Aktenzeichen 2 B 19.34078
Leitsatz
§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG enthält keine Regelung, wonach bei einer rechtsmissbräuchlichen Asylantragstellung die Anwendung der Vorschrift ausgeschlossen sein soll. (Rn. 15)
Verfahrensgang
AN 6 K 17.32948 2019-07-31 Urt VGANSBACH VG Ansbach
Tenor
I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 31. Juli 2019 wird dahingehend abgeändert, dass die Beklagte unter Aufhebung der Ziffern 4, 5 und 6 des Bescheids vom 21. April 2017 verpflichtet wird, beim Kläger und Berufungsführer das Vorliegen eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Armeniens festzustellen.
II. In Abänderung der Kostenentscheidung des verwaltungsgerichtlichen Urteils tragen von den Kosten des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens die Kläger drei Viertel und die Beklagte ein Viertel. Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Der Kläger beantragte am 26. Mai 2015 seine Anerkennung als Asylberechtigter. Er ist nach seinen Angaben armenischer Staatsangehöriger. Er legte zahlreiche medizinische Unterlagen vor, die eine Diagnose schwerer Erkrankungen belegten.
Mit Bescheid des Bundesamts vom 21. April 2017 wurde der Asylantrag abgelehnt, die Flüchtlingseigenschaft sowie der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt und festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Der Kläger wurde aufgefordert, das Bundesgebiet innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen, andernfalls er nach Armenien abgeschoben würde. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
Dagegen erhob der Kläger am 8. Mai 2017 Verpflichtungsklage zum Verwaltungsgericht Ansbach. Mit Urteil des Erstgerichts vom 31. Juli 2019 wurde die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bundesamtsbescheids vom 21. April 2017 verpflichtet, über die Zuerkennung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beim Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Im Übrigen wurde die Klage abgewiesen. Die Tatbestandsvoraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG seien erfüllt. Für den Kläger sei vom Vorliegen einer erheblichen konkreten Gefahr im Sinn des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aus gesundheitlichen Gründen bei Rückkehr in sein Heimatland auszugehen. Aufgrund dessen sei die Klage insoweit begründet, als der Kläger gegen die Beklagte unter Berücksichtigung der Ausführungen des Gerichts einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Neuverbescheidung habe. Ein darüber hinausgehender Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots bestehe vorliegend jedoch nicht. Insoweit bleibe das Verpflichtungsbegehren des Klägers teilweise ohne Erfolg. In dem vorliegenden Rechtsmissbrauchsfall – der Asylantrag sei allein gestellt worden, um sich so Zugang für die meist aufwändige Betreuung bei gesundheitlichen Beeinträchtigungen bzw. die meist aufwändige Behandlung von Krankheiten im Gesundheits-/Sozialsystem der Bundesrepublik Deutschland zu verschaffen – bedürfe es vor der Feststellung eines Abschiebungshindernisses grundsätzlich noch der Betätigung des in atypischen Fällen eröffneten Ermessens – gegebenenfalls aufgrund ermessenslenkender Vorgaben – von Seiten der Exekutive, die das Gericht nicht ersetzen könne.
Mit Beschluss vom 28. November 2019 ließ der Verwaltungsgerichtshof die Berufung zu. Der Kläger ist der Meinung, die Rechtsauffassung des Erstgerichts sei weder mit dem Wortlaut des Gesetzes noch mit der ratio legis des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vereinbar. Es sei zwingend, ein Abschiebeverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 31. Juli 2019 abzuändern und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge unter Aufhebung der Ziffern 4, 5 und 6 des Bescheids vom 21. April 2017 zu verpflichten, beim Kläger das Vorliegen eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Armeniens festzustellen.
Die Beklagte stellte keinen Antrag.
Der Senat wies die Beteiligten darauf hin, dass er der Berufung durch Beschluss stattgeben kann, wenn er sie einstimmig für begründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Der Kläger war mit einer Entscheidung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung einverstanden. Eine Äußerung der Beklagten erfolgte nicht.
Hinsichtlich der übrigen Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der dem Gericht vorliegenden Behördenakten Bezug genommen.
II.
Die Entscheidung kann nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 130a VwGO durch Beschluss ergehen, da der Senat die Berufung einstimmig für begründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält.
Die zulässige Berufung (§ 124 Abs. 1 VwGO) ist begründet, weil das Verwaltungsgericht die Beklagte zu Unrecht unter entsprechender Aufhebung des Bescheids vom 21. April 2017 nur verpflichtet hat, über die Zuerkennung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Ab. 7 Satz 1 AufenthG beim Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Der Kläger hat vielmehr einen Anspruch darauf, dass die Beklagte verpflichtet wird, ein entsprechendes Abschiebungsverbot festzustellen.
Das Erstgericht hat festgestellt, dass dem Kläger wegen der Komplexität und Schwere seiner Erkrankung und des derzeitigen Zustands des armenischen Gesundheitssystems eine erhebliche konkrete Gefahr im Sinn des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bei einer Rückkehr nach Armenien droht. Es hat die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Vorschrift detailliert geprüft und als erfüllt angesehen. Der Senat hat keinen Anlass, an dieser Einschätzung zu zweifeln.
