Aktenzeichen 10 CE 17.172
Leitsatz
1 Allein der erfolgreiche Abschluss einer Drogentherapie rechtfertigt nicht eine positive Prognose, der bestandskräftig ausgewiesene Ausländer werde zukünftig ein straffreies Leben ohne Drogen führen. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
2 Ist über den Anspruch auf Familien- und Privatleben in Bezug auf das Umgangsrecht mit dem minderjährigen Sohn des Ausländers bereits in vorangegangen Eilverfahren abschließend entschieden worden, ist der Abschluss der Drogentherapie kein neuer Umstand, der über Art. 6 Abs. 1 GG einen Anordnungsanspruch auf vorläufigen Verbleib im Bundesgebiet begründen könnte. (Rn. 12 – 13) (redaktioneller Leitsatz)
3 Eine Strafaussetzung zur Bewährung, die nach der vor Jahren eingetretenen Bestandskraft der Ausweisung erfolgt, steht der damals getroffenen negativen Prognose nicht entgegen. Möglichen positiven Entwicklungen kann im Rahmen eines Befristungsverfahrens Rechnung getragen werden. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
M 10 E 16.5423 2017-01-02 Bes VGMUENCHEN VG München
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Unter Abänderung von Nr.
III. des Beschlusses des Verwaltungsgerichts München vom 2. Januar 2017 wird der Streitwert für beide Rechtszüge auf jeweils 1.250‚- Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Mit seiner Beschwerde verfolgt der Antragsteller seinen in erster Instanz erfolglosen Antrag weiter‚ der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen, bis zur Entscheidung über die Gewährung einer Aufenthaltserlaubnis aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen ihn durchzuführen.
Der Antragsteller, ein tunesischer Staatsangehöriger, der im Alter von sechs Monaten im Familiennachzug in das Bundesgebiet eingereist ist, wurde mit bestandskräftigem Bescheid vom 25. Juni 2008 nach seiner Verurteilung durch das Amtsgericht Ingolstadt vom 28. März 2007 wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung und vorsätzlichem unerlaubten Besitz von Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren neun Monaten ausgewiesen; mit dem gleichen Bescheid wurde ihm die Erteilung von ausländerrechtlichen „Bewährungsduldungen“ ab Haftentlassung (März 2009) für drei Jahre zugesagt, um ihm die Möglichkeit zu geben, ein straf- und drogenfreies Leben nachzuweisen. Sollte er erneut zu einer Freiheits- oder Geldstrafe verurteilt werden, sei er verpflichtet, das Bundesgebiet innerhalb von vier Wochen nach erfolgtem Widerruf der Duldung zu verlassen, andernfalls er nach Tunesien oder einen anderen aufnahmebereiten Staat abgeschoben werde.
Nach seiner neuerlichen Inhaftierung am 1. Februar 2014 wurde er mit Urteil des Landgerichts Ingolstadt vom 12. März 2015 wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Haftstrafe von zwei Jahren zehn Monaten verurteilt. Nach Verbüßung von 2/3 dieser Haftstrafe wurde die Vollstreckung des Strafrestes mit Beschluss des Landgerichts Traunstein – Strafvollstreckungskammer – vom 7. April 2016 unter Festsetzung einer Bewährungszeit von vier Jahren zur Bewährung ausgesetzt; der ihm zugleich auferlegten Verpflichtung, sich unverzüglich in eine stationäre Drogentherapie zu begeben, kam er vom 22. Mai bis 18. November 2016 nach. Ein erstes Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes mit dem Ziel, seine Abschiebung nach Tunesien auszusetzen, blieb erfolglos (VG München, B.v. 19.9.2016 – M 10 E 16.1851 – und BayVGH, B.v. 21.11.2016 – 10 CE 16.2047 -). Auf die Gründe der beiden Beschlüsse wird in vollem Umfang Bezug genommen.
Das Verwaltungsgericht München lehnte den im vorliegenden Verfahren streitgegenständlichen Antrag, der Antragsgegnerin aufenthaltsbeendende Maßnahmen zu untersagen, mit Beschluss vom 2. Januar 2017 ab. An der Zulässigkeit des Antrags bestünden wegen der entgegenstehenden Rechtskraft der Beschlüsse vom 19. September und 21. November 2016 erhebliche Zweifel. Ob der Umstand, dass der Antragsteller eine Drogentherapie abgeschlossen habe, tatsächlich eine neue Tatsache darstelle, sei zweifelhaft. Jedenfalls sei der Antrag mangels Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs abzulehnen; der Abschluss einer Drogentherapie führe für sich allein nicht zur rechtlichen Unmöglichkeit der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Zudem bestehe nach wie vor eine konkrete Wiederholungsgefahr erheblicher Straftaten. Der Antragsteller müsse erst über einen längeren Zeitraum nach Abschluss der Therapie nachweisen, dass er zur Führung eines drogenfreien Lebens in der Lage sei.
