Verwaltungsrecht

inländische Fluchtalternative, Covid-19-Pandemie

Aktenzeichen  M 30 K 20.31808

Datum:
11.3.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 12561
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5, § 71a
VwVfG § 51
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7, § 60a Abs. 2c

 

Leitsatz

1. Es besteht in allen größeren Städten von Sierra Leone eine inländische Fluchtalternative und die Möglichkeit dort weitgehend unbehelligt von der Poro Society zu leben (stRspr des VG München, u.a. zur Poro Society VG München BeckRS 2018, 20432; VG Augsburg BeckRS 2017, 106195; zur Gbangbani Society: VG München, U. v. 14.5.2018 – M 30 K 17.40892, M 30 K 17.40892). (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die aktuelle Covid-19-Pandemie mit den diesbezüglich einhergehenden Einschränkungen steht einer Abschiebung nicht entgegen. Es ist nicht ersichtlich, dass das öffentliche Leben in Sierra Leone derzeit derart eingeschränkt ist, dass es dem Kläger nicht möglich wäre, bei Rückkehr seine Existenz mit den elementaren Grundbedürfnissen zu sichern. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid des Bundesamtes vom 5. Juni 2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Asylantrag des Klägers ist unzulässig. Abschiebungsverbote nach Sierra Leone gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG wurden vom Bundesamt zutreffend abgelehnt.
1. Die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig in Nr. 1 des Bescheids verbunden mit der Einstufung als Zweitantrag i.S.v. § 71a Abs. 1 AsylG i.V.m. § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG ist rechtmäßig.
Voraussetzung für das Vorliegen eines Zweitantrags ist gemäß § 71a AsylG der erfolglose Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat, für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten oder mit dem die Bundesrepublik Deutschland einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen hat. Die Auskunft Italiens vom 21. April 2020 über die Ablehnung des Asylantrags des Klägers am 7. Mai 2019 in Verbindung mit den – übereinstimmenden – eigenen Angaben des Klägers über den Erhalt einer negativen Entscheidung ist ausreichend zur Annahme eines erfolglos abgeschlossenen Asylverfahrens in Italien.
2. An der Ablehnung des Vorliegens von Wiederaufgreifensgründen i.S.v. § 51 VwVfG bestehen im Hinblick auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. subsidiären Schutzes keine ernstlichen Zweifel. Der klägerische Vortrag lässt nicht erkennen, inwieweit Gründe für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzes vorliegen sollen, die der Kläger nicht bereits in Italien vortragen konnte. In seinen Angaben beim Bundesamt hat der Kläger dies ausdrücklich bestätigt und in keinerlei Weise – mit Ausnahme seiner gesundheitlichen Situation – erkennen lassen, dass er neue, in Italien noch nicht geltend gemachte Gründe habe. Der Kläger genügt daher jedenfalls nicht den Anforderungen an die Darlegungslast für einen Wiederaufgreifensgrund nach der hierzu ergangenen Rechtsprechung (vgl. Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 71 Rn 44 ff.).
3. Die Ablehnung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist zum maßgeblichen Zeitpunkt gemäß § 77 Abs. 1 AsylG ebenfalls nicht zu beanstanden, sondern rechtmäßig.
a) Bei einer Rückkehr nach Sierra Leone würde der Kläger durch die Poro Society von keiner derartigen landesweiten Gefahr bedroht, dass eine Abschiebung gegen Art. 3 EMRK i.V.m. § 60 Abs. 5 AufenthG verstieße. Vielmehr wäre der Kläger im Hinblick auf sein geschildertes Verfolgungsschicksal durch die Poro Society jedenfalls auf eine inländische Fluchtalternative – vergleichbar § 3e AsylG – zu verweisen, wenn nicht bereits den Ausführungen des Bundesamtes zur fehlenden Glaubhaftigkeit gefolgt würde.
Es wäre dem Kläger zumindest in allen größeren Städten von Sierra Leone möglich, weitgehend unbehelligt von der Poro Society zu leben (std. Rspr. des VG München, u.a. zur Poro Society VG München, U.v. 14.5.2018 – M 30 K 17.40892 – beckonline; VG Augsburg, U.v. 22.03.2017 – Au 4 K 16.32061 – juris Rn 38 ff.; zur Gbangbani Society: VG München, U.v. 14.5.2018 – M 30 K 17.40892 – beckonline).
So erscheint bereits fraglich, wie es einem Geheimbund wie Poro oder Gbangbani grundsätzlich überhaupt möglich sein soll, von ihm gesuchte Personen zu finden. Schließlich existiert in Sierra Leone kein ausreichendes Melderegister (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 17.10.2017). Wie das Auffinden von Personen gelingen soll, vermag das Gericht trotz der verhältnismäßig geringen Landesgröße Sierra Leones und einer zu unterstellenden gewissen Vernetzung der Societies untereinander nicht nachzuvollziehen. Dabei lassen sich den Erkenntnismitteln keine Erkenntnisse über gezielte überörtliche (Organisations-)Strukturen der Poro oder Gbangbani Society entnehmen, aufgrund derer von den örtlichen Societies gesuchte Personen aufgefunden werden können. Vielmehr ist das Gericht auch davon überzeugt, dass die Mitglieder des Geheimbunds den Kläger nicht noch einige Jahre später in ganz Sierra Leone und allen größeren Städten suchen werden, selbst wenn sie ihn damals an die Stelle seines Vaters hätten setzen wollen. Der Aufwand für die Geheimbünde in Sierra Leone, alle Personen, die sich ihrem Vortrag nach einer Nachfolge ihrer Väter oder Zwangsmitgliedschaft entziehen und entzogen haben, in ganz Sierra Leone zu suchen – ohne zentrales Melderegister -, wäre enorm, vor allem im Vergleich zu der Chance, tatsächlich jemanden zu finden. Zudem ist für den Geheimbund bereits nicht bekannt, ob sich die Person überhaupt in Sierra Leone aufhält. Dabei ist zu unterstellen, dass gewisse, immer wieder berichtete Vodoo-Praktiken u.ä. dem Bereich des Okkulten und des Aberglaubens zuzuordnen sind und zur Überzeugung des Gerichts nicht funktionieren. Auch der Kläger vermochte keine Kommunikationsstruktur der Poro Society zu benennen außer einer Art spirituellen Kommunikation.
