Verwaltungsrecht

Kein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt und Abschiebungsverbot – Afghanistan

Aktenzeichen  B 6 K 17.30100

Datum:
24.4.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 24055
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
GG Art. 16a
AsylG § 3, § 4
AufenthG § 11 Abs. 1, § 60 Abs. 5, Abs. 7

 

Leitsatz

1 Droht einem afghanischen Asylsuchenden in seiner Heimatprovinz Laghman Verfolgung durch die Taliban, hat er eine inländische Fluchtalternative in Jalalabad in der Nachbarprovinz Nangarhar, wenn er dort bereits länger unbehelligt gelebt hat. (Rn. 27 und 28) (redaktioneller Leitsatz)
2 Weder in der Provinz Laghman noch in der Provinz Nangarhar droht ein ernsthafter Schaden infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes. (Rn. 33 – 43) (redaktioneller Leitsatz)
3 Für einen leistungsfähigen Mann besteht in Afghanistan, insbesondere auch in Kabul, trotz der schlechten humanitären Bedingungen keine extreme Gefahrenlage, die zu einem Abschiebungsverbot (§ 60 Abs. 5 AufenthG) führt, auch wenn er keine familiäre Unterstützung erhält. (Rn. 53) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

1. Die zulässige Klage ist nicht begründet, weil die Ablehnung des Asylantrages (1.1), die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG nicht vorliegen (1.2), und die Abschiebungsandrohung (1.3) rechtmäßig sind und der Kläger dadurch nicht in seinen Rechten verletzt ist (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Maßgeblich ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG).
1.1 Mit seinem Asylantrag hat der Kläger seine Anerkennung als Asylberechtigter (Art. 16a Abs. 1 GG, § 1 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) sowie internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG beantragt (§ 13 Abs. 2 Satz 1 AsylG). Die im Wege der Verpflichtungsklage angefochtene Ablehnung des Asylantrages (Ziffern 1, 2 und 3 des Bescheides vom 04.01.2017) ist rechtmäßig, weil der Kläger weder politisch Verfolgter im Sinne des Art. 16a Abs. 1 GG noch Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist noch einen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 und 3 AsylG hat.
1.1.1 Gemäß Art. 16a Abs. 1 GG genießen politisch Verfolgte Asylrecht. Den Begriff des „politisch Verfolgten“ hat das Bundesverwaltungsgericht in Anlehnung an den Flüchtlingsbegriff der Genfer Flüchtlingskonvention (Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge) dahingehend ausgelegt, dass mit ihm jede Person gemeint ist, die sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will (BVerwG, Urteil vom 08.11.1983 – 9 C 93/83, Rn. 18, juris). Gemäß Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG, § 26a Abs. 1 Sätze 1 und 2 AsylG kann sich auf Art. 16a Abs. 1 GG nicht berufen und wird nicht als Asylberechtigter anerkannt, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist (sicherer Drittstaat). Gemäß Art. 16a Abs. 2 Satz 2 GG, § 26a Abs. 2 AsylG in Verbindung mit Anlage I sind sichere Drittstaaten außer den Mitgliedstaaten der Europäischen Union Norwegen und die Schweiz. Gemäß § 26a Abs. 1 Satz 3 AsylG gilt § 26a Abs. 1 Satz 1 AsylG nicht, wenn 1. der Ausländer im Zeitpunkt seiner Einreise in den sicheren Drittstaat im Besitz eines Aufenthaltstitels für die Bundesrepublik Deutschland war, 2. die Bundesrepublik Deutschland auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages mit dem sicheren Drittstaat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist oder 3. der Ausländer auf Grund einer Anordnung nach § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG nicht zurückgewiesen oder zurückgeschoben worden ist.
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Die möglichen Verfolgungshandlungen und Verfolgungsgründe sind in § 3a und § 3b AsylG näher erläutert.
Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).
Gemäß § 3c AsylG bzw. § 4 Abs. 3 in Verbindung mit § 3c AsylG kann die Verfolgung bzw. die Gefahr eines ernsthaften Schadens ausgehen vom Staat (Nr. 1), von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen (Nr. 2), oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG bzw. § 4 Abs. 3 in Verbindung mit § 3d AsylG, d.h. insbesondere wirksam und nicht nur vorübergehend (§ 3d Abs. 2 Satz 1 AsylG), Schutz vor Verfolgung bzw. vor einem ernsthaften Schaden zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3).
Gemäß § 3e Abs. 1 AsylG bzw. § 4 Abs. 3 in Verbindung mit § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft bzw. der subsidiäre Schutz nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung hat bzw. keiner tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens ausgesetzt ist oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung bzw. vor einem ernsthaften Schaden nach § 3d AsylG hat und er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (interner Schutz). Dieser Zumutbarkeitsmaßstab („vernünftigerweise erwartet werden kann“) geht über das Fehlen einer im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 5 AufenthG beachtlichen existenziellen Notlage hinaus (BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 – 10 C 15.12, Rn. 20, juris). Gemäß § 3e Abs. 2 Satz 1 AsylG bzw. § 4 Abs. 3 in Verbindung mit § 3e Abs. 2 Satz 1 AsylG sind bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllt, die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Artikel 4 der Richtlinie 2011/95/EU (EU-Qualifikations-RL) zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag zu berücksichtigen. Es spricht einiges dafür, dass die danach zu berücksichtigenden allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftslandes – oberhalb der Schwelle des Existenzminimums – auch den Zumutbarkeitsmaßstab prägen (BVerwG, Urteil vom 29.05.2008 – 10 C 11/07, Rn. 35, juris).
