Aktenzeichen 19 CE 17.2102
Leitsatz
1 Konkrete Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung sind auch vorbereitende Maßnahmen, die nach typisierender Betrachtung prognostisch bereits in einem engen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit der Abschiebung selbst stehen. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
2 Das “Bevorstehen” konkreter Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung erfordert nicht, dass die Abschiebungsmaßnahme selbst bereits terminiert ist oder zeitlich unmittelbar bevorsteht; ebenso wenig verlangt der Gesetzeswortlaut, dass die zuständige Behörde schon eine konkrete Maßnahme zur Aufenthaltsbeendigung getroffen hat. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
3 Die wirtschaftliche Bedeutung einer Ausbildungsduldung rechtfertigt den Ansatz des Auffangwertes bei der Streitwertfestsetzung. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
RN 9 E 17.1552 2017-09-27 Bes VGREGENSBURG VG Regensburg
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500 Euro festgesetzt.
Gründe
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.
Nach dem im Beschwerdeverfahren vom Antragsteller, einem im Asylverfahren erfolglosen afghanischen Staatsangehörigen, Dargelegten ergibt sich nicht, dass der Antragsgegner entgegen der Entscheidung des Verwaltungsgerichts im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten wäre, bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Antrag des Antragstellers auf Erteilung einer Ausbildungsduldung aufenthaltsbeendende Maßnahmen zu unterlassen und dem Antragsteller die Aufnahme der beantragten Ausbildung zu erlauben.
Der Antragsteller hat jedenfalls das Bestehen eines Anordnungsanspruches nicht glaubhaft gemacht. Der Antragsteller hat keinen Anspruch auf Erteilung einer Ausbildungsduldung gem. § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG, da für ihn zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt wegen konkret bevorstehender aufenthaltsbeendender Maßnahmen die Erteilungsvoraussetzungen nicht vorlagen. Es kann daher dahinstehen, ob die Auffassung des Verwaltungsgerichts zutrifft, der Erteilung einer Ausbildungsduldung stehe die Ausschlussnorm des § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG entgegen.
Nach § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG ist eine Duldung wegen dringender persönlicher Gründe im Sinne von § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG zu erteilen, wenn der Ausländer eine qualifizierte Berufsausbildung in einem staatlich anerkannten oder vergleichbar geregelten Ausbildungsberuf in Deutschland aufnimmt oder aufgenommen hat, die Voraussetzungen nach Absatz 6 dieser Vorschrift nicht vorliegen und konkrete Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung nicht bevorstehen.
Für die Beurteilung der Frage, ob konkrete Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung bevorstehen, ist grundsätzlich maßgeblich auf den Zeitpunkt der Beantragung einer zeitnah aufzunehmenden, konkret bezeichneten Berufsausbildung unter Vorlage geeigneter Nachweise abzustellen (BayVGH, B.v. 24.9.2018 – 10 CE 18.1825 – juris Rn. 4; B.v. 22.1.2018 – 19 CE 18.51 -; B.v. 31.7.2017 – 19 CE 17.1032 – jew. juris).
Mit der Ausbildungsduldung, die im Gegensatz zu sonstigen Duldungen darauf angelegt ist, in einen längerfristigen Aufenthalt zu münden, und letztlich vollziehbar Ausreisepflichtigen eine Brücke in die Erwerbsmigration baut, sollen nicht Aufenthaltsbeendigungen verhindert werden, die in absehbarer Zeit möglich sind. Nach der Entwurfsbegründung des Integrationsgesetzes (beschlossen am 1.7.2016 m.W.v. 6.6.2016), durch das die Ausbildungsduldung neu konzipiert worden ist, ist bei der Integration mittels Aufnahme einer qualifizierten Beschäftigung die Bleibeperspektive zu berücksichtigen, so dass die integrationsfördernden Maßnahmen in erster Linie denjenigen mit „guter Bleibeperspektive“ zugutekommen sollen (BT-Drs. 18/8615, S. 1, 2, 22, 23, 26), während auf Maßnahmen mit dem Ziel der Integration verzichtet werden soll, wenn individuell eine geringe Bleibewahrscheinlichkeit besteht (BT-Drs. 18/8615, S. 22, betreffend Ausländer aus sicheren Herkunftsstaaten). Ausweislich der durch den Ausschuss für Arbeit und Soziales eingebrachten Beschlussempfehlung wird mit dem Ausschlusstatbestand in § 60a Abs. 2 Satz 4 letzter Halbsatz AufenthG das Ziel verfolgt, in den Fällen, in denen die Abschiebung, Zurückschiebung oder Überstellung „absehbar“ ist, der Durchsetzung der Ausreisepflicht den Vorrang einzuräumen (BT-Dr. 18/9090, S. 25). Mit der Voraussetzung, dass nicht bereits konkrete Maßnahmen der Aufenthaltsbeendigung bevorstehen (§ 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG), macht der Gesetzgeber deutlich, dass der Durchsetzung der Ausreisepflicht Vorrang zukommt, was es rechtfertigt, an ein Bevorstehen konkreter Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung keine zu hohen Maßstäbe anzulegen. Durch die Vorlage eines Ausbildungsvertrags oder die Aufnahme einer Berufsausbildung soll eine (vorrangige) Durchsetzung der Ausreisepflicht nicht konterkariert werden (BayVGH, B.v. 26.11.2018 – 19 C 18.54 – juris Rn. 12).
