich in der Landwirtschaft mitgearbeitet hat. In Deutschland absolviert der Kläger derzeit eine Berufsausbildung als Dachdecker, die er jedoch noch nicht abgeschlossen hat. Das Gericht ist überdies davon überzeugt, dass diese relativ einfache Tätigkeit dem Kläger in Afghanistan keine relevanten Erwerbsvorteile auf dem Arbeitsmarkt wird schaffen können. Der Kläger hat sein Heimatland bereits vor rund zehn Jahren im Alter von etwa 14 Jahren verlassen, so dass er die schwierigen negativen Entwicklungen in Afghanistan in den letzten Jahren und die derzeit herrschenden gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht kennt. Auch hat er aufgrund seines jungen Alters bei Verlassen des Heimatlandes niemals gelernt, in Afghanistan auf eigenen Füßen zu stehen und dort für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Das Gericht ist zudem davon überzeugt, dass der Kläger bei einer Rückkehr in sein Heimatland für eine Wiedereingliederung in die dortige Gesellschaft und insbesondere in das dortige Arbeitsleben nicht auf die Unterstützung seiner Familie zurückgreifen kann, da er insoweit glaubhaft und angesichts der in Afghanistan herrschenden massiven Sicherheitsprobleme auch plausibel erklärt hat, dass– im Gegensatz zur Situation bei seinem Asylerstverfahren – mittlerweile seine gesamte verbliebene Kernfamilie das Land ebenfalls verlassen habe und nunmehr im Iran ansässig sei. Hintergrund sei gewesen, dass seine Mutter eine Arbeit bei einem örtlichen (staatlichen) Kommandanten angenommen habe, dem sie Informationen über die örtlichen Taliban weitergegeben habe. Hiervon hätten die Taliban Kenntnis erlangt und in der Folge die Familie ins Visier ihrer Verfolgung genommen. Dies erscheint dem Gericht auch angesichts der aktuellen Erkenntnismittellage glaubhaft. Darüber hinaus sei ein Onkel Beamter gewesen, welcher bei einem Anschlag der Taliban ums Leben gekommen sei. Zu diesem und seinen Cousins habe er jedoch auch keinen Kontakt, was insbesondere auch in Anbetracht der langjährigen Abwesenheit aus Afghanistan nachvollziehbar ist. Vor diesem Hintergrund ist nach Überzeugung des Gerichts nicht zu erwarten, dass der Kläger in Afghanistan finanzielle Unterstützung durch seine Familie erwarten kann, zumal durch die Flucht in den Iran die wirtschaftliche Existenzgrundlage in der Landwirtschaft aufgegeben werden musste.
Über vorstehende Ausführungen hinaus ist vorliegend von entscheidender Bedeutung, dass es sich bei dem Kläger nicht um einen gesunden jungen Mann handelt, bei dem nach überzeugender obergerichtlicher Rechtsprechung ein nationales Abschiebungsverbot nicht infrage kommt, da sich für diese Bevölkerungsgruppe aus den allgemeinen Verhältnissen noch keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung ergibt. Der Kläger leidet demgegenüber jedoch an einer mittelgradigen depressiven Episode (ICD-10: F32.1), was sich in überzeugender Weise aus dem vom Gericht eingeholten psychiatrischen Fachgutachten des Prof. V. vom 21. August 2017 ergibt. Der Gutachter diagnostiziert dabei in jeder Hinsicht nachvollziehbar und widerspruchsfrei die genannte psychische Erkrankung; Aggravations- oder Dissimulationstendenzen schließt er aus. Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde oder Unparteilichkeit des Sachverständigen bestehen nicht. Auch geht die Begutachtung von einem korrekten Sachverhalt aus. Insbesondere hat das Gericht den Gutachter bereits im Gutachtensauftrag auf die rechtskräftig festgestellte Unglaubhaftigkeit des persönlichen Verfolgungsvortrages des Klägers im Asylerstverfahren hingewiesen. Der Gutachter hat sodann ausweislich der korrekt zugrunde gelegten Biografie des Klägers sowie dem erhobenen psychischen Befund (vgl. S. 32 f., 37 f., 42 des Gutachtens) diese Vorkommnisse bei seiner Begutachtung auch nicht berücksichtigt, sondern erlebte allgemeine Kriegshandlungen in Afghanistan, die dort erlittene Granatensplitterverletzung (die durchgängig seit der Einreise des Klägers in die Bundesrepublik erwähnt wird) sowie lebensbedrohliche Ereignisse auf dem Flucht Weg nach Europa. Diese Vorkommnisse erscheinen dem Gericht angesichts der allgemeinen und gerichtsbekannten Verhältnisse in Afghanistan und auf der Fluchtroute nach Europa auch glaubhaft. Dass zur Zeit der Anwesenheit des Klägers in Afghanistan ein bewaffneter innerstaatlicher Konflikt in der Herkunftsprovinz des Klägers, Maydan-Wardak, geherrscht hat, ergibt sich bereits aus dem rechtskräftigen Urteil im Asylerstverfahren (vgl. dort S. 19). Der Annahme einer mittelgradig depressiven Episode steht nach der überzeugenden Einschätzung des Gutachters ausdrücklich auch nicht entgegen, dass diese Erkrankung erstmals im Jahre 2013 und somit längere Zeit nach der Einreise des Klägers erstmals diagnostiziert wurde. Ebenso verhält es sich mit der aktuell ausgeübten handwerklichen Tätigkeit (vgl. S. 55 des Gutachtens). Die Beklagte ist dem Ergebnis des Gutachtens überdies auch nicht entgegengetreten. Auch aus der mündlichen Verhandlung hat der erkennende Einzelrichter den Eindruck gewonnen, dass der Kläger sehr bedrückt ist und unter erheblichen psychischen Beeinträchtigungen leidet.
