Verwaltungsrecht

Keine Ablehnung von Prozesskostenhilfe bei Bedürfnis weiterer Aufklärung im Hauptsacheverfahren – Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG

Aktenzeichen  10 C 20.3063

Datum:
2.2.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 1648
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 25 Abs. 2, Abs. 5, § 33
AufenthV § 31
VwGO § 166 Abs. 1 S. 1
ZPO § 114 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

1. Die Prüfung der Erfolgsaussichten soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der mit der Durchführung des Visumverfahrens üblicherweise einhergehende Zeitablauf ist von demjenigen, der einen (dauerhaften) Aufenthalt zur Führung einer familiären Lebensgemeinschaft begehrt, regelmäßig hinzunehmen; unzumutbar ist die Trennung nur, wenn die Abschiebung aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalles zwangsläufig zu einer dauerhaften bzw. einer nicht absehbaren Trennung führt. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 1 K 20.1968 2020-12-02 Bes VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

Dem Kläger wird unter Aufhebung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 2. Dezember 2020 für seine Klage (Au 1 K 20.1968) Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwältin B…, M …, beigeordnet.

Gründe

I.
Der Kläger, ein nigerianischer Staatsangehöriger, verfolgt mit seiner Beschwerde seinen in erster Instanz erfolglosen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für seine beim Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg anhängige Klage weiter. Mit dieser Klage begehrt er die Verpflichtung des Beklagten, ihm eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.
Der Kläger reiste im Dezember 2015 in die Bundesrepublik ein und stellte einen Asylantrag, der mit Bescheid 18. Oktober 2017 abgelehnt wurde. Eingelegte Rechtsmittel hiergegen blieben erfolglos (VG Augsburg, U.v. 4.5.2020 – 9 K 17.35094; BayVGH, B.v. 25.6.2020 – 10 ZB 20.31288). Seit dem 25. Juni 2020 ist der Kläger vollziehbar ausreisepflichtig.
Der Kläger ist Vater dreier in den Jahren 2016, 2018 und 2019 geborener, im Bundegebiet lebender Kinder. Die Mutter und das älteste Kind sind als Flüchtlinge anerkannt und im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Alt. 1 AufenthG. Die jüngeren Kinder sind im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 33 AufenthG.
Einen Antrag des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 14. September 2020 ab. Aufgrund der Titelerteilungssperre des § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG komme eine Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenhtG nicht in Betracht. Auch die Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 AufenthG lägen nicht vor. Eine Trennung von seinen Kindern zur Durchführung des Visumverfahrens sei dem Kläger zumutbar. Die aufgrund der Corona-Pandemie bestehen Beschränkungen der Reisemöglichkeiten seien nur vorübergehend. Der Kläger könne entsprechende Vorarbeiten für das Visumverfahren auch im Hinblick auf eine Vorabzustimmung nach § 31 AufenthV von Deutschland aus erledigen. Davon habe der Kläger aber keinen Gebrauch gemacht.
Hiergegen erhob der Kläger Verpflichtungsklage zum Verwaltungsgericht Augsburg und beantragte zugleich die Gewährung von Prozesskostenhilfe.
Mit Beschluss vom 2. Dezember 2020 lehnte das Verwaltungsgericht den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ab. Der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis stehe die Titelerteilungssperre des § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG entgegen. Ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ergebe sich nicht aus § 36 Abs. 2 AufenthG, weil diese Regelung eine Ermessensentscheidung voraussetze. Eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG komme nicht in Betracht. Es sei bereits fraglich, ob die Regelung für ein sich aus Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK ergebendes Ausreisehindernis herangezogen werden könne, wenn die Erteilungsvoraussetzungen für speziellere Regelungen nicht erfüllt seien. Jedenfalls sei die Ausreise des Klägers nicht unmöglich. Der Kläger besitze einen gültigen nigerianischen Reisepass, eine vorübergehende Trennung des Klägers von seinen Kindern sei nicht von vornherein unzumutbar. Mangels irgendwelcher Bemühungen des Klägers könne keine Vorstellung entwickelt werden, welcher Trennungszeitraum zu erwarten sei. Daher könne zumindest derzeit nicht von einer Unmöglichkeit der Ausreise ausgegangen werden.
