Aktenzeichen 11 ZB 19.32690
AufenthG § 60 Abs. Abs. 5, Abs. 7, § 60a Abs. 2c, Abs. 2d
VwGO § 108 Abs. 2, § 138 Nr. 3
GG Art. 103 Abs. 1
EMRK Art. 3
Leitsatz
1. Will ein Ausländer durch eine ärztliche Bescheinigung, die ein Gericht in einem Betreuungsverfahren oder eine sonstige staatliche Stelle zu einem anderen Zweck eingeholt hat, glaubhaft machen, dass seiner Abschiebung gesundheitliche Gründe entgegenstehen, muss auch diese ärztliche Bescheinigung den Anforderungen des § 60a Abs. 2c AufenthG genügen (Rn. 4). (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Entscheidung über ein Prozesskostenhilfegesuch erst kurz vor der mündlichen Verhandlung trotz frühzeitiger und vollständiger Antragstellung kann den Grundsatz des fairen Verfahrens verletzen. Auch erscheint eine Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs denkbar, wenn dem Verfahrensbeteiligten durch die späte Entscheidung die Möglichkeit genommen wird, auf die Erwägungen des Gerichts mit weiterem Vorbringen zu reagieren (Rn. 12). (redaktioneller Leitsatz)
3. Einem Beweisantrag, der sich auf ein völlig ungeeignetes und damit untaugliches Beweismittel bezieht, braucht das Gericht nicht nachzukommen (Rn. 15). (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
Au 2 K 17.33736 2019-06-06 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist abzulehnen.
Aus der Antragsbegründung ergibt sich nicht, dass die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) oder wegen eines Verfahrensmangels in Form der Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO) zuzulassen wäre.
1. Entgegen der Antragsbegründung hat die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hinsichtlich der Frage, ob „staatliche ärztliche Gutachten“ ebenfalls unter die Anforderungen des § 60a Abs. 2c AufenthG fallen.
Nach § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG wird vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. Eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, muss der Ausländer durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen (§ 60a Abs. 2c Satz 2 AufenthG). Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten (§ 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG). Nach einheitlicher obergerichtlicher Rechtsprechung, die sich auf den Wortlaut, die Entstehungsgeschichte und den Sinn und Zweck der Vorschrift stützt, sind die Anforderungen an ein ärztliches Attest gemäß § 60a Abs. 2c AufenthG auf die Substantiierung der Voraussetzungen eines krankheitsbedingten Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG zu übertragen (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 4.4.2019 – 9 ZB 19.30999 – juris Rn. 6; B.v. 24.1.2018 – 10 ZB 18.30105 – juris Rn. 7; OVG LSA, B.v. 28.9.2017 – 2 L 85/17 – NVwZ-RR 2018, 244 Rn. 5-13; OVG Bremen, B.v. 13.6.2018 – 2 LA 50/17 – juris Rn. 7; OVG RhPf, B.v. 2.10.2018 – 6 A 11552/17 – juris Rn. 14). Dabei differenziert die gesetzliche Regelung, die dem Ausländer ausdrücklich die Pflicht auferlegt, eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte und der zuständigen Behörde unverzüglich vorzulegende ärztliche Bescheinigung glaubhaft zu machen (§ 60a Abs. 2c Satz 2, Abs. 2d Satz 1 AufenthG), nicht danach, welcher Arzt oder welche Stelle die qualifizierte Bescheinigung ausgestellt hat. Die Gesetzesbegründung betont insoweit ausdrücklich das praktische Bedürfnis, eine vom Ausländer vorgelegte Bescheinigung hinsichtlich der Erfüllung formaler und inhaltlicher Vorgaben zu validieren (BT-Drs. 18/7538, S. 19). Legt der Ausländer ärztliche Fachberichte vor, sind diese zur Glaubhaftmachung eines Abschiebungshindernisses daher nur geeignet, wenn sie die Befundtatsachen angeben, gegebenenfalls die Methode der Tatsachenerhebung benennen und nachvollziehbar die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes sowie die medizinischen Folgen darlegen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich in Zukunft ergeben, wobei sich Umfang und Genauigkeit der erforderlichen Darlegung jeweils nach den Umständen des Einzelfalls richten. Will der Ausländer beispielsweise durch eine ärztliche Bescheinigung, die – wie hier – ein Gericht in einem Betreuungsverfahren oder eine sonstige staatliche Stelle zu einem anderen Zweck eingeholt hat, glaubhaft machen, dass seiner Abschiebung gesundheitliche Gründe entgegenstehen, muss demnach auch diese ärztliche Bescheinigung den Anforderungen des § 60a Abs. 2c AufenthG genügen. Daran kann nach dem Wortlaut, der Entstehungsgeschichte und dem Sinn und Zweck der Vorschrift kein Zweifel bestehen.
