Aktenzeichen 10 ZB 14.822
Leitsatz
1 Auf die Fünfjahresfrist des § 9 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AufenthG werden die Zeiten eines fiktiven Aufenthaltsrechts gemäß § 81 Abs. 4 S. 1 AufenthG angerechnet, soweit einem Verlängerungsantrag später stattgegeben wird. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
2 Eine Anrechnung von Fiktionszeiten nach § 81 Abs. 4 S. 1 AufenthG auf die Frist, für die ein Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis besitzen muss, um eine Niederlassungserlaubnis zu erhalten, kommt nicht in Betracht, wenn der Ausländer für den Fiktionszeitraum nicht auch einen materiellen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis hat. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
M 9 K 13.2928 2014-02-19 Urt VGMUENCHEN VG München
Tenor
I.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III.
Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.
Gründe
Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis, hilfsweise auf Verlängerung seiner zum Ehegattennachzug erteilten Aufenthaltserlaubnis weiter.
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Das der rechtlichen Überprüfung durch den Senat ausschließlich unterliegende Vorbringen im Zulassungsantrag (§ 124 Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO) rechtfertigt keine Zulassung der Berufung. Der allein geltend gemachte Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) liegt nicht vor.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils bestünden nur dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11). Dies ist jedoch nicht der Fall.
Zur Begründung seiner Auffassung, der Kläger habe keinen Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG, hat das Erstgericht darauf abgestellt, dass er nicht, wie § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG voraussetzt, seit fünf Jahren eine Aufenthaltserlaubnis besitzt. Ein ununterbrochener Besitz einer Aufenthaltserlaubnis von fünf Jahren liege nicht vor, weil ihm zunächst nur vom 13. August 2007 bis zum 12. August 2008 eine Aufenthaltserlaubnis erteilt worden war. Der Verlängerungsantrag vom 22. Juli 2008 sei mit Bescheid vom 27. November 2008 abgelehnt worden. Dieser Ablehnungsbescheid sei mit Bescheid vom 8. Oktober 2009 widerrufen worden. Auf den Antrag vom 15. Oktober 2009 sei dem Kläger am 19. Oktober 2009 eine bis 19. Oktober 2012 gültige Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug erteilt worden. Der Zeitraum vom 13. August 2008 bis zum 19. Oktober 2009 sei nicht auf die Fünfjahresfrist des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG anzurechnen, weil er in diesem Zeitraum von seiner Ehefrau getrennt gelebt habe und daher keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gehabt habe. Nach Wiederaufnahme der ehelichen Lebensgemeinschaft habe das Landratsamt den Bescheid vom 27. November 2008 mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben.
Zur Begründung seines Zulassungsantrags bringt der Kläger insoweit vor, dass das Verwaltungsgericht die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4 AufenthG verkannt habe. Dadurch, dass dem Kläger am 22. Oktober (richtig: 19.10.) 2009 wieder eine Aufenthaltserlaubnis erteilt worden sei, seien die Zeiten zwischen ursprünglicher Antragstellung am 22. Juli 2008 und der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis am 22. Oktober (richtig: 19.10.) 2009 als rechtmäßiger Aufenthalt zu bewerten. Hätte die damals zuständige Ausländerbehörde eine Unterbrechung des rechtmäßigen Aufenthalts des Klägers herbeiführen wollen, so hätte sie lediglich den ablehnenden Bescheid vom 27. November 2008 bestehen lassen müssen und die Aufenthaltserlaubnis neu erteilen müssen. Durch die Aufhebung des ablehnenden Bescheides habe der Kläger darauf vertrauen können, dass eine Unterbrechung seines rechtmäßigen Aufenthalts gerade nicht vorgelegen habe.
Diese Ausführungen ziehen aber die Feststellung des Verwaltungsgerichts, der Kläger habe bei Beantragung der Niederlassungserlaubnis nicht seit fünf Jahren ununterbrochen eine Aufenthaltserlaubnis besessen, nicht ernsthaft in Zweifel. Denn Voraussetzung für die nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG geforderten fünf Jahre des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis ist deren ununterbrochener Besitz (Müller in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 9 Rn. 7 m. w. N.). Dieser liegt beim Kläger nicht vor, weil er zwischen dem 13. August 2008 und dem 19. Oktober 2009 keine Aufenthaltserlaubnis besaß, während dieses Zeitraums die ursprünglich erteilte Aufenthaltserlaubnis nicht gemäß § 81 Abs. 4 AufenthG als fortbestehend galt und ein materiell-rechtlicher Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug nicht bestand.
