Verwaltungsrecht

Keine Ablehnung eines Asylantrags als unzulässiger Zweitantrag „ins Blaue hinein“ ohne sichere Kenntnis davon, dass der Asylantrag in einem Mitgliedstaat erfolglos abgeschlossen wurde

Aktenzeichen  M 9 S 17.46827

Datum:
14.11.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 26a, § 29 Abs. 1 Nr. 5, § 36, § 71a
VwGO VwGO § 80 Abs. 5
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 23, Art. 34
VwVfG VwVfG § 51

 

Leitsatz

Ein erfolgloser Abschluss des in einem anderen Mitgliedstaat betriebenen Asylverfahrens setzt voraus, dass der Asylantrag entweder unanfechtbar abgelehnt oder das Verfahren nach Rücknahme des Asylantrags bzw. dieser gleichgestellten Verhaltensweisen endgültig – d.h. ohne die Möglichkeit einer Wiederaufnahme auf Antrag des Asylbewerbers – eingestellt worden ist; maßgeblich ist dabei die Rechtslage in dem betreffenden Mitgliedstaat. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage (Az.: M 9 K 17.46826) der Antragstellerin gegen Nr. 3 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 25. Juli 2017 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
Die Antragstellerin ist (alles nach eigenen Angaben, Dokumente hat die Antragstellerin nach eigenen Angaben keine, vgl. z.B. Bl. 54 der Bundesamtsakten, allerdings wurde im Lauf des Verwaltungsverfahrens eine Geburtsurkunde vorgelegt, Bl. 67 der Bundesamtsakten, sowie eine Heiratsurkunde, Bl. 75f. der Bundesamtsakten) nigerianische Staatsangehörige und geboren am 12. Dezember 1990. Sie reiste am 15. November 2015 (vgl. Bl. 21 der Bundesamtsakten) in das Bundesgebiet ein und stellte am 13. Mai 2016 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) – Außenstelle Regensburg einen Asylantrag.
Mit Bescheid vom 25. Juli 2017 lehnte das Bundesamt den Antrag als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2) und forderte die Antragstellerin auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen und drohte die Abschiebung nach Nigeria an (Nr. 3). Die Nr. 4 des Bescheids enthält die Befristungsentscheidung hinsichtlich des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG. Zur Begründung ist u.a. ausgeführt, dass es sich beim Asylantrag der Antragstellerin um einen Zweitantrag i.S.v. § 71a AsylG handele. Italien habe am 20. Juni 2017 mitgeteilt, dass die Antragstellerin dort lediglich eine Aufenthaltsgenehmigung basierend auf „humanitarian reasons“, die bis zum 25. November 2017 gültig sei, erhalten habe. Der Asylantrag sei somit erfolglos geblieben und negativ entschieden worden. Im Übrigen wird auf den Bescheid und seine Begründung Bezug genommen.
Der Bescheid wurde der Antragstellerin ausweislich der bei den Bundesamtsakten befindlichen Kopie der Postzustellungsurkunde am 27. Juli 2017 zugestellt.
Die Antragstellerin ließ mit Schreiben ihres damaligen Bevollmächtigten vom 31. Juli 2017, beim Verwaltungsgericht München eingegangen am 2. August 2017, Klage erheben (M 9 K 17.46826).
Außerdem ließ der Antragstellerin im selben Schriftsatz beantragen,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung anzuordnen.
Hinsichtlich der Begründung der Rechtsbehelfe wird auf das Schreiben sowie auf das weitere Schreiben vom 12. August 2017 Bezug genommen.
Mittlerweile hat sich eine neue Bevollmächtigte für die Antragstellerin bestellt.
Die Antragsgegnerin legte die Behördenakten vor, äußerte sich in der Sache aber nicht.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten in diesem und im dazugehörigen Klageverfahren und der vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag hat Erfolg.
Der auf die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage (gegen den Bescheid vom 25. Juli 2017, der den Asylantrag der Antragstellerin gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 Var. 2 AsylG als unzulässig ablehnt) gerichtete Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO hinsichtlich der nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 AsylG kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Abschiebungsandrohung (vgl. § 71a Abs. 4 i.V.m. § 36 Abs. 1 AsylG) ist zulässig, insbesondere fristgerecht erhoben, und begründet.