Verfolgung bzw. ein ernsthafter Schaden muss dem Kläger bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit drohen (BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 – 10 C 13/10, Rn. 20, juris; Beschluss vom 25.10.2012 – 10 B 16/12, Rn. 11, juris; Urteil vom 04.09.2012 – 10 C 13/11, Rn. 28, juris). Für diese Prognose ist auf die tatsächlichen Verhältnisse in seiner Herkunftsregion abzustellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.07.2009 – 10 C 9/08, Rn. 17, juris; Urteil vom 17.11.2011 – 10 C 13/10, Rn. 16, juris; Urteil vom 31.01.2013 – 10 C 15/12, Rn. 13, juris: „der tatsächliche Zielort des Ausländers bei einer Rückkehr“). Die Verhältnisse im übrigen Teil des Herkunftslandes sind eine Frage des internen Schutzes.
Gemäß Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Beweiserleichterung in Gestalt einer widerleglichen gesetzlichen Vermutung greift nur dann ein, wenn ein innerer Zusammenhang zwischen der Vorverfolgung bzw. Vorschädigung und der befürchteten künftigen Verfolgung bzw. dem befürchteten künftigen Schaden besteht (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 – 10 C 4/09, Rn. 27 und 31, juris; Urteil vom 17.11.2011 – 10 C 13/10, Rn. 21, juris).
Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Die danach gebotene Überzeugungsgewissheit muss in dem Sinne bestehen, dass das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit des vom Kläger behaupteten individuellen Schicksals sowie von der Richtigkeit der Prognose, dem Kläger drohe mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung bzw. ein ernsthafter Schaden, erlangt hat. Da unmittelbare Beweise im Herkunftsland in der Regel nicht erhoben werden können, kommt dem persönlichen Vorbringen des Klägers und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 – 9 C 109/84, Rn. 16 und 17, juris). Der Schutzsuchende muss sein Schicksal glaubhaft zur Überzeugung des Gerichts darlegen. Ihm obliegt es, bei den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen, von sich aus eine Schilderung zu geben, die geeignet ist, seinen geltend gemachten Anspruch lückenlos zu tragen, und er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern. Daran fehlt es in der Regel, wenn der Schutzsuchende im Lauf des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellungen nach der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe unglaubhaft erscheinen, sowie auch dann, wenn er sein Vorbringen im Lauf des Verfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Begehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2013 – A 12 S 2023/11, Rn. 35, juris; Hessischer VGH, Urteil vom 04.09.2014 – 8 A 2434/11.A, Rn. 15).
1.1.2 Eine (politische) Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des Art. 16a Abs. 1 GG bzw. § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 3b AsylG hat der Kläger weder geltend gemacht noch ist eine solche sonst ersichtlich.
1.1.3 Dem Kläger ist gemäß § 4 Abs. 3 in Verbindung mit § 3e AsylG auch der subsidiäre Schutz gemäß § 4 Abs. 1 Sätze 1 und 2 Nr. 2 AsylG nicht zuzuerkennen.
Das erkennende Gericht hegt gewisse Zweifel daran, dass dem Kläger in seiner Heimatprovinz Laghman ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, weil örtliche Taliban-Kämpfer versucht haben bzw. versuchen werden, den Kläger gewaltsam zu rekrutieren bzw. zu töten (§ 4 Abs. 1 Sätze 1 und 2 Nr. 2, Abs. 3, § 3c Nr. 3 AsylG). Letztendlich kommt es darauf aber nicht an, weil zur Überzeugung des Gerichts feststeht, dass für den Kläger in Jalalabad in der Nachbarprovinz Nangarhar nicht die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens besteht und er sicher und legal dorthin reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 4 Abs. 3 in Verbindung mit § 3e AsylG).
1.1.3.1 Der Kläger hat in der Bundesamtsanhörung und in der mündlichen Verhandlung in manchen Punkten unterschiedliche Angaben gemacht, was gewisse Zweifel an der Glaubhaftigkeit seines Vorbringens bzw. an seiner Glaubwürdigkeit insgesamt begründet.
Das erkennende Gericht vermag dem Kläger nicht mit der erforderlichen Überzeugungsgewissheit zu glauben, dass er Zeuge eines Taliban-Überfalls war. Beim Bundesamt schilderte der Kläger diesen Überfall so, dass zwei Jungen von den Taliban umgebracht und enthauptet worden seien. Man habe ihre Köpfe auf die Brust gelegt. In der mündlichen Verhandlung gab der Kläger auf die Frage des Gerichts nach diesem Vorfall an, zwei Motorradfahrer hätten zwei Männer überfallen. Den einen Mann hätten sie getötet, enthauptet und seinen Kopf auf die Brust des anderen Mannes gelegt. Diesen anderen Mann hätten sie mitgenommen. Die im Kern unterschiedliche Darstellung – einmal werden beide Opfer getötet, dann wird ein Opfer getötet und das andere Opfer mitgenommen – ist nicht erklärbar, wenn man davon ausgehen wollte, dass der Kläger das eine oder andere Geschehen tatsächlich persönlich erlebt hat.