Hiergegen richtet sich der Kläger mit seiner Beschwerde. Die tatsächliche Dauer des Visumverfahrens sei nicht absehbar.
Für den Beklagten hat die Landesanwaltschaft Bayern Stellung genommen. Sie verteidigt den erstinstanzlichen Beschluss.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Verwaltungs- und Gerichtsakten.
II.
Die Beschwerde ist zulässig (§ 146 Abs. 1 VwGO) und begründet. Das Verwaltungsgericht hat dem Kläger Prozesskostenhilfe zu Unrecht versagt.
1. Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist einer Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Hinsichtlich der Erfolgsaussichten dürfen die Anforderungen nicht überspannt werden. Eine überwiegende Wahrscheinlichkeit in dem Sinn, dass der Prozesserfolg schon gewiss sein muss, ist nicht erforderlich, sondern es genügt bereits eine sich bei summarischer Überprüfung ergebende Offenheit des Erfolgs. Die Prüfung der Erfolgsaussichten soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz, den der Rechtsstaatsgrundsatz erfordert, nämlich nicht selbst bieten, sondern ihn erst zugänglich machen (stRspr d. BVerfG, vgl. z.B. B.v. 4.8.2016 – 1 BvR 380/16 – juris Rn. 12; B.v. 28.7.2016 – 1 BvR 1695/15 – juris Rn. 16 f.; B.v. 13.7.2016 – 1 BvR 826/13 – juris Rn. 11 f.; B.v. 20.6.2016 – 2 BvR 748/13 – juris Rn. 12). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Erfolgsaussichten ist der Zeitpunkt der Bewilligungsreife, der gegeben ist, sobald die vollständigen Prozesskostenhilfeunterlagen vorliegen und die Gegenseite mit angemessener Frist zur Stellungnahme angehört worden ist, hier also der 25. Januar 2021, an dem die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse erstmals vorgelegt wurde.
2. Gemessen daran bietet die Klage hinreichende Erfolgsaussichten, denn es ist offen, ob dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG erteilt werden kann. Im Hauptsachverfahren zu klären ist insbesondere, ob die Ausreise und Widereinreise wegen der zu erwartenden Dauer des Visumverfahrens vor dem Hintergrund der familiären Beziehung des Klägers zu seinen Kindern unzumutbar und damit rechtlich unmöglich ist.
Der mit der Durchführung des Visumverfahrens üblicherweise einhergehende Zeitablauf ist von demjenigen, der einen (dauerhaften) Aufenthalt zur Führung einer familiären Lebensgemeinschaft begehrt, regelmäßig hinzunehmen. Unzumutbar ist die Trennung nur, wenn die Abschiebung aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalles zwangsläufig zu einer dauerhaften bzw. einer nicht absehbaren Trennung führt (BayVGH, B.v. 2.12.2020 – 10 CE 20.2680 – juris 19; OVG LSA, B.v. 9.10.2020 – 2 M 89/20 – juris Rn. 15 jeweils m.w.N.). Ein hohes Gewicht haben die Folgen einer vorübergehenden Trennung insbesondere, wenn – wie vorliegend – sehr kleine Kinder betroffen sind, die den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen können und diese rasch als endgültigen Verlust erfahren (vgl. BVerfG, B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris Rn. 22; B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris Rn. 14; B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – juris Rn. 17).
Gemessen daran bedarf es vorliegend weiterer Aufklärung im Hauptsacheverfahren, ob und wann der Kläger im Falle einer Ausreise mit seiner Rückkehr nach Deutschland zu seiner Familie rechnen kann. Angesichts der (auch im Zeitpunkt der Bewilligungsreife aktuellen) Beschränkung der Beantragung von Visa beim Deutschen Konsulat in Lagos auf „emergency appointments“ (vgl. https://nigeria.diplo.de/) ist noch nicht einmal klar, ob der Kläger überhaupt ein Visum beantragen kann. Unklar ist auch, mit welcher Bearbeitungsdauer für den Visumantrag zu rechnen ist. Die dem Senat bekannten Auskünfte des Auswärtigen Amtes zur absehbaren Verfahrensdauer an eine andere Ausländerbehörde des Beklagten stammen aus der Zeit vor der Corona-Pandemie und sind daher nicht mehr aussagekräftig.