Nach dem gemäß § 71a Abs. 4 AsylG anwendbaren Prüfungsmaßstab des § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf die Aussetzung der Abschiebung nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen, wobei Tatsachen und Beweismittel, die von den Beteiligten nicht angegeben worden sind, unberücksichtigt bleiben, es sei denn, sie sind gerichtsbekannt oder offenkundig (§ 36 Abs. 4 Satz 2 AsylG). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach– und Rechtslage ist der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts, § 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes liegen vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Abschiebungsandrohung einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – BVerfGE 94, 166 ff.).
Entsprechend diesem Maßstab ist die aufschiebende Wirkung anzuordnen.
Gemäß § 71a AsylG ist im Falle eines Zweitantrags ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Antragsgegnerin für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen. Ein Zweitantrag liegt vor, wenn der Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat im Sinne von § 26a AsylG und § 71a Abs. 1 AsylG im Bundesgebiet einen Asylantrag stellt.
Die Antragsgegnerin ist auf Grund des Fristablaufs gemäß Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO für das Asylverfahren gemäß Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO zuständig geworden; das wurde von den Behörden der Antragsgegnerin auch erkannt, vgl. Bl. 46 der Bundesamtsakten.
Jedoch fehlt es an der für die Annahme eines Zweitantrags notwendigen Voraussetzung, dass das Asylverfahren im sicheren Drittstaat, um den es sich bei Italien zweifelsohne handelt, erfolglos abgeschlossen wurde.
Ein erfolgloser Abschluss des in einem anderen Mitgliedstaat betriebenen Asylverfahrens setzt voraus, dass der Asylantrag entweder unanfechtbar abgelehnt oder das Verfahren nach Rücknahme des Asylantrags bzw. dieser gleichgestellten Verhaltensweisen endgültig – d.h. ohne die Möglichkeit einer Wiederaufnahme auf Antrag des Asylbewerbers – eingestellt worden ist (BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4/16 – juris Rn. 30 ff.). Maßgeblich für die entsprechende Beurteilung ist die Rechtslage in dem betreffenden Mitgliedstaat (BVerwG, U.v. 14.12.2016 a.a.O. – juris Rn. 33 ff.). Diese Voraussetzungen müssen feststehen – bloße Mutmaßungen genügen nicht (Bruns in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 71a AsylG Rn. 9). Ist dem Bundesamt der aktuelle Stand des Verfahrens in dem anderen Mitgliedstaat nicht bekannt, muss es diesbezüglich zunächst weitere Ermittlungen anstellen, insbesondere im Rahmen der für den Informationsaustausch vorgesehenen sog. Info– Request (vgl. Art. 34 Dublin III-VO; BayVGH, U.v. 13.10.2016 – 20 B 14.30212 – juris Rn. 39 ff.; U.v. 13.10.2016 – 20 B 15.30008 – juris Rn. 42 ff.). Erforderlich sind danach stets die Informationen zum Verfahrensstand und zum Tenor einer ggfs. getroffenen Entscheidung in dem Mitgliedstaat (vgl. Art. 34 Abs. 2 Buchst. g Dublin-III –VO), ob darüber hinaus – im Hinblick auf eine Beurteilung der Voraussetzungen nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG – zumindest in der Regel die Kenntnis der Entscheidungsgründe der Ablehnung in dem anderen Mitgliedstaat (vgl. Art. 34 Abs. 3 Dublin– III –VO) erforderlich ist, ist umstritten, kann hier aber offen bleiben. Ebenso wenig kommt es hier darauf, dass sich das erfolglos abgeschlossene Asylverfahren in einem anderen Mitgliedstaat auch auf die Gewährung des unionsrechtlichen subsidiären Schutzes beziehen muss.
Denn die Voraussetzungen für eine Ablehnung des Asylantrags als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG liegen hier offensichtlich nicht vor, weil der erfolglose Abschluss des Asylverfahrens in Italien nicht nachgewiesen ist.
Die Behörde der Antragsgegnerin geht im streitgegenständlichen Bescheid zu Unrecht davon aus, dass die Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz in Italien hinreichend feststeht. Das ist nämlich gerade nicht der Fall. Das Bundesamt hat es im streitgegenständlichen Bescheid genügen lassen, dass Italien auf die Anfrage des Bundesamts vom 3. Februar 2017 bzw. auf das Erinnerungsschreiben vom 3. Mai 2017 mit Schreiben des Ministero dell‘ Interno vom 20. Juni 2017 (Bl. 106 der Bundesamtsakten) in Bezug auf die Antragstellerin mitgeteilt hat:
„He [sic!] was issued a permit of stay for Reasons Umanitary expiring on 25.11.2017“.
Diese Mitteilung ist für die Feststellung des negativen Abschlusses des Asylverfahrens der Antragstellerin in Italien aber nicht hinreichend aussagekräftig.