Ferner gab der Kläger beim Bundesamt an, im Alter von 14 oder 15 Jahren habe er eine Tazkira beantragt. Diese habe er gebraucht, um sich auszuweisen, wenn er nach Jalalabad habe fahren wollen. Auf die Frage, wie oft er in Jalalabad*gewesen sei, gab der Kläger an, er habe dort gearbeitet. Sie hätten die Dacharbeiten beim Hausbau gemacht. Weiter gab der Kläger an, als er 15 oder 16 Jahre alt gewesen sei, seien immer Taliban in ihr Dorf gekommen und hätten ihn aufgefordert, mit ihnen zusammen zu kämpfen. Einmal hätten sie ihn (den Kläger) persönlich angesprochen, danach immer seinen Vater. Nachdem die Taliban seinem Vater gedroht hätten, den Kläger umzubringen, wenn dieser nicht mit ihnen zusammenarbeiten würde, habe sein Vater ihn in Jalalabad auf der Arbeit angerufen und davor gewarnt, nach Hause zu kommen, weil sein Leben dort in Gefahr sei. Das hört sich nicht so an, als sei der Kläger vor den Taliban nach Jalalabad geflohen. In der mündlichen Verhandlung gab der Kläger an, er habe sein Heimatdorf verlassen müssen und sei nach Jalalabad gegangen, nachdem die Taliban mehrere Rekrutierungsversuche unternommen hätten. Sein Vater habe ihm dann geraten, nicht mehr in sein Heimatdorf zurückzukehren, weil die Taliban gedroht hätten, ihn zu töten, wenn er sich nicht binnen zehn Tagen bei ihnen einstellen würde. Das hört sich so an, als sei der Kläger vor den Taliban nach Jalalabad geflohen. Die unterschiedliche Darstellung der Chronologie bzw. der Zusammenhänge weckt gewisse Zweifel daran, dass tatsächlich Versuche örtlicher Taliban-Kämpfer, den Kläger gewaltsam zu rekrutieren, der Anlass waren, aus dem er seine Heimatprovinz Laghman*verlassen hat. In diesem Zusammenhang verwundert es auch, dass sich der Kläger in der mündlichen Verhandlung nicht in der Lage sah, eindeutig die Frage zu beantworten, wie oft er persönlich von den Taliban angesprochen worden sei. Seine Antwort „ich denke, dass es ein oder zwei Mal vorgekommen ist“ lässt nicht auf eine als ernsthaft wahrgenommene Bedrohung schließen – andernfalls hätte der Kläger sich wohl gemerkt, ob er dem nur einmal oder noch ein weiteres Mal ausgesetzt war. Auch aus der Beschreibung des Rekrutierungsversuchs in der mündlichen Verhandlung – bewaffnete Männer auf Motorrädern haben das Haus umzingelt und versucht, den Kläger zum Mitkommen zu überreden, nachdem er dies abgelehnt hat, sind sie wieder weggefahren – ergibt sich nicht, dass der Kläger eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erlitten hat oder von einer solchen unmittelbar bedroht war. Ob in der Zeit zwischen diesem Ereignis und seinem Wegzug nach Jalalabad noch einmal etwas passiert ist, vermochte der Kläger wiederum nicht eindeutig zu sagen, er gab an: „Es könnte sein, dass in dieser Zeit nichts mehr passiert ist“.
Die Zweifel daran, dass der Antragsteller seine Heimatprovinz Laghman unter dem Druck der drohenden Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung verlassen hat, vermögen die in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Schriftstücke nicht auszuräumen.
Es bestehen gewisse Zweifel, ob der Drohbrief vom 22.03.2015 tatsächlich von einem Taliban-Kommandanten verfasst wurde. Nach den Angaben des Klägers beim Bundesamt am 15.12.2016 hat er Afghanistan „von heute an vor ungefähr drei Jahren“, also ungefähr im Dezember 2013, verlassen und anschließend ein Jahr im Iran gelebt. Die in der mündlichen Verhandlung geschilderten Ereignisse – Rekrutierungsversuch der Taliban und Umzug nach Jalalabad (beides laut Angabe des Klägers im Sommer) und Drohung der Taliban, den Kläger zu töten, wenn er sich nicht binnen zehn Tagen bei ihnen einstellen werde – müssen folglich im Sommer/Herbst 2013 stattgefunden haben. Dass erst ungefähr eineinhalb Jahre später zu einem Zeitpunkt, in dem sich der Kläger schon über ein Jahr außer Landes befand, die Drohung aus dem Jahr 2013 – diesmal in Gestalt eines Drohbriefs – wiederholt wird, erscheint nicht zielführend und daher nicht nachvollziehbar.