§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG stellt seinem Wortlaut nach ausdrücklich auf den Besitz einer Aufenthaltserlaubnis seit fünf Jahren ab. Es kommt somit nicht alleine auf die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts an (Müller in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 9 Rn. 6). Auf die Fünfjahresfrist des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG werden jedoch die Zeiten eines fiktiven Aufenthaltsrechts gemäß § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG angerechnet, soweit einem Verlängerungsantrag später stattgegeben wird (Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 9 Rn. 32; Müller in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 9, Rn. 8). Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor. Nachdem der Kläger am 22. Juli 2008 seinen Verlängerungsantrag gestellt hatte, hat ihm die Beklagte zunächst eine bis 12. Februar 2009 gültige Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 4 AufenthG ausgestellt. Der Verlängerungsantrag wurde jedoch mit Bescheid vom 27. November 2008 abgelehnt, so dass für den Zeitraum ab Antragstellung kein gesichertes Aufenthaltsrecht vorlag, das dem Besitz einer Aufenthaltserlaubnis gleichstehen würde.
Daran ändert weder der Bescheid vom 8. Oktober 2009, mit dem der Ablehnungsbescheid vom 27. November 2008 aufgehoben worden ist, noch die Erteilung der neuen Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug am 19. Oktober 2009 etwas. Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass mit dem Bescheid vom 8. Oktober 2009 der Ablehnungsbescheid vom 27. November 2008 lediglich mit Wirkung für die Zukunft widerrufen worden ist, so dass während des Zeitraums vom 22. Juli 2008, als der Kläger den Verlängerungsantrag für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gestellt hat, bis zur Aufhebung des Ablehnungsbescheides am 8. Oktober 2009 die ursprünglich erteilte, bis 12. August 2008 gültige Aufenthaltserlaubnis nicht gemäß § 81 Abs. 4 AufenthG als fortbestehend galt. Dies ergibt sich eindeutig aus der Begründung des Bescheides vom 8. Oktober 2009, wonach Grund für den Widerruf des Ablehnungsbescheides vom 27. November 2008 die Wiederaufnahme der ehelichen Lebensgemeinschaft zwischen dem Kläger und seiner Ehefrau im Juni 2009 war. Die Beklagte beabsichtigte keinesfalls, durch den Aufhebungsbescheid vom 8. Oktober 2009 die Fiktionswirkung des am 22. Juli 2008 gestellten Verlängerungsantrags wieder aufleben zu lassen. Schließlich bestand während des Zeitraums von der ersten Trennung der Eheleute am 26. November 2008 bis zur Wiederaufnahme der ehelichen Lebensgemeinschaft im Juni 2009 kein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG, weil der Kläger und seine Ehefrau tatsächlich keine eheliche Lebensgemeinschaft führten. Unterstrichen wird dies dadurch, dass der Kläger am 15. Oktober 2009 einen neuen Antrag auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis gestellt hat und die Beklagte daraufhin am 19. Oktober 2009 eine bis 19. Oktober 2012 gültige Aufenthaltserlaubnis erteilt hat.
Der Einwand des Klägers, die Beklagte hätte den Ablehnungsbescheid vom 27. November 2008 nicht aufheben müssen, wenn sie nicht rückwirkend die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts des Klägers in dem Zeitraum zwischen 22. Juli 2008 und 19. Oktober 2009 hätte feststellen wollen, führt zu keinem anderen Ergebnis. Hätte die Beklagte den Ablehnungsbescheid vom 27. November 2008 nicht aufgehoben, so wäre der Kläger vollziehbar ausreisepflichtig gewesen und hätte gegebenenfalls abgeschoben werden können. Sein erneuter Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vom 15. Oktober 2009 hat keine Fiktionswirkung entfaltet, weil er erst nach Ablauf der Geltungsdauer der ursprünglich erteilten Aufenthaltserlaubnis gestellt worden ist, die Fiktionswirkung des ersten Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis mit der Entscheidung über den Antrag endete und ein weiterer Antrag die Fiktionswirkung nicht mehr auslöst (vgl. Kluth in Beck´scher Online-Kommentar, Ausländerrecht, Stand: 1.6.2013, § 81 Rn. 38 ff.) .
