Verwaltungsrecht

Keine Abschiebung eines im Iran aufgewachsenen Hazara aufgrund zu erwartender unmenschlicher Behandlung in Afgahnistan

Aktenzeichen  W 1 K 17.30385

Datum:
17.7.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
EMRK EMRK Art. 3
AufenthG AufenthG § 11 Abs. 1, § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1

 

Leitsatz

Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG für einen Hazara aufgrund einer besonderen Ausnahmesituation, da der Kläger bei seiner Rückkehr nach Afghanistan dort ohne familiären Rückhalt oder verwandtschaftliche Strukturen ganz auf sich alleine gestellt wäre, mit seiner Familie Afghanistan im Alter von fünf Jahren verlassen hat und mit 16 Jahren aus dem Iran geflüchtet ist, lediglich über eine elementare Grundbildung verfügt und keinen Beruf erlernt hat. (Rn. 18 – 19) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 24. Januar 2017 verpflichtet festzustellen, dass bei dem Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegt.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Über die Klage konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da die Beteiligten durch Schriftsatz vom 14. Juli 2017 bzw. allgemeine Prozesserklärung vom 27. Juni 2017 ihr Einverständnis erteilt haben, § 101 Abs. 2 VwGO.
Die zulässige Klage ist – soweit sie Gegenstand dieses Verfahrens ist – begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG unter entsprechender Aufhebung des Bundesamtsbescheides vom 24 Januar 2017 (§ 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unzulässig ist. Einschlägig ist hier Art. 3 EMRK, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf. Das wäre beim Kläger der Fall, wenn er nach Afghanistan zurückkehren müsste. Der Kläger muss befürchten, aufgrund der dortigen Lage unter Berücksichtigung seiner individuellen Situation einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Zwar macht der Kläger nicht geltend, dass ihm näher spezifizierte, konkrete Maßnahmen drohen würden, sondern er beruft sich auf die allgemein schlechte Lage in seinem Heimatland. Die zu erwartenden schlechten Lebensbedingungen und die daraus resultierenden Gefährdungen weisen im vorliegenden Einzelfall aber eine Intensität auf, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszuge-hen ist (BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30284, B.v. 11.01.2017 – 13a ZB 16.30878).
Der Schutzbereich des § 60 Abs. 5 AufenthG ist auch bei einer allgemeinen, auf eine Bevölkerungsgruppe bezogenen Gefahrenlage eröffnet (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris; BayVGH v. 21.11.2014, aaO, juris-Rn. 16ff.). Es ist hierbei in Bezug auf den Gefährdungsgrad das Vorliegen eines sehr hohen Niveaus erforderlich, denn nur dann liegt ein außergewöhnlicher Fall vor, in dem die humanitären Gründe gegen eine Ausweisung „zwingend“ sind. Wenn das Bundeswartungsgericht (a.a.O.) die allgemeine Lage in Afghanistan nicht als so ernst einstuft, dass ohne weiteres eine Verletzung des Art. 3 EMRK angenommen werden könne, weist dies ebenfalls auf die Notwendigkeit einer besonderen Ausnahmesituation hin (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014, a.a.O. Rn. 19). Eine solche ist jedoch bei dem Kläger gegeben.
Die aktuelle Lage in Afghanistan und in der Hauptstadt Kabul stellen sich wie folgt dar:
Das Auswärtige Amt führt in seinem Lagebericht vom 19. Oktober 2016 (a.a.O. S. 21 ff.) aus, dass Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt sei und trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der Regierung und kontinuierlicher Fortschritte im Jahr 2015 lediglich Rang 171 von 187 im Human Development Index belegt habe. Die afghanische Wirtschaft ringe in der Übergangsphase nach Beendigung des NATO-Kampfeinsatzes zum Jahresende 2014 nicht nur mit der schwierigen Sicherheitslage, sondern auch mit sinkenden internationalen Investitionen und der stark schrumpfenden Nachfrage durch den Rückgang internationaler Truppen um etwa 90%. So seien ausländische Investitionen in der ersten Jahreshälfte 2015 bereits um 30% zurückgegangen, zumal sich die Rahmenbedingungen für Investoren in den vergangenen Jahren kaum verbessert hätten. Die wirtschaftliche Entwicklung bleibe durch die schwache Investitionstätigkeit geprägt. Ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum scheine kurzfristig nicht in Sicht. Rund 36% der Bevölkerung lebe unterhalb der Armutsgrenze. Die Grundversorgung sei für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, was für Rückkehrer naturgemäß verstärkt gelte. Dabei bestehe ein eklatantes Gefälle zwischen urbanen Zentren wie z.B. Kabul und ländlichen Gebieten Afghanistans. Das rapide Bevölkerungswachstum stelle eine weitere Herausforderung für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes dar. Zwischen den Jahren 2012 und 2015 werde das Bevölkerungswachstum auf rund 2,4% pro Jahr geschätzt, was in etwa einer Verdoppelung der Bevölkerung innerhalb einer Generation gleichkomme. Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibe eine zentrale Herausforderung. Nach Angaben des afghanischen Statistikamtes sei die Arbeitslosenquote im Oktober 2015 auf 40% gestiegen. Die internationale Gemeinschaft unterstütze die afghanische Regierung maßgeblich in ihren Bemühungen, die Lebensbedingungen der Menschen in Afghanistan zu verbessern. Aufgrund kultureller Bedingungen seien die Aufnahme und die Chancen außerhalb des eigenen Familien- bzw. Stammesverbandes vor allem in größeren Städten realistisch.
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (Afghanistan: Update – Die aktuelle Si-cherheitslage vom 30. September 2016, Seite 24 ff.) führt aus, Afghanistan bleibe weiterhin eines der ärmsten Länder weltweit. Die bereits sehr hohe Arbeitslosenrate sei seit dem Abzug der internationalen Streitkräfte Ende 2014 wegen des damit zusammenhängenden Nachfrageschwundes rasant angestiegen, das Wirtschaftswachstum betrage nur 1,5%. Die Analphabetenrate sei noch immer hoch und der Pool an Fachkräften bescheiden. Die Landwirtschaft beschäftige bis zu 80% der Bevölkerung, erziele jedoch nur etwa 25% des Bruttoinlandprodukts. Vor allem in Kabul gehöre wegen des dortigen großen Bevölkerungswachstums die Wohnraumknappheit zu den gravierendsten sozialen Problemen. Auch die Beschäftigungsmöglichkeiten hätten sich dort rapide verschlechtert. Nur 46% der afghanischen Bevölkerung verfüge über Zugang zu sauberem Trinkwasser und lediglich 7,5% zu einer adäquaten Abwasserentsorgung. Unter Verweis auf den UNHCR sähen sich Rückkehrende beim Wiederaufbau einer Lebensgrundlage in Afghanistan mit gravierenden Schwierigkeiten konfrontiert. Geschätzte 40% seien verletzlich und verfügten nur über eine unzureichende Existenzgrundlage sowie einen schlechten Zugang zu Lebensmitteln und Unterkunft. Außerdem erschwere die prekäre Sicherheitslage die Rückkehr. Gemäß UNHCR verließen viele Rückkehrende ihre Dörfer innerhalb von zwei Jahren erneut. Sie wichen dann in die Städte aus, insbesondere nach Kabul.
Der UNHCR weist in seinen Anmerkungen zur Situation in Afghanistan vom Dezember 2016 darauf hin, dass sich die Sicherheitslage seit April 2016 insgesamt nochmals deutlich verschlechtert habe, was damit einher gehe, dass sich der Konflikt in Afghanistan im Laufe des Jahres 2016 weiter ausgebreitet habe und die Zahl der zivilen Opfer im ersten Halbjahr 2016 gegenüber dem Vorjahreszeitraum um weitere 4% gestiegen sei. Die Zahl der intern Vertriebenen habe im Jahr 2016 auf Rekordniveau gelegen; zudem sei auch aus den Nachbarländern Pakistan und Iran eine große Zahl von Menschen nach Afghanistan zurückgekehrt, was zu einer extremen Belastung der ohnehin bereits überstrapazierten Aufnahmekapazitäten in den wichtigsten Städten der Provinzen und Distrikte in Afghanistan geführt habe. Dies gelte auch für die Stadt Kabul, wo nur begrenzte Möglichkeiten der Existenzsicherung, eine extrem angespannte Wohnraumsituation sowie mangelnder Zugang zu grundlegenden Versorgungsleistungen bestehe, sodass die Verfügbarkeit einer internen Schutzalternative im Umfeld eines dramatisch verschärften Wettbewerbs um den Zugang zu knappen Ressourcen unter Berücksichtigung der besonderen Umstände jedes einzelnen Antragstellers geprüft werden müsse.
Dies zugrunde gelegt steht einer Rückführung des Klägers nach Afghanistan ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG entgegen, auch wenn die obergerichtliche Rechtsprechung derzeit für den Regelfall davon ausgeht, dass für alleinstehende, gesunde, arbeitsfähige junge Männer bei einer Rückkehr nach Afghanistan keine extreme Gefahr Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG besteht, da diese selbst ohne nennenswertes Vermögen und ohne familiären Rückhalt in der Lage wären, durch Gelegenheitsarbeiten wenigstens ein kleines Einkommen zu erzielen und sich damit zumindest ein Leben am Rande des Existenzminimums zu finanzieren. Ebenso wenig würde eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen (vgl. etwa BayVGH, B.v.19.6.2017 – 13a ZB 17.30400). Denn abweichend von den Verhältnissen im Regelfall befindet sich der hiesige Kläger nach Überzeugung des Gerichts in einer besonderen Ausnahmesituation.
Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass der Kläger bei seiner Rückkehr nach Afghanistan dort ohne familiären Rückhalt oder verwandtschaftliche Strukturen ganz auf sich alleine gestellt wäre. Der Kläger hat insoweit vor dem Bundesamt glaubhaft angegeben, dass er mit seiner Familie Afghanistan im Alter von fünf Jahren verlassen hat und er in seinem Heimatland nunmehr weder über engere Familienmitglieder noch über andere Verwandte verfügt. Es ist vorliegend erschwerend zu berücksichtigen, dass der Kläger lediglich über eine elementare Grundbildung verfügt, indem er während der kurzen Zeit seines Schulbesuchs lediglich ein wenig Lesen und Schreiben gelernt hat, sich jedoch keine darüber hinausgehende Bildung hat aneignen können, die seine beruflichen Chancen hätte erhöhen können. Auch einen Beruf hat der Kläger nicht erlernt, sondern lediglich in seiner frühen Jugend als Straßenverkäufer und Hilfsarbeiter in einer Fabrik (Herstellung von Plastikbechern) gearbeitet. Vor diesem Hintergrund sähe sich der Kläger in Afghanistan aufgrund der Erkenntnismittellage in erheblicher Weise mangelnden Erwerbsmöglichkeiten gegenüber, wobei weiter negativ ins Gewicht fällt, dass der bereits im Alter von 16 Jahren aus dem Iran geflüchtete Kläger bis zu seiner Ausreise stets bei seiner Mutter gelebt hat und zu keiner Zeit auf sich allein gestellt war. Er hat zudem die prägende Zeit seines Lebens nicht in Afghanistan, sondern im Iran und in Europa verbracht und war daher nicht in der Lage, sich Kenntnisse über die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Afghanistan anzueignen und Überlebensstrategien für ein Überleben in Afghanistan, etwa in Kabul, zu entwickeln. Darüber hinaus ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger auch von den im Iran befindlichen Familienmitgliedern keine finanzielle Unterstützung erwarten kann. Denn dort ist sein Vater als Versorger der Familie bereits verstorben und die Mutter muss sich glaubhaften Angaben zufolge mit einfachsten Arbeitsaufträgen, welche sie zu Hause erledigt, finanziell über Wasser halten. Auch seine beiden Brüder, welche noch bei der Mutter wohnen, tragen mit einfachen Arbeiten in einer Fabrik dazu bei, den Lebensunterhalt der Familie im Iran zu sichern. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass es seiner Familie darüber hinaus möglich wäre, den Kläger in Afghanistan ergänzend finanziell zu unterstützen. Die Tante, welche dem Kläger die Hälfte der Fluchtkosten finanziert hat, ist zumindest nicht mehr erreichbar, nachdem sie mit dem Kläger nach Europa gereist ist, sie sich jedoch in Ungarn aus den Augen haben. Zudem ist nichts dafür ersichtlich, dass die Tante über Geldmittel in einer Höhe verfügt, die eine längerfristige Unterstützung des Klägers ermöglichen würde. Weitere Verwandte leben nicht mehr in Afghanistan und es ist auch nichts für dort oder anderweitig vorhandenes Vermögen ersichtlich, wie die Beklagte auch selbst im streitgegenständlichen Bundesamtsbescheid zugestanden hat.
Der Hinweis in diesem Bescheid darauf, dass es dem Kläger auch im Iran möglich gewesen sei, sich ein Einkommen zu erwirtschaften und seine Fluchtkosten anzusparen, erscheint nicht überzeugend und lässt maßgeblich außer Acht, dass die Lebensverhältnisse im Iran und in Afghanistan nicht miteinander vergleichbar sind, was allein daran festzumachen ist, dass der Iran im Human Development Index 2016 weltweit auf Platz 69 zu finden ist (und damit über dem weltweiten Durchschnitt), während Afghanistan mit Rang 169 einen der hintersten Plätze weltweit einnimmt (vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_countries_by_Human_Development_Index). Dass es damit in Afghanistan ungleich schwerer ist, den Lebensunterhalt sicherzustellen, liegt auf der Hand. Zudem wurden – wie bereits erwähnt – die Fluchtkosten nicht durch den Kläger alleine, sondern gemeinsam durch alle Familienmitglieder einschließlich der Tante erwirtschaftet.
Im Rahmen einer Gesamtschau steht damit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan in eine ausweglosen Lage geraten würde, die einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK gleichkommt und diesem nicht zugemutet werden kann. Ein Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG ist daher unter entsprechender Aufhebung des Bundesamtsbescheides festzustellen.
Nach alledem war der Klage, soweit sie Gegenstand dieses Verfahrens ist, stattzugeben. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.

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