Ohne dass es hier entscheidungserheblich darauf ankäme, ist festzustellen, dass der Kläger nicht an einer posttraumatische Belastungsstörung sowie einer schweren depressiven Episode leidet. Zwar werden diese Erkrankungen privatärztlich, letztmalig am 29. November 2017 durch Frau Dr. B., diagnostiziert; der gerichtlich bestellte Gutachter erläutert jedoch umfangreich und nachvollziehbar, dass diese Erkrankungen nicht vorliegen, da hinsichtlich der posttraumatischen Belastungsstörung der erforderliche enge zeitliche Zusammenhang zwischen den dramatischen Lebensereignissen und dem Beginn der Symptomatik eindeutig nicht gegeben ist (vgl. Gutachten S. 43 ff.) bzw. die schwere Ausprägung einer depressiven Episode im Ergebnis nicht festgestellt werden kann (vgl. S. 52 f.; zur Auseinandersetzung mit den vorliegenden privatärztlichen Gutachten vgl. S. 53 f.).
Des Weiteren ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger aufgrund seiner Erkrankung (zunächst ohne zeitliche Beschränkung) dringend einer adäquaten Behandlung bedarf. Der Gutachter führt hierzu überzeugend aus, dass der Kläger mindestens eine suffiziente medikamentöse Therapie, z.B. mit Venlafaxin, unter Überwachung der Konzentration des Medikamentes im Blutplasma erhalten müsse. Alternativ könne auch eine Psychotherapie oder eine Kombination beider Verfahren durchgeführt werden. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger in diesem Zusammenhang auch glaubhaft versichert, dass er früher ein Medikament eingenommen habe, das ihn sehr müde gemacht habe. Nun habe er von Frau Dr. B. ein neues Medikament namens Sertralin erhalten. Er nehme dieses nun regelmäßig ein, lediglich ab und zu vergesse er es einmal. Wenn ihm dies passiere, dann gehe es ihm sehr schlecht; das Medikament beruhige ihn.
In Anbetracht dieser behandlungsbedürftigen Erkrankung ist nicht davon auszugehen, dass es dem Kläger in Afghanistan gelingen wird, seinen Lebensunterhalt sicherzustellen. Denn wenn er das zur Behandlung seiner Erkrankung dringend erforderliche Medikament nicht einnimmt, hat dies entsprechend der glaubhaften Einvernahme des Klägers in der mündlichen Verhandlung zur Folge, dass es ihm dann sehr schlecht geht. Dies erscheint vor dem Hintergrund der Art und Schwere der Erkrankung und der gutachterlich bestätigten Notwendigkeit der Medikamenteneinnahme auch in jeder Hinsicht plausibel. Zudem wird in dem Gutachten nachvollziehbar ausgeführt, dass sich bei einer fehlenden Behandlung wahrscheinlich eine Verschlechterung der Erkrankung einstellen wird, wobei im Rahmen einer Depression immer auch eine lebensbedrohliche Suizidalität entstehen könne.