Auch der Hinweis vom Beklagten und Verwaltungsgericht auf eine möglicherweise unzureichende Mitwirkung des Klägers im Hinblick auf eine möglichst kurze Dauer des Visumverfahrens führt nicht zu der Annahme, dass die Klage keine hinreichenden Erfolgsaussichten hätte. Es bedarf jedenfalls näherer Prüfung im Hauptsacheverfahren, ob die Unabsehbarkeit der Dauer des Visumverfahrens ihre Ursache allein im Verhalten des Klägers hat. Da es bei der Verkürzung des Visumverfahrens um die Beseitigung der rechtlichen Unmöglichkeit (Unzumutbarkeit) einer Ausreise geht, treffen nämlich auch die Ausländerbehörde insoweit Pflichten.
Nach ständiger Rechtsprechung des Senats (BayVGH, U.v. 23.3.2006 – 24 B 05.2889 – juris; U.v. 11.12 2006 – 24 B 06.2158 – juris; U. v. 14.3.2012 – 10 B 10.109 – juris Rn. 34; B.v. 7.5.2018 – 10 CE 18.464 – juris Rn. 11) gelten für die wechselseitigen Pflichten des Ausländers und der Ausländerbehörde folgende Grundsätze: Aus § 82 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ergibt sich für den Ausländer eine Mitwirkungs- und Initiativpflicht. Dies bedeutet, dass er an allen zumutbaren Handlungen mitwirken muss, die die Behörden von ihm verlangen. Er ist gehalten, die von ihm konkret geforderten Schritte zu unternehmen sowie konstruktiv die ihm aufgezeigten Aktivitäten zu entwickeln. Daneben hat er eigenständig die Initiative zu ergreifen, um nach Möglichkeiten zu suchen, bestehende Ausreisehindernisse zu beseitigen. Die zuständige Behörde hat den Ausländer auf seine Pflichten hinzuweisen (§ 82 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Daneben ist die Behörde auch gehalten, von sich aus das Verfahren weiter zu betreiben und auf weitere, dem Antragsteller gegebenenfalls nicht bekannte Möglichkeiten aufmerksam zu machen und diese mit ihm zu erörtern.
Ob vorliegend die Ausländerbehörde alles ihrerseits Erforderliche getan hätte, um auf eine zumutbare Dauer des Visumverfahrens und die damit verbundene Trennung des Klägers von seinen Kindern hinzuwirken, bedarf weiterer Aufklärung im gerichtlichen Verfahren. Weder aus dem Anhörungsschreiben vom 12. August 2020 noch aus dem vom Verwaltungsgericht herangezogenen Vermerk über eine persönliche Vorsprache des Klägers am 14. August 2020 ergibt sich, dass mit dem Kläger Möglichkeiten zur Beschleunigung des Visumverfahrens erörtert worden wären. Dem Kläger wurde jeweils nur mitgeteilt, seiner Ausreise stünde aufgrund des Vorliegens eines Passes nichts im Wege. Von einer Wiedereinreise oder gar Möglichkeiten zur Beschleunigung des Visumverfahrens war nicht die Rede. Im persönlichen Gespräch am 14. August 2020 wurde dem Kläger – jedenfalls nach dem entsprechenden Vermerk der Ausländerbehörde – lediglich angeboten, die Ausreisefrist zu verlängern, wenn er sich um eine freiwillige Ausreise bemühe. Vor diesem Hintergrund kann der Umstand, dass die Dauer des Visumverfahrens nicht absehbar ist, nicht ohne weitere Sachverhaltsaufklärung einseitig dem Kläger zugerechnet werden.
Soweit das Verwaltungsgericht schließlich – nicht tragend – darauf hinweist, dass der Senat wiederholt Zweifel daran gehegt hat, ob § 25 Abs. 5 AufenthG in der vorliegenden Konstellation vor dem Hintergrund der Regelungen über Aufenthaltserlaubnisse zum Familiennachzug überhaupt anwendbar ist (vgl. zuletzt etwa BayVGH, B.v. 3.9.2019 – 10 C 19.1700 – juris Rn. 4 m.w.N.), ist diese Rechtsfrage höchstrichterlich nicht geklärt. Auch vor diesem Hintergrund können der Klage hinreichende Erfolgsaussichten nicht abgesprochen werden.
Ausweislich der im Beschwerdeverfahren vorgelegten Unterlagen über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers liegen auch insofern die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe vor.
3. Einer Kostenentscheidung bedarf es nicht. Eine Gebühr nach Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG) fällt nicht an, da die Beschwerde in vollem Umfang Erfolg hat. Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO).
4. Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

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