Eine hiervon zu unterscheidende und in der Rechtsprechung umstrittene Frage ist, ob im Rahmen der Prüfung eines inlandsbezogenen Abschiebungshindernisses beim Vollzug der Ausreisepflicht an eine behördlicherseits veranlasste (amts-)ärztliche Feststellung der Reisefähigkeit dieselben Anforderungen zu stellen sind wie an eine Widerlegung der gesetzlichen Vermutung nach § 60a Abs. 2c AufenthG (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 18.12.2017 – 19 CE 17.1541 – juris Rn. 25 einerseits und VGH BW, B.v. 10.8.2017 – 11 S 1724/17 – InfAuslR 2017, 443 Rn. 22 andererseits). Diese Frage stellt sich aber im vorliegenden Verfahren nicht.
Soweit die Kläger die Bewertung der von ihnen vorgelegten Atteste und die Einschätzung der Behandlungsmöglichkeiten in der Ukraine durch das Verwaltungsgericht angreifen, machen sie damit der Sache nach ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils geltend. Dies kann aber aufgrund der abschließenden und gegenüber § 124 Abs. 2 VwGO speziellen Regelung der Zulassungsgründe in § 78 Abs. 3 AsylG nicht zur Zulassung der Berufung führen.
2. Ebenfalls keine grundsätzliche Klärung über den konkreten Einzelfall hinaus ist hinsichtlich der Frage möglich, ob eine „gesundheitliche Verschlechterung im Aufnahmeland inzident auch eine Verschlechterung des Gesundheitszustands im Heimatland im Sinne eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG darstellt.“
Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG liegt eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Die Abschiebung darf zwar nicht dazu führen, dass sich eine schwerwiegende Erkrankung des Ausländers mangels Behandlungsmöglichkeit in einem Ausmaß verschlechtern wird, dass ihm eine individuell konkrete, erhebliche Gefahr an Leib oder Leben droht. Es wird jedoch im Falle einer Erkrankung nicht vorausgesetzt, dass die medizinische Versorgung im Herkunftsland bzw. im Zielstaat der Abschiebung der Versorgung in Deutschland oder in der Europäischen Union gleichwertig ist (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Dem Ausländer ist es insbesondere zumutbar, sich in einen bestimmten Teil des Zielstaats zu begeben, in dem für ihn eine ausreichende medizinische Versorgung gewährleistet ist (§ 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG). Es komme – so die Begründung des Gesetzentwurfs – nicht darauf an, dass alle Landesteile des Zielstaats gleichermaßen eine ausreichende Versorgung bieten würden. Inländische Gesundheitsalternativen seien ggf. aufzusuchen (BT-Drs. 18/7538 S. 18). Ob aufgrund einer bereits eingetretenen gesundheitlichen Verschlechterung im Aufnahmeland eine Verschlechterung des Gesundheitszustands im Heimatland in einem Ausmaß zu befürchten ist, dass dem Betroffenen eine individuell konkrete, erhebliche Gefahr an Leib oder Leben droht, ist von den konkreten Umständen des Einzelfalls abhängig und kann nicht fallübergreifend beantwortet werden.
3. Die Berufung ist schließlich auch nicht wegen einer Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO) zuzulassen.
a) Soweit die Kläger beanstanden, dass das Verwaltungsgericht erst am 31. Mai 2019, einem Freitag, und damit am letzten Werktag vor der mündlichen Verhandlung am 3. Juni 2019 über ihren Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Anwaltsbeiordnung entschieden hat, ergibt sich daraus keine Verletzung ihres Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs.
Die Verfahrensgarantie gemäß Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO besteht nach obergerichtlicher Rechtsprechung darin, jedem Verfahrensbeteiligten die Gelegenheit zu geben, sich zu dem gesamten, nach der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts entscheidungserheblichen Stoff des gerichtlichen Verfahrens in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu äußern (BVerwG, B.v. 7.6.2017 – 5 C 5.17 D u.a. – juris Rn. 8 m.w.N.; Berlit in GK-AsylG, Stand Mai 2019, § 78 Rn. 272, 274) sowie ihre rechtzeitigen und möglicherweise erheblichen Ausführungen zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, soweit sie aus verfahrens- oder materiellrechtlichen Gründen nicht ausnahmsweise unberücksichtigt bleiben müssen oder können (BayVerfGH, E.v. 23.9.2015 – Vf. 38-VI-14 – BayVBl 2016, 49 Rn. 44 m.w.N.). Eine Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs liegt jedoch nicht schon dann vor, wenn das Gericht Tatsachen, zu denen sich der Betreffende äußern konnte, in einer Weise würdigt oder aus ihnen Schlussfolgerungen zieht, die nicht seinen subjektiven Erwartungen entsprechen oder von ihm für unrichtig gehalten werden (stRspr, vgl. BVerwG, B.v. 25.5.2017 – 5 B 75.15 D – juris Rn. 11 m.w.N.).