Der „Antrag“ der Mutter des Klägers, in dem sie um „Bestätigung meines Anliegens“ bittet, „damit meinem Sohn, sei es im Ausland oder im Inland, geholfen werden kann, damit er ihm drohenden Tod entkommen kann“, deckt sich nicht in jeder Hinsicht mit den Angaben des Klägers. Die Mutter erwähnt (nur) den Kläger, als Bruder ihrer beiden getöteten Söhne, als Flüchtling vor den Taliban und als Grund ihres Anliegens, dessen konkreter Inhalt unklar ist. Laut Angabe des Klägers in der mündlichen Verhandlung lebt in Afghanistan aber noch ein weiterer Bruder, und es verwundert, warum nicht auch dieser Bruder Gegenstand des mütterlichen Anliegens ist. Ferner schreibt die Mutter, dass ihre zwei Söhne durch die Taliban ermordet wurden. Nach Angabe des Klägers in der mündlichen Verhandlung wurde aber nur ein Bruder gezielt von den Taliban getötet, der andere kam als Zivilist in einem Gefecht zwischen Taliban und Regierungstruppen ums Leben. Das ist sehr tragisch, sagt aber nichts über eine dem Kläger von den Taliban individuell drohende unmenschliche oder erniedrigende Behandlung aus. Zur Ermordung des anderen Bruders durch die Taliban hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung zwar angegeben, jener sei umgebracht worden, weil die Taliban auf der Suche nach ihm (dem Kläger) gewesen seien. Er war aber nicht in der Lage, diesen angeblichen Zusammenhang näher zu erläutern. Das erkennende Gericht bezweifelt nicht, dass die Mutter des Klägers zwei Söhne verloren hat. Ihrem „Antrag“ lässt sich aber nicht mit der erforderlichen Überzeugungsgewissheit entnehmen, dass dem Kläger von den Taliban eine konkrete individuelle Gefahr droht. Das gilt folgerichtig auch für die „Bestätigung“ des Antrags, die keinen weiteren Inhalt hat.
1.1.3.2 Selbst wenn man trotz der dargelegten Zweifel davon ausgeht, dass dem Kläger in seiner Heimatprovinz Laghman mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung seitens der Taliban droht, ist ihm gemäß § 4 Abs. 3 in Verbindung mit § 3e Abs. 1 AsylG subsidiärer Schutz nicht zuzuerkennen, weil für ihn in Jalalabad in der Nachbarprovinz Nangarhar nicht die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens besteht und er sicher und legal dorthin reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
Diese Voraussetzungen sieht das erkennende Gericht als erfüllt an, nachdem der nunmehr – im Gegensatz zu damals – erwachsene Kläger nach seinen eigenen Angaben sechs Monate lang, unbehelligt von den Taliban, in Jalalabad gelebt und gearbeitet hat und ihm dort auch kein ernsthafter Schaden in Gestalt einer ernsthaften individuellen Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts gemäß § 4 Sätze 1 und 2 Nr. 3 AsylG droht (siehe dazu 1.1.4).
1.1.4 Dem Kläger droht weder in Laghman noch in Nangarhar ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer ernsthaften individuellen Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG.
1.1.4.1 Der Begriff des internationalen wie auch des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ist unter Berücksichtigung der Bedeutung dieses Begriffs im humanitären Völkerrecht auszulegen. Ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im Sinne des humanitären Völkerrechts liegt jedenfalls dann vor, wenn der bewaffnete Konflikt die Kriterien des Art. 1 Nr. 1 ZP II (Zusatzprotokoll vom 8. Juni 1977 zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte) erfüllt, d.h. wenn er im Hoheitsgebiet einer Hohen Vertragspartei zwischen deren Streitkräften und abtrünnigen Streitkräften oder anderen organisierten bewaffneten Gruppen stattfindet, die unter einer verantwortlichen Führung eine solche Kontrolle über einen Teil des Hoheitsgebiets der Hohen Vertragspartei ausüben, dass sie anhaltende, koordinierte Kampfhandlungen durchführen und dieses Protokoll anzuwenden vermögen. Ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt liegt jedenfalls dann nicht vor, wenn die Ausschlusstatbestände des Art. 1 Nr. 2 ZP II erfüllt sind, es sich also nur um innere Unruhen und Spannungen handelt wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und andere ähnliche Handlungen, die nicht als bewaffnete Konflikte gelten. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss hierfür aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen. Typische Beispiele sind Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfe. Der völkerrechtliche Begriff des „bewaffneten Konflikts“ wurde gewählt, um klarzustellen, dass nur Auseinandersetzungen von einer bestimmten Größenordnung an in den Regelungsbereich der Vorschrift fallen (BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 – 10 C 43/07, Rn. 19 bis 22, juris). Ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt liegt auch dann vor, wenn diese Voraussetzungen nur in einem Teil des Staatsgebietes erfüllt sind (BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 – 10 C 43/07, Rn. 25, juris; Urteil vom 14.07.2009 – 10 C 9/08, Rn. 17, juris; Urteil vom 31.01.2013 – 10 C 15.12, Rn. 13, juris).