Die Gesetzformulierung „Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung“ ist bewusst weiter gefasst als die eigentliche Aufenthaltsbeendigung durch Abschiebung, Zurückschiebung oder Überstellung; andernfalls hätte die Verwendung des Begriffs Aufenthaltsbeendigung als gemeinsamer Oberbegriff genügt (BayVGH, B.v. 15.12.2016 – 19 CE 16.2025 – juris Rn. 19). Die Gesetzesbegründung führt als Beispiele für konkrete Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung die Beantragung eines Pass(ersatz) papiers (durch die Behörde), die Terminierung der Abschiebung oder den Lauf eines Verfahrens zur Dublin-Überstellung als Beispiele an (BT-Drs. 18/9090, S. 25). Da der Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen behördliche Abstimmungen im Bundesgebiet (vgl. z.B. § 71 Abs. 5 AufenthG) sowie mit den jeweiligen Auslandsvertretungen, rechtliche Prüfungen und eine Vielzahl weiterer organisatorischer Schritte erfordert, sind konkrete Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung auch vorbereitende Maßnahmen, die nach typisierender Betrachtung prognostisch bereits in einem engen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit der Abschiebung selbst stehen. Dies kann etwa die Kontaktaufnahme mit der deutschen Auslandsvertretung im Abschiebezielstaat zur Vorbereitung der Abschiebung sein, aber auch die Erstellung eines Rückübernahmeersuchens, das Abschiebungsersuchen der Ausländerbehörde gegenüber der für die Durchführung der Abschiebung zuständigen Behörde, die Veranlassung einer erforderlichen ärztlichen Untersuchung zur Feststellung der Reisefähigkeit, die Beantragung von Abschiebungshaft sowie – wenn wegen Passlosigkeit zunächst die Identität des Ausländers zu klären ist – die aktenkundige Vorladung des Ausländers zur Vorsprache bei der Ausländerbehörde zum Zwecke eines Ausreisegesprächs oder die Aufforderung, bei der Auslandsvertretung seines Herkunftsstaates persönlich zu erscheinen und einen Pass oder ein Passersatzpapier zu beantragen (vgl. BayVGH, B.v. 30.1.2019 – 19 CE 18.1725 – Rn. 17; NdsOVG, B.v. 30.8.2018 – 13 ME 298/18 – juris Rn. 10 m.w.N.; VGH BW, B.v. 13.10.2016 – 11 S 1991/16 – juris Rn. 21). Die Maßnahmen zur Vorbereitung der Aufenthaltsbeendigung variieren zwangsläufig in Abhängigkeit vom Zielstaat der Rückführung und den Einzelfallumständen, beispielsweise davon, ob es sich um zentral organisierte Sammel- oder Einzelabschiebungen handelt (BayVGH, B.v. 14.5.2018 – 19 CS 18.815 und 19 CE 18.818 – Rn. 16). Vor allem wegen der Vielfalt von Vorbereitungsmaßnahmen und notwendigen Schritten lassen sich keine einheitlichen zeitlichen Grenzen festlegen.
Das „Bevorstehen“ konkreter Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung im Sinne dieser Bestimmung erfordert nicht, dass die Abschiebungsmaßnahme selbst bereits terminiert ist oder zeitlich unmittelbar bevorsteht (BayVGH, B.v. 24.9.2018 – 10 CE 18.1825 – juris Rn. 6; NdsOVG, B.v. 30.8.2018 – 13 ME 298/18 – juris Rn. 13). Ebenso wenig verlangt der Gesetzeswortlaut, dass die zuständige Behörde schon eine konkrete Maßnahme zur Aufenthaltsbeendigung getroffen hat. Soweit die zuständigen Behörden gegenüber dem Antragsteller vor Eingang eines Antrags auf Erteilung einer Ausbildungsduldung kein schützenswertes Vertrauen auf einen längerfristigen Aufenthalt im Bundesgebiet geschaffen haben, gesteht ihnen der Wortlaut der Norm zu, den Sachverhalt nach Eingang des Antrags zu ermitteln und insbesondere die für die Erteilung einer Ausbildungsduldung gem. § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG maßgebliche Frage zu klären, ob der Antragsteller wegen eines gegenwärtig für nicht absehbare Zeit bestehenden tatsächlichen oder rechtlichen Abschiebehindernisses eine individuell gute Bleibeperspektive besitzt. Sollte dies nicht der Fall sein, ist – wenn entgegenstehende Anhaltspunkte im konkreten Einzelfall nicht vorliegen – davon auszugehen, dass aufgrund des aus § 58 Abs. 1 Satz 1 AufenthG resultierenden Gebots zur unverzüglichen Erfüllung der vollziehbaren Ausreisepflicht konkrete Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung bevorstehen.