Zwar kann eine Entscheidung über ein Prozesskostenhilfegesuch erst kurz vor der mündlichen Verhandlung trotz frühzeitiger und vollständiger Antragstellung den Grundsatz des fairen Verfahrens verletzen (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 24. Auflage 2018, § 166 Rn. 11; VGH BW, B.v. 2.12.2004 – 12 S 2793/04 – NVwZ-RR 2005, 438 = juris Rn. 4). Auch erscheint insoweit eine Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs denkbar, wenn dem Verfahrensbeteiligten durch die späte Entscheidung die Möglichkeit genommen wird, auf die Erwägungen des Gerichts mit weiterem Vorbringen zu reagieren. Vorliegend haben die Kläger jedoch lediglich gerügt, ihr Prozessbevollmächtigter hätte bei früherer Kenntnis der Versagungsgründe „darauf bestanden, dass“ sie „persönlich vor Gericht erscheinen, damit das Erstgericht einen unmittelbaren Eindruck“ von ihrer gesundheitlichen Verfassung erhält. Damit ist aber eine Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs nicht dargelegt. Durch den Zeitpunkt der Ablehnung ihres Prozesskostenhilfegesuchs ist den Klägern der Zugang zum Gericht nicht verwehrt worden. Die Ladung vom 3. April 2019 zur mündlichen Verhandlung enthielt gemäß § 102 Abs. 2 VwGO den Hinweis, dass bei Nichterscheinen eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann. Durch die Ablehnung des Antrags auf Prozesskostenhilfe und Anwaltsbeiordnung waren die Kläger nicht gehindert, gleichwohl an der mündlichen Verhandlung, in der sie im Übrigen durch zwei Prozessbevollmächtigte vertreten waren, teilzunehmen. Der Betreuer des Klägers zu 1 war in der mündlichen Verhandlung ebenfalls anwesend. Eine Kausalität zwischen dem Zeitpunkt der Entscheidung über das Prozesskostenhilfegesuch und der Nichtteilnahme der Kläger an der mündlichen Verhandlung ist nicht erkennbar.
b) Eine Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs ergibt sich auch nicht aus der Ablehnung des in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrags durch das Ausgangsgericht.
Die Verfahrensgarantie des rechtlichen Gehörs gebietet es dem Gericht, formell ordnungsgemäßen, prozessrechtlich beachtlichen Beweisanträgen nachzugehen (Berlit in GK-AsylG, § 78 Rn. 355). Die Ablehnung eines Beweisantrags verletzt das rechtliche Gehör folglich nur dann, wenn sie im Prozessrecht objektiv keine Stütze findet (BVerwG, B.v. 17.6.2013 – 10 B 8.13 – juris Rn. 8 m.w.N.; Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 86 Rn. 64). Die Ablehnung des Beweisantrags auf Einholung einer Auskunft der Deutschen Botschaft in Kiew durch das Verwaltungsgericht ist jedoch nicht zu beanstanden. Die Kläger hatten in der mündlichen Verhandlung beantragt, eine Auskunft der Botschaft einzuholen „zum Beweis der Tatsache, dass den Klägern nicht ausreichende Mittel bei einer Rückkehr in die Ukraine zustehen, da die zu erwartende Rentenhöhe die Begleichung der Unterkunft, Lebensunterhalt- und Medikamentenkosten nicht decken“. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag mit der Begründung abgelehnt, eine Auskunft der Botschaft sei kein geeignetes Beweismittel, vor dem Hintergrund der den Klägern jeweils nur subjektiv zustehenden Rentenhöhe Erkenntnis zu bringen, ob diese Mittel für eine etwaige Lebensunterhaltung in der Ukraine ausreichen.
Einem Beweisantrag, der sich auf ein völlig ungeeignetes und damit untaugliches Beweismittel bezieht, braucht das Gericht nicht nachzukommen (Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, § 86 Rn. 72). Hiervon ist das Verwaltungsgericht zutreffend ausgegangen. Es ist nicht ersichtlich, wie die Deutsche Botschaft in Kiew in der Lage sein sollte, die Höhe der Rentenansprüche der Kläger und deren Lebenshaltungskosten in der Ukraine, insbesondere die Kosten einer Unterkunft und der Medikamente, so präzise in Erfahrung zu bringen, dass das Verwaltungsgericht dadurch in die Lage versetzt worden wäre, besser zu beurteilen, ob wegen Unmöglichkeit der Sicherung des existentiellen Lebensunterhalts der Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK anzunehmen ist. So kann schon nicht davon ausgegangen werden, dass die Deutsche Botschaft in Kiew einen Auskunftsanspruch gegenüber den ukrainischen Rententrägern hätte oder dass diese gegenüber der Botschaft zu einer solchen Auskunft berechtigt wären. Insoweit handelt es sich um höchstpersönliche Daten, deren Beibringung den Klägern selbst obliegt. Gleiches gilt im Hinblick auf Auskünfte durch die ukrainischen Krankenversicherungsträger. Es ist daher nicht zu beanstanden, dass das Verwaltungsgericht die Frage einer Existenzgefährdung anhand der allgemeinen Erkenntnislage beurteilt hat, ohne eine Auskunft der Deutschen Botschaft in Kiew einzuholen.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
5. Dieser Beschluss, mit dem das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig wird (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG), ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).