Zur Begründung seiner Beschwerde trägt der Antragsteller vor, nach dem Beschluss des Landgerichts Traunstein vom 7. April 2016 sei die verhängte Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt worden und dem Antragsteller die Weisung erteilt worden, unmittelbar anschließend eine stationäre Therapie aufzunehmen. Diese Weisung habe er erfolgreich umgesetzt. Daher sei nun im Hinblick auf die bestehende Ausreisepflicht und auf Art. 6 GG und Art. 8 EMRK eine neue Überprüfung durch den Verwaltungsgerichtshof zwingend erforderlich. Hätte das Beschwerdegericht von der erfolgreichen Beendigung der Therapie zum Zeitpunkt seines Beschlusses vom 21. November 2016 gewusst, hätte schon damals eine für den Antragsteller günstigere Entscheidung ergehen können. Damit liege eine neue Tatsache im Sinn von § 80 Abs. 7 VwGO vor, die geeignet sei, den noch offenen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis positiv zu bescheiden und gleichzeitig die Aufenthaltsbeendigung auszusetzen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die vorgelegte Ausländerakte sowie auf die Gerichtsakten im vorangegangenen Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes sowie im vorliegenden Verfahren Bezug genommen.
II.
Die zulässige Beschwerde bleibt ohne Erfolg. Einiges spricht dafür, dass das vom Antragsteller als „Antrag gemäß § 80 Abs. 7 VwGO“ bezeichnete Rechtsschutzbegehren bereits unzulässig ist (1.). Jedenfalls rechtfertigt das Vorbringen des Antragstellers im Beschwerdeverfahren, auf dessen Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), keine Abänderung oder Aufhebung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 2. Januar 2017, mit dem das Begehren des Antragstellers abgelehnt wurde, der Antragsgegnerin zu untersagen, aufenthaltsbeendende Maßnahmen bis zur Entscheidung über die Gewährung einer Aufenthaltserlaubnis durchzuführen (2.).
1. An der Zulässigkeit des Eilantrags auf Abschiebungsschutz bestehen deswegen erhebliche Zweifel, weil er – wie der Antrag im vorangegangenen Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 123 Abs. 1 VwGO – erneut auf Aussetzung der Abschiebung gerichtet ist und die dort ergangenen Beschlüsse des Verwaltungsgerichts vom 19. September 2016 (a.a.O.) sowie des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 21. November 2016 (a.a.O.) rechtskräftig geworden sind. Auch Beschlüsse sind in entsprechender Anwendung des – seinem Wortlaut nach für Urteile geltenden – § 121 VwGO der Rechtskraft zugänglich (vgl. hierzu Kilian in Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl. 2014, § 121 Rn. 37,41; Lindner in Beck‘scher Online- Kommentar VwGO, Posser/Wolff, Stand: 1.1.2017, § 121 Rn. 12); der Streitgegenstand, über den rechtskräftig entschieden wurde, darf nicht erneut anhängig gemacht werden. Allerdings findet die Rechtskraft ihre Grenze dann, wenn sich die maßgebliche Rechts- oder Sachlage gegenüber der im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung bestehenden Situation nachträglich ändert (Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl. 2016, § 121 Rn. 28).
Im vorliegenden Fall bezeichnet der Antragsteller seine (ausweislich der Bescheinigung der Therapieeinrichtung vom 18. November 2016 am gleichen Tag) erfolgreich beendete stationäre Drogentherapie als einen derartigen neuen Umstand, den der Senat in seinem Beschluss vom 21. November 2016 (a.a.O.) mangels Kenntnis nicht berücksichtigen habe können. Dies erscheint zweifelhaft, weil im genannten Beschluss der erstmalig absolvierten stationären Drogentherapie schon deswegen ausdrücklich keine maßgebliche Bedeutung zugemessen wird, da „ein dauerhafter Erfolg der Therapie“ nicht abgesehen werden könne. Die Forderung einer dauerhaften Drogenabstinenz ist hier auch zum Zeitpunkt des vorliegenden Beschlusses, also nur etwa sechs Monate nach Beendigung der Therapie, insbesondere vor dem Hintergrund des jahrelangen Drogenkonsums des Antragstellers nicht erfüllt. Allein der erfolgreiche Abschluss seiner Therapie rechtfertigt noch nicht die erforderliche positive Prognose, dass der Antragsteller über einen längeren Zeitraum ein straffreies Leben ohne Drogen führen kann und damit die Gefahr der Begehung erneuter Straftaten auch unter Drogeneinfluss als widerlegt angesehen werden kann. Hierauf weist auch der angefochtene Beschluss des Verwaltungsgerichts hin, ohne dass die Beschwerde sich damit auseinandersetzt.