1.1.4.2 Die Annahme einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt setzt eine individuelle Verdichtung der allgemeinen von dem bewaffneten Konflikt für eine Vielzahl von Zivilpersonen ungeachtet ihrer Identität ausgehenden Gefahr in der Person des Klägers voraus. Eine derartige Individualisierung der allgemeinen Gefahr kann sich aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Klägers ergeben. Unabhängig davon kann sie ausnahmsweise eintreten, wenn der den bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt zu sein (BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 – 10 C 43/07, Rn. 34 und 35, juris; Urteil vom 14.07.2009 – 10 C 9/08, Rn. 13 bis 15, juris; Urteil vom 27.04.2010 – 10 C 4/09, Rn. 32, juris; Urteil vom 17.11.2011 – 10 C 13/10, Rn. 17 bis 19, juris). Aus diesem Verständnis des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG folgt, dass in jedem Fall Feststellungen über das Niveau willkürlicher Gewalt in dem betreffenden Gebiet getroffen werden müssen. Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich; liegen gefahrerhöhende persönliche Umstände vor, genügt auch ein geringeres Niveau willkürlicher Gewalt. Auch im Fall gefahrerhöhender persönlicher Umstände muss aber ein hohes Niveau willkürlicher Gewalt bzw. eine hohe Gefahrendichte für die Zivilbevölkerung in dem fraglichen Gebiet festgestellt werden. Allein das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts und die Feststellung eines gefahrerhöhenden Umstandes in der Person des Antragstellers reichen hierfür nicht aus. Erforderlich ist vielmehr eine jedenfalls annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 – 10 C 4/09, Rn. 33, juris; Urteil vom 13.02.2014 – 10 C 6/13, Rn. 24, juris). Zu dieser wertenden Betrachtung gehört jedenfalls auch die Würdigung der medizinischen Versorgungslage in dem jeweiligen Gebiet, von deren Qualität und Erreichbarkeit die Schwere eingetretener körperlicher Verletzungen mit Blick auf die den Opfern dauerhaft verbleibenden Verletzungsfolgen abhängen kann (BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 – 10 C 13/10, Rn. 23). Auf die wertende Gesamtbetrachtung kann verzichtet werden, wenn die Höhe des quantitativ ermittelten Risikos eines dem Kläger drohenden Schadens so weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt ist, dass sich der Mangel im Ergebnis nicht auszuwirken vermag. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht bei einem für ein ganzes Jahr ermittelten Verletzungs-/Tötungsrisiko von ungefähr 1:800 (0,125%) angenommen. Die allgemeinen Lebensgefahren, die lediglich Folge des bewaffneten Konflikts sind – etwa eine dadurch bedingte Verschlechterung der Versorgungslage – können nicht in die Bemessung der Gefahrendichte einbezogen werden (BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 – 10 C 43/07, Rn. 35, juris).
1.1.4.3 Liegen die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nicht landesweit vor, kommt die Zuerkennung subsidiären Schutzes in der Regel nur in Betracht, wenn der bewaffnete Konflikt sich auf die Herkunftsregion des Klägers erstreckt, in die er typischerweise zurückkehren wird. In diesem Fall ist weiter zu prüfen, ob der Kläger in anderen Teilen seines Herkunftslandes, in denen derartige Gefahren nicht bestehen, internen Schutz gemäß § 4 Abs. 3 in Verbindung mit § 3e AsylG finden kann. Bei einem regional begrenzten Konflikt außerhalb seiner Herkunftsregion muss der Kläger stichhaltige Gründe dafür vorbringen, dass für ihn eine Rückkehr in seine Herkunftsregion ausscheidet und nur eine Rückkehr gerade in die Gefahrenzone in Betracht kommt (BVerwG, Urteil vom 14.07.2009 – 10 C 9/08, Rn. 17 und 18, juris). Hat sich allerdings der Kläger schon vor der Ausreise und unabhängig von den fluchtauslösenden Umständen von seiner Herkunftsregion gelöst und in einem anderen Landesteil mit dem Ziel niedergelassen, dort auf unabsehbare Zeit zu leben, verliert die Herkunftsregion ihre Bedeutung als Ordnungs- und Zurechnungsmerkmal und scheidet damit als Anknüpfungspunkt für die Gefahrenprognose aus (BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 – 10 C 15/12, Rn. 14, juris).
1.1.4.4 Anknüpfungspunkte für die Gefahrenprognose sind im Falle des Klägers seine Herkunftsprovinz Laghman und die Provinz Nangarhar als interne Fluchtalternative. Ob dort ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt besteht, kann offen bleiben, weil sich gegebenenfalls die von diesem Konflikt ausgehende allgemeine Gefahr nicht zu einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit des Klägers infolge willkürlicher Gewalt verdichtet hat.
Gefahrerhöhende Umstände in der Person des Klägers sind nicht ersichtlich. Das in diesem Fall erforderliche besonders hohe Niveau willkürlicher Gewalt wird weder in Laghman noch in Nangarhar erreicht.
Zwar werden in der Provinz Laghman militärische Operationen durchgeführt, um bestimmte Gegenden von Aufständischen zu befreien, und es finden Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Aufständischen statt (Republik Österreich, BFA Bundesamt für Fremdwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 30.01.2018, Seite 100). Vor diesem Hintergrund erscheint die Schilderung des Klägers glaubhaft, dass er und seine Familie eines Nachts auf Grund von Kampfhandlungen in unmittelbare Lebensgefahr geraten sind und ein Bruder des Klägers als ziviles Opfer ums Leben kam. Das rechtfertigt aber nicht die Annahme, der Kläger werde mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erneut einer ernsthaften individuellen Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit ausgesetzt sein. Denn die von den diversen Kampfhandlungen ausgehende allgemeine Gefahr hat sich nicht zu einer ernsthaften individuellen Bedrohung verdichtet.