Die Entscheidung des Erstgerichts steht auch im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 30.3.2010 – 1 C 6.09 – juris Rn. 20 ff.). Danach kommt eine Anrechnung von Fiktionszeiten nach § 81 Abs. 4 AufenthG auf die Frist, für die ein Antragsteller eine Aufenthaltserlaubnis besitzen muss, um eine Niederlassungserlaubnis zu erhalten, nicht in Betracht, wenn der Ausländer für den Fiktionszeitraum nicht auch einen materiellen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis hat. Eine vom materiell-rechtlichen Anspruch losgelöste Anrechnung von Fiktionszeiten findet nicht statt, weil sonst der Ausländer ungerechtfertigt von der Länge des Verwaltungsverfahrens profitieren würde. Einen materiellen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG besaß der Kläger aber gerade nicht, weil die eheliche Lebensgemeinschaft im fraglichen Zeitraum nicht bestand und die Eheleute sich unstreitig erst im Juni 2009 wieder versöhnt haben.
Auf die Frage, ob der Kläger die nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 AufenthG erforderlichen ausreichenden Kenntnisse der deutschen Sprache besaß bzw. nach § 9 Abs. 2 Satz 4 AufenthG von dieser Voraussetzung zur Vermeidung einer Härte hätte abgesehen werden können, kommt es daher nicht mehr an.
Das Verwaltungsgericht ist auch zu Recht davon ausgegangen, dass der Kläger nicht den hilfsweise geltend gemachten Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG hat. Diesbezüglich hat das Erstgericht zutreffend ausgeführt, dass eine außergewöhnliche Härte im Sinne des § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG nur vorliege, wenn die Beendigung des Aufenthalts für den Betroffenen mit Nachteilen verbunden sei, die ihn deutlich härter träfen als andere Ausländer in einer vergleichbaren Situation. Insoweit finden die Kriterien Anwendung, die auch im Rahmen des § 31 Abs. 2 Satz 1 AufenthG gelten. Denn die Voraussetzungen, unter denen nach Beendigung der ehelichen Lebensgemeinschaft ein vom Bestand der Ehe unabhängiges Aufenthaltsrecht entsteht, ist vom Gesetzgeber in § 31 AufenthG abschließend geregelt worden. Durch diese Regelung hat der Gesetzgeber zugleich zum Ausdruck gebracht, dass das Vertrauen von Ausländern, nach der Beendigung oder Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft weiter im Bundesgebiet bleiben zu dürfen, grundsätzlich dann nicht schutzwürdig ist, wenn die in § 31 AufenthG genannten Voraussetzungen nicht erfüllt sind (Maaßen in Beck´scher Online-Kommentar, Stand: 1.2.2013, AufenthG, § 25 Rn. 86; Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 25 Rn. 76). Auch wenn der Kläger durch die Rückkehr in sein Heimatland seine wirtschaftliche Existenz verliert, stellt dies keine außergewöhnliche Härte im Sinne der genannten Vorschriften dar, da andere Personen, die in ihr Heimatland zurückkehren müssen, in gleicher Weise betroffen sind (Dienelt, a. a. O., Rn. 77). Eine Verwurzelung des Klägers in der Bundesrepublik und eine Entwurzelung in seinem Heimatland sind entgegen dem Vorbringen im Zulassungsverfahren nicht anzunehmen. Der Kläger befindet sich tatsächlich erst seit 2007 durchgehend im Bundesgebiet. Zwischen 1993 und seiner Ausreise im Jahre 2002 betrieb er ein Asylverfahren. Danach hielt er sich über fünf Jahre in seinem Heimatland auf. Trotz langer Aufenthaltszeiten im Bundesgebiet hat er sich weder hinreichend wirtschaftlich integriert, da er bis zur Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft im Februar 2012 nicht dauerhaft erwerbstätig war, noch hat er ausreichende Sprachkenntnisse erworben.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 3 Satz 1, § 47 Abs. 1 sowie § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).