Aktenzeichen 10 C 17.260
Leitsatz
1. Bei der vorzunehmenden Gefahrenprognose im Rahmen der nach § 11 Abs. 3 AufenthG zu bemessenden Länge der Sperrfrist besteht keine Bindung an die Entscheidung des Strafvollstreckungsgerichts hinsichtlich der Aussetzung des Strafrestes (siehe auch VGH München BeckRS 2016, 51737). (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Erreichung der (auch) bei der Fristbemessung nach § 11 Abs. 2 und 3 AufenthG zu berücksichtigenden Generalprävention angesichts der Schwere der Straftat (Ermordung der Ehefrau) steht auch mangels schützenswerter familärer Bindungen der begehrten Befristung „auf Null“ entgegen. (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
Au 1 K 16.1127 2017-01-19 Bes VGAUGSBURG VG Augsburg
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
Die Beschwerde, mit der sich der Kläger gegen den die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für seine Klage auf Verpflichtung des Beklagten zur Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots „auf Null“ ablehnenden Beschluss des Verwaltungsgerichts wendet, ist unbegründet. Denn die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO und Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 121 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor.
Die Rechtsverfolgung des Klägers, der nach zutreffender und im Beschwerdeverfahren von Klägerseite auch nicht beanstandeter Auslegung seines Klagebegehrens durch das Verwaltungsgericht (§ 88 VwGO) ausschließlich die schon im Verwaltungsverfahren beantragte Festsetzung der gemäß § 11 Abs. 2 und 3 AufenthG zu bestimmenden Frist für das Einreise- und Aufenthaltsverbots „auf Null“, d.h. mit sofortiger Wirkung, begehrt, bietet zum maßgeblichen Zeitpunkt der Bewilligungs- oder Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrags (stRspr, vgl. z.B. BayVGH, B.v. 10.2.2016 – 10 C 15.849 – juris Rn. 3 m.w.N.) keine hinreichende Aussicht auf Erfolg.
Denn der damit gegen den Beklagten geltend gemachte Rechtsanspruch auf (nur) diese Befristungsregelung – und nicht etwa auf erneute ermessensfehlerfreie Entscheidung des Beklagten über eine angemessene kürzere Sperrfrist – besteht mangels Ermessensreduzierung auf Null nicht (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG über die Länge der Sperrfrist nach pflichtgemäßem Ermessen entschieden wird und bei der Bestimmung dieser Frist in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen sind, wobei es einer prognostischen Einschätzung im Einzelfall bedarf, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das einer zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Ebenfalls zutreffend ist die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass es bei einer (auch) aus generalpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung darauf ankommt, wie lange von ihr eine abschreckende Wirkung auf andere Ausländer ausgeht, und dass die sich an der Erreichung des Ausweisungszwecks orientierte Höchstfrist in einem zweiten Schritt an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen und den Vorgaben insbesondere des Art. 8 EMRK messen und gegebenenfalls relativieren lassen muss (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 6.3.2014 – 1 C 2.13 – juris Rn. 12; BayVGH, B.v. 12.7.2016 – 10 B 14.1854 – juris Rn. 6 ff.). Rechtlich nicht zu beanstanden ist schließlich die Annahme des Erstgerichts, bei der vorzunehmenden Gefahrenprognose bestehe keine Bindung an die Entscheidung des Strafvollstreckungsgerichts; Entscheidungen der Strafgerichte nach § 57 StGB seien zwar von tatsächlichem Gewicht und stellten bei der ausländerrechtlichen Prognose ein wesentliches Indiz dar, von ihnen gehe aber weder eine Bindungswirkung noch eine Regelvermutung aus, selbst wenn – wie im vorliegenden Fall – zu ihrer Vorbereitung ein Sachverständigengutachten eingeholt worden sei (BayVGH, B.v. 12.7.2016 – 10 B 14.1854 – juris Rn. 8 m.w.N.).
Dahinstehen kann hier, ob die Befristungsentscheidung des Beklagten und die angegriffene Entscheidung des Verwaltungsgerichts bei der angestellten Prognose zur Wiederholungsgefahr die erhebliche indizielle Bedeutung der Strafrestaussetzungsentscheidung der Strafvollstreckungskammer hinreichend berücksichtigt und ihre davon abweichende Bewertung entsprechend substantiiert begründet haben (zu diesen Anforderungen vgl. BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 21). Denn das Verwaltungsgericht hat jedenfalls zu Recht festgestellt, dass bei der auch aus generalpräventiven Gründen verfügten Ausweisung des Klägers angesichts der Schwere der Straftat (Ermordung seiner Ehefrau aus Rache für die von dieser angestrebte Scheidung) ein erhebliches Interesse daran bestehe, Ausländern vor Augen zu führen, dass eine solche Tat neben den strafrechtlichen Sanktionen auch erhebliche aufenthaltsrechtliche Konsequenzen habe. Demgemäß ist das Verwaltungsgericht in rechtlich nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen, dass die Erreichung der (auch) bei der Fristbemessung nach § 11 Abs. 2 und 3 AufenthG zu berücksichtigenden Generalprävention (vgl. z.B. Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, AufenthG § 11 Rn. 60; OVG Berlin-Bbg, U.v. 4.6.2015 – OVG 3B 26.13 – juris Rn. 29) einer Ermessensreduzierung auf Null und damit der begehrten Befristung „auf Null“ entgegensteht. Dies gilt nach zutreffender Auffassung des Verwaltungsgerichts umso mehr, als für den Kläger auf der anderen Seite keine besonders schützenswerten familiären, nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK geschützten Bindungen stehen, die gleichwohl zu einer entsprechenden Relativierung und Verkürzung der Frist „auf Null“ führen könnten. So hat das Verwaltungsgericht – im Übrigen auch im Beschwerdeverfahren unwidersprochen – festgestellt, dass der Kläger zu seinen beiden leiblichen Töchtern seit 1999 keinen Kontakt mehr hat, sein inzwischen 82-jähriger Vater größtenteils (ebenfalls) in Marokko lebt und sich lediglich zur medizinischen Behandlung in Deutschland aufhält und der Kontakt zu den in Deutschland lebenden Schwestern des Klägers auch über Besuchsaufenthalte in Marokko aufrecht erhalten werden kann.
Der klägerische Einwand, es lägen in seinem Fall besondere Umstände vor, weil das Strafgericht es immerhin als verantwortbar angesehen habe, ihn auf Bewährung zu entlassen, sodass er ohne die Ausweisung weiterhin in der Bundesrepublik hätte leben können, greift insoweit nicht durch. Denn die Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes durch das zuständige Strafvollstreckungsgericht (s. § 57 StGB) ist im Gegensatz zur hier streitbefangenen Befristungsentscheidung nicht (auch) generalpräventiv ausgerichtet bzw. motiviert.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Einer Streitwertfestsetzung bedarf es nicht, weil nach Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses zum Gerichtskostengesetz (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG) eine streitwertunabhängige Gebühr anfällt.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).