Die Bevölkerungszahl der Provinz Laghman wird auf über 450.000 geschätzt (Republik Österreich, BFA Bundesamt für Fremdwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 30.01.2018, Seite 100: 452.922).
Im Zeitraum 01.09.2016 bis 31.05.2017 (9 Monate) wurden in der Provinz Laghman 1.226 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, die sich wie folgt aufgliedern (EASO, Country of Origin Information Report: Afghanistan – Security Situation, Dezember 2017, Seite 188):
Violence targeting individuals = Gewalt gegen Einzelpersonen
67
Armed confrontations and airstrikes = bewaffnete Konfrontationen und Luftangriffe
1.048
Explosions = Selbstmordattentate, IED-Explosionen und andere Explosionen
50
Security enforcement = wirksame Einsätze von Sicherheitskräften
48
Non-conflict related incidents = Vorfälle ohne Bezug auf den Konflikt
12
Other incidents = andere Vorfälle
1
1.226
Davon entfallen (nur) 114 sicherheitsrelevante Vorfälle auf den Distrikt Alingar, den Heimatbezirk des Klägers (EASO, a.a.O.).
Die Zahl der zivilen Opfer (Tote und Verletzte) in ganz Afghanistan betrug von Januar bis Dezember 2016 11.434 und hatte damit den höchsten Stand seit 2009 erreicht. Im Jahr 2017 war ein Rückgang um rund 8% auf 10.453 zu verzeichnen (UNAMA, Afghanistan, Protection of Civilians in Armed Conflict, Annual Report 2017, Februar 2018, S. 1). Davon entfielen 354 zivile Opfer (84 Tote und 270 Verletzte) auf die Provinz Laghman. Auch wenn das gegenüber dem Vorjahr einen Anstieg um 14% bedeutete (UNAMA, Afghanistan, Protection of Civilians in Armed Conflict, Annual Report 2017, Februar 2018, Annex III, S. 66/67), ergibt sich ausgehend von einer Bevölkerungszahl von (nur) 400.000 und einer aufgerundeten Opferzahl von 400 im Jahr 2017 ein Verletzungs-/Tötungsrisiko von nur 0,1% (1:1.000). Dieses quantitativ ermittelte Risiko eines dem Kläger drohenden Schadens ist so weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt, dass auch ohne wertende Gesamtbetrachtung eine Individualisierung der allgemeinen Gefahr verneint werden kann.
In der Provinz Nangarhar kommt es seit dem Auftreten des IS zu Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und IS-Aufständischen, wobei deren Aktivitäten auf einige abgelegene Distrikte beschränkt sind (Republik Österreich, BFA Bundesamt für Fremdwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 30.01.2018, Seite 104). Im Zeitraum 01.09.2016 bis 31.05.2017 (9 Monate) wurden in der Provinz Nangarhar*2.393 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, die sich wie folgt aufgliedern (EASO, Country of Origin Information Report: Afghanistan – Security Situation, Dezember 2017, Seite 198/199):
Violence targeting individuals = Gewalt gegen Einzelpersonen
143
Armed confrontations and airstrikes = bewaffnete Konfrontationen und Luftangriffe
1.397
Explosions = Selbstmordattentate, IED-Explosionen und andere Explosionen
198
Security enforcement = wirksame Einsätze von Sicherheitskräften
454
Non-conflict related incidents = Vorfälle ohne Bezug auf den Konflikt
188
Other incidents = andere Vorfälle
13
2.393
Davon entfallen (nur) 135 sicherheitsrelevante Vorfälle auf den Distrikt Jalalabad (EASO, a.a.O.).
Die Bevölkerungszahl der Provinz Nangarhar wird auf über 1,5 Mio. geschätzt (Republik Österreich, BFA Bundesamt für Fremdwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 30.01.2018, Seite 104: 1.545.448). Von den zivilen Opfern (Toten und Verletzten) in ganz Afghanistan im Jahr 2017 entfielen 862 zivile Opfer (344 Tote und 518 Verletzte) auf die Provinz Nangarhar, was gegenüber dem Vorjahr einen Anstieg um 1% bedeutete (UNAMA, Afghanistan, Protection of Civilians in Armed Conflict, Annual Report 2017, Februar 2018, Annex III, S. 66/67).
Selbst unter Zugrundelegung einer (unrealistisch niedrigen) Bevölkerungszahl von nur 1.000.000 und einer aufgerundeten Opferzahl von 1.000 im Jahr 2017 ergibt sich auch für Nangarhar ein Verletzungs-/Tötungsrisiko von nur 0,1% (1:1.000), das sich bei einer Bevölkerungszahl von 1,5 Mio. auf 0,06% (1:1.667) verringert. Damit besteht für den Kläger, wenn er nach Jalalabad zurückkehrt, dort nicht die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens in Gestalt einer ernsthaften individuellen Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen sicherheitsrelevanter Vorfälle (§ 4 Abs. 1 Sätze 1 und 2 Nr. 3, Abs. 3 in Verbindung mit § 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG).
1.2 Ein nationales Verbot, den Kläger nach Afghanistan abzuschieben, ergibt sich weder aus § 60 Abs. 5 AufenthG noch aus § 60 Abs. 7 AufenthG.