Der Antragsteller kann sich nicht darauf berufen, er habe zum Zeitpunkt der Beantragung (am 26. Juni 2017; der während des Asylverfahrens am 4. Mai 2017 gestellte Antrag auf Erteilung einer Erlaubnis für die selbe Ausbildung ist aufgrund des Abschlusses des Asylverfahrens überholt) einen Anspruch auf Erteilung einer Ausbildungsduldung nach § 60a Abs. 2 Satz 4, Abs. 6 AufenthG gehabt, da zu diesem Zeitpunkt bereits konkrete Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung im dargelegten Sinn des Gesetzes bevorstanden.
Von dem ablehnenden Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 2. Juni 2017, durch den das Asylverfahren unanfechtbar abgeschlossen worden und die Ausreisepflicht des Antragsteller vollziehbar geworden ist, hat der Antragsgegner erst durch den Antragsschriftsatz am 26. Juni 2017 erfahren; Zweifel hieran sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Die im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29. Juni 2016 eingeräumte Frist zur freiwilligen Ausreise (innerhalb von 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens, hier also nach dem 2.6.2017) war zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgelaufen. Es kann dahinstehen, ob vor Eintritt der Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht getroffene Maßnahmen den Anspruch auf Erteilung einer Ausbildungsduldung verhindern. Zum Zeitpunkt des danach gestellten Antrags auf Erteilung einer Ausbildungsduldung sind jedenfalls konkrete Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung (im Fall der Versäumung der Ausreisefrist) bevorgestanden, da auf nicht absehbare Zeit bestehende tatsächliche oder rechtliche Abschiebehindernisse nicht vorgelegen haben, die zuständige Behörde gegenüber dem Antragsteller zuvor kein schützenswertes Vertrauen auf einen längerfristigen Aufenthalt begründet hatte und daher dem aus § 58 Abs. 1 Satz 1 AufenthG resultierenden Gebot zur unverzüglichen Erfüllung der vollziehbaren Ausreisepflicht der Vorrang zugekommen ist. Entgegen der Auffassung der Antragstellerseite im Schreiben vom 18. August 2017 an den Antragsgegner war die Absehbarkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen insbesondere nicht infolge des Anschlags auf die Deutsche Botschaft in Kabul am 31. Mai 2017 entfallen. Aufgrund der sich an den Anschlag anschließenden vorläufigen Einstellung der Abschiebungen nach Afghanistan wurde der Vollzug der Aufenthaltsbeendigung des Antragstellers nicht in einen völlig ungewissen zeitlichen Rahmen verschoben. Vielmehr handelte es sich um eine zeitliche Verzögerung, die der vorübergehenden Funktionseinschränkung der deutschen Auslandsvertretung geschuldet war (vgl. insoweit auch BayVGH, B.v. 30.1.2019 – 19 CE 18.1725 – Rn. 21 ff.) und deren Ende daher absehbar war. Weitere Anhaltspunkte, die zum Antragszeitpunkt ein tatsächliches oder rechtliches Abschiebehindernis begründen würden, sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Dass zum maßgeblichen Zeitpunkt konkrete Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung bevorstanden, ergibt sich auch aus dem wenig später (am 22.8.2017) gestellten Antrag der zuständigen Zentrale Ausländerbehörde N. auf Ausstellung von Heimreisedokumenten für den Antragsteller beim Generalkonsulat der Islamischen Republik Afghanistan in M., bei dem es sich offensichtlich um eine konkrete Maßnahme zur Aufenthaltsbeendigung handelt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3, § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1 und § 52 Abs. 2 GKG. Die wirtschaftliche Bedeutung einer Ausbildungsduldung rechtfertigt den Ansatz des Auffangwertes (vgl. etwa BayVGH, B.v. 20.11.2018 – 10 CE 18.1598 – juris Rn. 19; VGH BW, B.v. 16.7.2018 – 11 S 1298/18 – juris Rn. 21; BayVGH, B.v. 22.1.2018 – 19 CE 18.51 – juris Rn. 31; a.A. OVG NW, B.v. 23.04.2018 – 18 B 110/18 – juris) und nicht nur des hälftigen Auffangwertes (Nr. 8.3 Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit: „Abschiebung“). Der Streitwert war gemäß Nr. 1.5. des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes auf die Hälfte zu reduzieren. Auf eine Vorwegnahme der Hauptsache – die dieser Reduktion entgegenstünde – ist das Eilrechtsschutzbegehren nicht gerichtet. Im Falle eines Misserfolgs im Hauptsacheverfahren müsste eine einstweilig zugelassene Ausbildung abgebrochen werden.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).