Grundsätzlich hat das Bundesamt, vgl. die oben dargestellten Nachweise, die Auskunft des jeweiligen Mitgliedstaats einzuholen; das ist hier geschehen. Die Antwort Italiens gibt aber den Inhalt, den ihr das Bundesamt beimisst – nämlich den Beleg, dass der Asylantrag der Antragstellerin unanfechtbar abgelehnt ist – nicht her. Das Bundesamt hat zunächst, wie der Vermerk auf Bl. 109 der Bundesamtsakte belegt, selbst erkannt, dass es „in der Antwort Italiens auf das Info Request […] keine Angabe zur Anerkennung/ Ablehnung der Flüchtlingseigenschaft/ des subsidiären Schutzes“ gibt. Für den weiterhin aus der italienischen Mitteilung vom Bundesamt gezogenen Schluss, dass die Ausstellung einer Aufenthaltsgenehmigung basierend auf „humanitarian reasons“ belege, dass der Asylantrag der Antragstellerin in Italien nach der materiell-rechtlichen Prüfung abgelehnt wurde, gibt es jedoch keine Grundlage. Dafür hat die Antragsgegnerin bereits nicht dargetan, dass diese italienische Aufenthaltsgenehmigung nach italienischem Recht – bei ausländischem Recht handelt es sich im gerichtlichen Verfahren nicht um eine Rechts-, sondern um eine Tatsachenfrage – den zwingenden Schluss erlaubt, dass diesen Titel nur und ausschließlich derjenige erhält, dessen Antrag auf internationalen Schutz unanfechtbar abgelehnt wurde. Dieser Schluss liegt nicht einmal nahe; in diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach deutschem Aufenthaltsrecht die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach Kapitel 2 Abschnitt 5 AufenthG nicht ausgeschlossen ist, obwohl noch kein abgeschlossenes Asylverfahren vorliegt (ein Beispiel hierfür ist etwa die Vorschrift des § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG; aber auch andere Konstellationen sind ohne weiteres denkbar). Wesentlich praktischer ist aber noch folgende Konstellation: Es ist ohne weiteres denkbar, dass der Antragstellerin ein Abschiebungsverbot gewährt und der entsprechende Aufenthaltstitel erteilt, die weitergehende Gewährung von Flüchtlingsschutz zwar abgelehnt wurde, die letztere Entscheidung aber noch nicht bestandskräftig ist; auch nach italienischem Recht kann es so etwas wie die bei uns sogenannten Aufstockungsklagen geben. Dass das alles im italienischen Aufenthaltsrecht theoretisch anders sein kann und dort der Schluss von der erteilten Aufenthaltsgenehmigung „for humanitarian reasons“ auf ein vorher unanfechtbar abgelehntes Asylverfahren zwingend ist, ist unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen; das darf die Behörde der Antragsgegnerin aber nicht einfach „ins Blaue hinein“ unterstellen, sondern sie müsste es belegen. Kann oder will sie das nicht, darf sie den hier gestellten Asylantrag nicht ohne tragfähige Auskunft des zuständigen Mitgliedstaats über den Ausgang des dortigen Verfahrens für unzulässig erklären.
Auch einen anderen Beleg, der sicheren Aufschluss darüber gibt, dass das Asylverfahren in dem anderen Mitgliedstaat unanfechtbar abgeschlossen ist (bspw., wenn der Antragsteller selbst die entsprechende Asyl-Entscheidung vorlegt), gibt es nicht; die Antragstellerin hat in der Anhörung nach § 25 AsylG ausgeführt, sie habe einen Asylantrag gestellt, über diesen sei aber nach ihrem Kenntnisstand noch nicht entschieden worden.
Im Klageverfahren in der Hauptsache müsste die Antragsgegnerin, will sie vermeiden, dass der angefochtene Bescheid aufgehoben wird, einen tauglichen Beleg vorlegen für den Umstand der unanfechtbaren Ablehnung des Asylantrags der Antragstellerin in Italien, vorzugsweise, indem sie doch noch eine entsprechende aussagekräftige Antwort der italienischen Behörden auf die wirklich interessierende Frage, nämlich ob das Asylverfahren der Antragstellerin unanfechtbar abgeschlossen ist, vorlegt. Tut sie das nicht zeitnah, wird der Bescheid im Rahmen der Klage aufgehoben werden.
Nachdem auch eine Aufrechterhaltung des Bescheids im Hinblick auf die Einreise aus einem sicheren Drittstaat (§ 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG) aufgrund der Zuständigkeit Deutschlands für das Asylverfahren nicht möglich ist (BVerwG, U.v. 14.12.2016 a.a.O. – juris Rn. 41, 42) und auch keine sonstige „geltungserhaltende Auslegung“ des streitgegenständlichen Bescheids möglich ist, wird die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).

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