1.2.1 Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten – EMRK – (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Der Verweis auf die EMRK umfasst lediglich „zielstaatsbezogene“, d.h. solche Abschiebungshindernisse, die in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen (BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 – 10 C 15/12, Rn. 35, juris).
Hier ist insbesondere Art. 3 EMRK in den Blick zu nehmen, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf. Das nationale Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK tritt selbständig neben den unionsrechtlichen subsidiären Schutz gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 2 AsylG. Der sachliche Regelungsbereich ist weitgehend identisch (vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 – 10 C 15/12, Rn. 36, juris; Urteil vom 13.06.2013 – 10 C 13/12, Rn. 24 und 25, juris, jeweils zu § 60 Abs. 2 AufenthG in der Fassung vom 25.02.2008). Geht die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung aber nicht von Akteuren im Sinne des § 4 Abs. 3 in Verbindung mit § 3c AsylG aus, sondern wird eine Verletzung des Art. 3 EMRK allein auf die allgemeinen Lebensbedingungen im Herkunftsland gestützt, kommt nur das nationale Abschiebungsverbot in Betracht (vgl. BVerwG, Urteil vom 13.06.2013 – 10 C 13/12, Rn. 25, juris).
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die zur Auslegung des § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK heranzuziehen ist, haben die Staaten – unbeschadet ihrer vertraglichen Verpflichtungen einschließlich derer aus der Konvention selbst – das Recht, die Einreise fremder Staatsbürger in ihr Hoheitsgebiet zu regeln. Die Abschiebung durch einen Konventionsstaat kann aber dessen Verantwortlichkeit nach der Konvention begründen, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene im Falle seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. In einem solchen Fall ergibt sich aus Art. 3 EMRK die Verpflichtung, die Person nicht in dieses Land abzuschieben. Allerdings können Ausländer kein Recht aus der Konvention auf Verbleib in einem Konventionsstaat geltend machen, um dort weiter medizinische, soziale oder andere Hilfe und Unterstützung zu erhalten. Der Schutzbereich des Art. 3 EMRK erstreckt sich nicht allgemein auf soziale Leistungsrechte. Der Umstand, dass im Fall einer Aufenthaltsbeendigung die Lage des Betroffenen einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, reicht nach dieser Rechtsprechung allein nicht aus, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen. Die sozio-ökonomischen und humanitären Verhältnisse im Bestimmungsland sind nicht dafür entscheidend, ob der Betroffene in diesem Gebiet wirklich der Gefahr einer Misshandlung unter Verstoß gegen Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre. Denn die Konvention zielt hauptsächlich darauf ab, bürgerliche und politische Rechte zu schützen. Anderes kann nur in besonderen Ausnahmefällen gelten, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen. Die grundlegende Bedeutung von Art. 3 EMRK macht nach Auffassung des EGMR eine gewisse Flexibilität erforderlich, um in sehr ungewöhnlichen Fällen eine Abschiebung zu verhindern. In ganz außergewöhnlichen Fällen können daher auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind. Doch verpflichtet Art. 3 EMRK die Staaten nicht, Fortschritte in der Medizin sowie Unterschiede in sozialen und wirtschaftlichen Standards durch freie und unbegrenzte Versorgung von Ausländern ohne Bleiberecht zu beseitigen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 25.10.2012 – 10 B 16/12, Rn. 8 und 9, juris; Urteil vom 31.01.2013 – 10 C 15.12, Rn. 23 bis 25, juris, jeweils unter Verweis auf zitierte Rechtsprechung des EGMR).
Bei der Prüfung, ob der Betroffene durch die Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden, stellt der EGMR grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat ab und prüft zunächst, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet (BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 – 10 C 15/12, Rn. 26, juris). Im Falle einer von Akteuren im Sinne des § 4 Abs. 3 in Verbindung mit § 3c AsylG ausgehenden Verletzung des Art. 3 EMRK ist der Anknüpfungspunkt der Gefahrenprognose bei § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG somit ein anderer als bei § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK.
Die hohen Anforderungen an eine allein auf die allgemeinen Lebensbedingungen im Herkunftsland gestützte, Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung sind schon dann nicht erfüllt, wenn zu erwarten ist, dass Rückkehrer in Kabul durch Gelegenheitsarbeiten ein kümmerliches Einkommen erzielen und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums finanzieren können (BVerwG, Beschluss vom 25.10.2012 – 10 B 16/12, Rn. 10, juris).
Gemessen daran sind keine ernsthaften und stichhaltigen Gründe ersichtlich, welche die Annahme rechtfertigen würden, der Kläger laufe im Falle seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr, in Afghanistan allein aufgrund der dortigen allgemeinen Lebensbedingungen einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden.