Es verletzt den Kläger in seinen Rechten, in dieser Situation von der Feststellung eines Abschiebungsverbots zu seinen Gunsten abzusehen und die Beklagte lediglich zu verpflichten, erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden. Bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll als Rechtsfolge in der Regel von einer Abschiebung abgesehen werden. Soweit das Erstgericht der Auffassung ist, dass die Bindung für den Regelfall Abweichungen in atypischen Fällen gestattet, bei denen aufgrund besonderer, konkreter Gründe der automatische „Eintritt“ der regelmäßigen Rechtsfolge nicht mehr von der Vorstellung des Gesetzgebers getragen wird, kann hier dahinstehen, in welchen Fällen § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ein Ermessen für den Beklagten eröffnet. Jedenfalls im vorliegenden Einzelfall ist für die Beklagte kein Ermessen eröffnet. Dies ergibt eine Auslegung des Wortlauts der Vorschrift (s. 1), eine Analyse des Gesetzeszwecks (s. 2) und der Gesetzessystematik (s. 3).
1) Nach dem Wortlaut des Gesetzes ist in der Regel von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn dort für den Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die Gefahr, dass sich eine Erkrankung und die mit einer Erkrankung verbundenen Gesundheitsbeeinträchtigungen als Folge fehlender Behandlungsmöglichkeiten im Abschiebezielstaat verschlimmern, ist in der Regel als am Maßstab des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in direkter Anwendung zu prüfende individuelle Gefahr einzustufen (vgl. BVerwG, U.v. 17.10.2006 – 1 C 18.05 – BVerwGE 127,33; B.v. 24.5.2006 – 1 B 118.05 – juris). Die Gesundheitsgefahr muss erheblich sein; die Verhältnisse im Abschiebezielstaat müssen also eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität, etwa eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustands, erwarten lassen. Erforderlich für das Vorliegen der Voraussetzung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist danach, dass sich die vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, dass also eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht (vgl. BVerwG, U.v. 17.10.2006, a.a.O.). Wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, ist dementsprechend ein Abschiebeverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu Gunsten des Klägers festzustellen. Der Regelfall, von dem die Vorschrift ausgeht, ist dann eingetreten. Die Norm enthält insbesondere keine Formulierung, wonach bei einer rechtsmissbräuchlichen Asylantragstellung die Anwendung der Vorschrift ausgeschlossen wäre.
2) Das Verhalten, zuvor missbräuchlich einen Asylantrag gestellt zu haben, widerspricht nicht dem Gesetzeszweck des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Dabei kann zunächst offen bleiben, ob der Kläger den Asylantrag tatsächlich rechtsmissbräuchlich gestellt hat. Denn wie der Antrag nach § 60 Abs. 1 AufenthG auch gestellt werden kann, ohne dass ein Asylantrag gestellt wird (dazu BT-Drs. 15/420 S. 91), so kann der Kläger auch seine Rechte aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG isoliert ohne Stellung eines Asylantrags geltend machen. Ist jedoch die Stellung eines Asylantrags weder Voraussetzung noch Bedingung für das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, so ist auch nicht einsichtig, wieso ein Verhalten bei der Asylantragstellung Auswirkungen auf die Rechtsposition nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG haben soll. Die Vorschrift soll – unter den dort genannten Voraussetzungen – kranke Ausländer schützen, unabhängig davon, ob sie Asylantragsteller sind oder nicht.
Selbst wenn man dies anders sehen wollte, hat der Kläger sich hier zunächst auf asylrechtlich relevante Verfolgungsgründe berufen und sein Begehren zuletzt nur noch darauf gestützt, dass ihm im Fall einer Rückkehr in seine Heimat schwerwiegende oder gar lebensbedrohliche Erkrankungen drohten. Dieses Verhalten zeigt keine Abweichung von der für den Normalfall geltenden Regelung.
3) Die systematischen Erwägungen des Erstgerichts mit Hinweis auf die Regelung des § 60 Abs. 7 Satz 5 (jetzt Satz 6) AufenthG überzeugen den Senat nicht. Nach dieser Vorschrift sind Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Bereits dem Wortlaut nach erfasst diese Vorschrift lediglich die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (Duldung). Außerdem wurde hier keine Gefahr geltend gemacht, der die Bevölkerung in Armenien allgemein ausgesetzt ist. Vielmehr geht es um die konkrete individuelle Erkrankung des Klägers.
Im Übrigen ist für den Senat nicht ersichtlich, in welcher Weise die Beklagte ihr Ermessen nach Rechtsauffassung des Erstgerichts hätte ausüben und welche Gesichtspunkte sie dabei hätte einstellen sollen. Auch einen allgemeinen Rechtssatz, dass ein Asylsuchender sich bei rechtsmissbräuchlicher Asylantragstellung unter bestimmten Voraussetzungen seiner Rechte aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begeben kann, gibt es nicht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylVfG gerichtskostenfrei. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
Die Revision wird nicht zugelassen, da keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.