Unter diesen Umständen ist nicht davon auszugehen, dass der Kläger bei den äußerst schwierigen Bedingungen des afghanischen Arbeitsmarktes in dem harten Verdrängungswettbewerb um die wenigen und häufig körperlich anstrengenden Hilfsarbeiten, die allein für den Kläger infrage kommen, mit der enormen Zahl der uneingeschränkt gesunden und leistungsfähigen jungen Männer bestehen kann, wenn er unter den Auswirkungen seiner Erkrankung und hierbei insbesondere unter einer ausgeprägten Antriebslosigkeit sowie verminderter Konzentrationsfähigkeit leidet (vgl. S. 41 des Gutachtens). Diese Einschränkungen haben bereits in der Vergangenheit im Rahmen seiner Ausbildung in Deutschland zu Beschwerden seines Chefs und einer Kündigungsandrohung geführt, da er müde und schwach sei (vgl. Niederschrift S. 2, Gutachten S. 35). Auch der Gutachter bestätigt, dass die berufliche Belastbarkeit des Klägers aufgrund der Depression eingeschränkt ist und er seiner Tätigkeit nur mit größeren Anstrengungen und Schwierigkeiten nachkommen kann (vgl. S. 56 des Gutachtens). Das Gericht ist davon überzeugt, dass sich diese bereits in Deutschland manifestierten Probleme im Zusammenhang mit der beruflichen Belastbarkeit in Afghanistan unter den dort herrschenden äußerst prekären allgemeinen Lebensverhältnissen und den erheblich schwierigeren Bedingungen am Arbeitsmarkt potenzieren werden, so dass der Kläger dort – anders als in Deutschland – am Arbeitsmarkt nicht wird Fuß fassen können und seinen Lebensunterhalt nicht wird verdienen können. Dieser Einschätzung steht auch nicht entgegen, dass der Gutachter ausführt, dass der Kläger zum Untersuchungszeitpunkt tatsächlich keine ausreichende Behandlung durchgeführt hat. Denn die bereits mehrfach erwähnten erheblich schwierigeren Lebensumstände in Afghanistan lassen unter Berücksichtigung vorstehender Ausführungen nicht den Schluss zu, dass der Kläger in Afghanistan ohne ausreichende Behandlung wird arbeiten und damit überleben können. Überdies ist zu bedenken, dass der Gutachter – wie erläutert – eine Behandlung für objektiv dringend erforderlich hält und diese vom Kläger allein aus dem Grunde (vorübergehend) eingeschränkt (nicht abgebrochen) wurde, um die in Deutschland angetretene Lehrstelle nicht zu verlieren. Zudem hat er in der mündlichen Verhandlung glaubhaft versichert, dass die Einschränkung der Behandlung zu einer gesundheitlichen Verschlechterung geführt habe, woraufhin er sich wieder an seine Fachärztin gewandt habe und nunmehr ein neues Medikament regelmäßig einnehme.
Weiterhin ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger die erforderliche Behandlung, welche die Auswirkungen seiner Erkrankung abmildert, in Afghanistan nicht wird finanzieren können, falls diese dort überhaupt erhältlich sein sollte (vgl. zur fehlenden Behandlungsmöglichkeit: BayVGH, U.v. 3.7.2012 – 13a B 11.30064; u.v. 17.3.2016 – 13a B 16.30007, jeweils juris). Das Gericht geht davon aus, dass es dem Kläger nicht möglich sein wird, das erforderliche Antidepressivum, aktuell Sertralin, sowie die erforderliche Überwachung der Konzentration des Medikaments im Blutplasma (und schon gar nicht eine ergänzende Psychotherapie), vgl. Gutachten S. 56, zusätzlich zu den erforderlichen Geldmittel zur Bestreitung des gewöhnlichen allgemeinen Lebensunterhalts – insbesondere angesichts der beschriebenen Einschränkungen der beruflichen Belastbarkeit – zu finanzieren. Zwar hat jeder Bürger nach der afghanischen Verfassung ein Anrecht auf freie medizinische Versorgung, allerdings gilt dies nur für die staatlichen Krankenhäuser und Einrichtungen, welche die kostenlose Versorgung stets nur im Rahmen der momentanen Verfügbarkeit anbieten können. So ist oftmals die medikamentöse Versorgung in diesen Einrichtungen stark eingeschränkt; die Krankenhausapotheken halten nur eine sehr limitierte Auswahl und Anzahl an Medikamenten kostenfrei vor. Aus diesem Grund muss in der täglichen Praxis oftmals der behandelnde Krankenhausarzt ein Rezept ausstellen, das in privaten Apotheken kostenpflichtig eingelöst werden muss (vgl. Auskunft der Deutschen Botschaft in Kabul vom 29.4.2009; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung vom 5.4.2017, S. 4). Aufgrund dieser Erkenntnismittellage geht das Gericht davon aus, dass der Kläger das erforderliche Medikament und die ergänzende ärztliche Überwachung des Medikaments im Blutplasma in Afghanistan nicht kostenfrei erhalten wird, was im Übrigen auch mit der vom Gericht eingeholten Auskunft im vorliegenden Verfahren hinsichtlich der Medikamente Venlafaxin, Quetiapin und Zopiclon übereinstimmt (vgl. E-Mail der Deutschen Botschaft Kabul vom 31. Januar 2017). Aufgrund obiger Ausführungen ist schließlich auch nicht davon auszugehen, dass Familienangehörige den Kläger bei der Finanzierung der erforderlichen Behandlung unterstützen könnten.
Im Rahmen einer Gesamtschau steht damit vorliegend ernsthaft zu befürchten, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan in eine ausweglose Lage geraten würde, die ihm nicht zugemutet werden kann. Ein Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG war daher unter Abänderung des Bescheides des Bundesamts vom 9. Dezember 2016 festzustellen.
Ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (BVerwG, U.v. 08.09.2011 – 10 C 14.10 – BVerwGE 140, 319 Rn. 16 und 17).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.