In Kabul, wo eine Abschiebung des Klägers gegebenenfalls endet, sind die Wohnraumsituation sowie der Dienstleistungsbereich aufgrund der seit Jahren andauernden Primär- und Sekundärfluchtbewegungen im Land, die in Verbindung mit einer natürlichen (nicht konfliktbedingten) Landflucht und Urbanisierung zu Massenbewegungen in Richtung der Stadt geführt haben, extrem angespannt. Im Jahr 2016 wurde die Situation durch den Umstand, dass mehr als 25% der Gesamtzahl der aus Pakistan zurückgekehrten Afghanen nach Kabul gezogen sind, weiter erschwert. Angesichts des Rückgangs der wirtschaftlichen Entwicklung als Folge des massiven Abzugs der internationalen Streitkräfte im Jahr 2014 ist die Aufnahmekapazität der Stadt aufgrund begrenzter Möglichkeiten der Existenzsicherung, Marktliquidität, der fehlenden Verfügbarkeit angemessener Unterbringung sowie des mangelnden Zugangs zu grundlegenden Versorgungsleistungen, insbesondere im Gesundheits- und Bildungswesen, äußerst eingeschränkt (UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern, Dezember 2016). Auch wenn danach das Überleben in Kabul, insbesondere für einen Neuankömmling, täglich aufs Neue eine Herausforderung bis hin zum Überlebenskampf darstellen kann, rechtfertigt die geschilderte Situation nicht die Erwartung, der Kläger werde am Zielort der Abschiebung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht einmal ein Leben am Rande des Existenzminimums führen können. Dass ein solches Leben selbstverständlich nicht wünschenswert ist, reicht für die Annahme eines ganz außergewöhnlichen Falles, in dem die humanitären Gründe gegen die Abschiebung „zwingend“ sind, nicht aus.
Für ganz Afghanistan gilt, dass es zu den ärmsten und am wenigsten entwickelten Ländern der Welt gehört (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage, 14.09.2017, Seite 27). Die damit einhergehenden Lebensbedingungen, die in der bundesdeutschen Sozialstaatswirklichkeit keine Entsprechung finden, teilt der Kläger im Falle einer Rückkehr aber mit Millionen seiner Landsleute, die irgendwie damit zurechtkommen. Erkenntnisse, dass der Gesamtheit oder weiten Teilen der Bevölkerung Afghanistans der Hunger- oder Kältetod drohen würde, weil sie nicht in der Lage wären, selbst die elementarsten Grundbedürfnisse zu decken, liegen nicht vor. In der Regel haben die afghanischen Asylbewerber ihr Heimatland auch nicht aus existenzieller Not verlassen, sondern berichten häufig von durchschnittlichen oder sogar von guten wirtschaftlichen Verhältnissen. Im Allgemeinen ist daher eine Verletzung des Art. 3 EMRK allein aufgrund der Lebensbedingungen in Afghanistan nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten.
Insbesondere für einen leistungsfähigen, erwachsenen, afghanischen Mann ohne Unterhaltsverpflichtung – zu diesem Personenkreis gehört der nunmehr 20-jährige Kläger -, auch wenn er keine familiären oder sozialen Unterstützungsnetzwerke hat, besteht im Allgemeinen – wenn nicht besondere, individuell erschwerende Umstände hinzukommen – in Afghanistan, insbesondere auch in Kabul, trotz der schlechten humanitären Bedingungen und Sicherheitslage keine Gefahrenlage, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK und infolgedessen zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG führt (VGH Baden Württemberg, Urteil vom 17.01.2018 – A 11 S 241/17, Rn. 470 ff, juris).
Beim Kläger kommt hinzu, dass er – wie dargelegt – nach Jalalabad zurückkehren kann, wo er schon einmal gelebt und gearbeitet hat. In der Bundesamtsanhörung gab er auf die Frage, wie er seine wirtschaftliche Lage im Heimatland einschätze – gut, mittel oder schlecht – „gut“ an. Wenn er schon als Jugendlicher in Jalalabad auf dem Bau Arbeit gefunden hat, ist nicht ersichtlich, warum ihm das nicht wieder gelingen sollte, zumal er als erwachsener junger Mann den Aufgaben und Anforderungen besser gewachsen sei dürfte.
1.2.2 Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Hierbei muss es sich um eine individuelle Gefahr handeln. Gefahren nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen (Sperrwirkung).
Demgemäß kann ein Ausländer nur ausnahmsweise im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein qualitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Dabei sind die Verhältnisse im ganzen Land in den Blick zu nehmen und – wie bei § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Art. 3 EMRK – zunächst die Verhältnisse am Zielort der Abschiebung zu prüfen (BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 – 10 C 15.12, Rn. 38, juris). Eine existenzielle Gefahrenlage in diesem Sinne ist schon dann zu verneinen, wenn in tatsächlicher Hinsicht zu erwarten ist, dass Rückkehrer durch Gelegenheitsarbeiten ein kümmerliches Einkommen erzielen und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums finanzieren können. Die medizinische Versorgungslage ist nur bei akut behandlungsbedürftigen Vorerkrankungen oder in Fällen von Bedeutung, in denen aufgrund der allgemeinen Lebensverhältnisse mit einer entsprechend hohen Wahrscheinlichkeit eine lebensbedrohliche Erkrankung zu erwarten ist, für die dann faktisch kein Zugang zu medizinischer (Grund-)Versorgung besteht (BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 – 10 C 15.12, Rn. 39, juris).
Wie sich bereits aus den Ausführungen zu § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK ergibt, droht dem Kläger in Afghanistan nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit eine existenzielle Gefahrenlage in diesem Sinne.
1.3 Wurde nach alledem der Asylantrag des Klägers zu Recht abgelehnt und zu Recht festgestellt, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen, bestehen auch gegen die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung gemäß § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG keine Bedenken.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gem. § 83b AsylG nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO.

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