Das Gericht geht nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes zudem davon aus, dass es jedenfalls in den größeren Städten Sierra Leones – mit Ausnahme ggf. der Stadt des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts – möglich ist, grundsätzlich unbehelligt von der Poro Society und anderen Geheimgesellschaften zu leben (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 9. Januar 2017 an das VG Augsburg). Dort gebe es viele Menschen, die nicht Mitglied einer Geheimgesellschaft sind und ohne Probleme leben könnten. Es sei sehr unwahrscheinlich, dass jemand gefoltert werde oder seinen Arbeitsplatz verliere, wenn er offen bekenne, die Mitgliedschaft in einer Geheimgesellschaft abzulehnen. Die Religionsfreiheit erstrecke sich auch auf traditionelle Glaubensvorstellungen, so das Auswärtige Amt.
b) Ebensowenig begründen die allgemeinen wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse in Sierra Leone ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.Vm. Art. 3 EMRK. Insoweit wird weitgehend auf die Ausführungen des Bundesamtes Bezug genommen, vgl. § 77 Abs. 2 AsylG.
Das Bundesamt hat nachvollziehbar und zutreffend unter Berücksichtigung der individuellen Verhältnisse des Klägers angenommen, dass der Kläger bei Rückkehr nach Sierra Leone imstande sein werde, sein Existenzminimum zu sichern. Dass der Kläger angesichts seiner vorgetragenen Verletzung an der Hand nicht voll erwerbsfähig wäre, ist ebensowenig erkennbar wie Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit durch die klägerisch angegebenen Schlafstörungen, die im Übrigen wie die Verletzung der Hand nicht hinreichend ärztlich belegt sind. Zutreffend hat das Bundesamt zudem auf die in Sierra Leone noch vorhandenen familiären Strukturen des Klägers hingewiesen, die selbst bei Inanspruchnahme einer inländischen Fluchtalternative unterstützend wirken können. Selbst bei deren Ausfall wird es dem Kläger angesichts der guten Schulbildung und bisherigen beruflichen Erfahrungen jedoch möglich sein, seine Existenz zumindest durch Gelegenheitsarbeiten etc. in einer der größeren Städte Sierra Leones zu sichern.
Die aktuelle Covid-19-Pandemie mit den diesbezüglich einhergehenden Einschränkungen steht dem nicht entgegen. Es ist nicht ersichtlich, dass das öffentliche Leben in Sierra Leone derzeit derart eingeschränkt ist, dass es dem Kläger nicht möglich wäre, bei Rückkehr seine Existenz mit den elementaren Grundbedürfnissen zu sichern. Auf die Ausführungen des Bundesamtes wird im Übrigen gemäß § 77 Abs. 2 AsylG Bezug genommen.
c) Auch die Ablehnung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht zu beanstanden.
(1) In Bezug auf seine Schlafstörungen bzw. die Verletzung seiner Hand oder die in der mündlichen Verhandlung genannten Alpträume und Flashbacks hat der Kläger keine den Anforderungen des § 60a Abs. 2c Sätze 2 und 3 AufenthG genügenden ärztlichen Bescheinigungen vorgelegt, aus denen sich hinreichend darauf schließen ließe, dass eine Rückkehr des Klägers zu einer erheblichen bis gar lebensbedrohlichen Verschlimmerung führen würde.
(2) Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ergibt sich für den Kläger auch nicht aus der weltweiten Covid-19 Pandemie.
Unabhängig von der Regelung in § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG, wonach es bei allgemeinen Gefahren einer – vorliegend nicht bestehenden – Anordnung nach § 60a Abs. 1 AufenthG bedürfte, wäre der Kläger nicht über das allgemeine Risiko hinaus in besonderer Weise gefährdet, insbesondere nicht derart, dass er „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder Verletzungen ausgeliefert würde“ (vgl. BayVGH, B.v. 24.7.2015 – 9 ZB 14.30457 – juris Rn. 11; OVG NRW, B.v. 17.12.2014 – 11 A 2468/14.A – juris Rn. 14).
Darüber hinaus sind Aspekte wie aktuelle Reisebeschränkungen, die die Durchführung einer Abschiebung betreffen, asylrechtlich nicht von Belang und von der Ausländerbehörde vor Durchführung der Abschiebung zu prüfen. Der Verweis der Bevollmächtigten des Klägers im Klageschriftsatz auf die „derzeitigen Covid-Pandemie-Beschränkungen“ verfängt somit nicht.
Im Übrigen wird auf die Ausführungen im Bescheid verwiesen und von einer wieder holenden Darstellung gemäß § 77 Abs. 2 AsylG abgesehen.
Der Bescheid des Bundesamtes vom 5. Juni 2020 ist daher rechtmäßig und die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung und die Abwendungsbefugnis ergeben sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordung (ZPO).

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