Nichts anderes würde im Übrigen gelten, wenn man das vorliegende Begehren um einstweiligen Rechtsschutz nicht als neuerlichen Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO, sondern als einen – von der überwiegenden Meinung grundsätzlich für zulässig gehaltenen – Abänderungsantrag wegen veränderter Umstände in entsprechender Anwendung von § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO ansehen würde (vgl. nur: BVerfG, B.v. 23.3.1995 – 2 BvR 492/95 u.a. – juris Rn. 67; Putler in Sodan/Ziekow, a.a.O., § 123 Rn. 129; Schenke in Kopp/Schenke, a.a.O., § 123 Rn. 35; offengelassen in: BVerfG, B.v. 23.10.2007 – 2 BvR 542/07 – juris Rn. 16).
2. Letztlich kann die Zulässigkeit des Antrags auf Aussetzung der Abschiebung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes dahinstehen, denn die Beschwerde hat jedenfalls in der Sache keinen Erfolg; der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch, der sich nur aus dem Vorliegen eines Abschiebungsverbots gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ergeben könnte, (auch) mit seinem neuen Vortrag nicht hinreichend glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 1, 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
2.1 Der Nachweis eines erfolgreichen Therapieabschlusses ist nicht geeignet, einen Anordnungsanspruch zu begründen. Ein solcher kann sich hier im Hinblick auf den vom Antragsteller begehrten Abschiebungsschutz ausschließlich aus § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ergeben. Danach ist die Abschiebung eines Ausländers so lange auszusetzen, wie sie aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist. Die hier allein in Betracht kommende rechtliche Unmöglichkeit kann sich nur aus Art. 6 Abs. 1 GG oder Art. 8 EMRK (insbesondere im Hinblick auf das Umgangsrecht des Antragstellers mit seinem inzwischen 13-jährigen Sohn) ergeben. Für die Bewertung des Gewichts des vom Antragsteller geführten Familien- und Privatlebens ist jedoch der Abschluss der sechsmonatigen Drogentherapie nicht unmittelbar relevant; hierdurch verändert sich sein Interesse an einem weiteren vorläufigen Aufenthalt im Bundesgebiet gegenüber dem mit Beschluss des Senats vom 21. November 2016 dargestellten Interesse nicht in entscheidungserheblicher Weise.
Es trifft auch nicht zu, dass der Senat, hätte er bereits am 21. November 2016 vom erfolgreichen Abschluss der Drogentherapie gewusst, eine für den Antragsteller günstigere Entscheidung im Beschwerdeverfahren getroffen hätte. Denn dieser Umstand allein hätte vor dem Hintergrund einer bestandskräftigen Ausreisepflicht keineswegs ausgereicht, einen Anordnungsanspruch mit der Begründung anzuerkennen, dass nunmehr das Interesse des Antragstellers an einem vorläufigen Verbleib im Bundesgebiet im Hinblick auf das Umgangsrecht mit seinem Sohn und auf weitere private Belange das öffentliche Interesse an seiner Ausreise überwiegen könnte.
2.2 Auch der Umstand, dass über den Antrag des Antragstellers auf Erteilung eines Aufenthaltstitels von der Antragsgegnerin bislang nicht entschieden wurde, vermag einen Anordnungsanspruch nicht zu begründen. Dies ergibt sich bereits daraus, dass dem Antragsteller wegen der aus der Ausweisung von 25. Juni 2008 resultierenden Sperrwirkung selbst bei Bestehen eines Anspruchs gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG ein Aufenthaltstitel nicht erteilt werden darf; Voraussetzung für die Erteilung eines neuen Aufenthaltstitels wäre vielmehr zunächst seine Ausreise und die Festsetzung einer an diesen Zeitpunkt anknüpfenden Frist durch die Antragsgegnerin (vgl. § 11 Abs. 2 bis 9 AufenthG), die aber nicht Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits ist. Es besteht kein Anordnungsanspruch für die Gewährung von Abschiebungsschutz bis zur (ablehnenden) Entscheidung über den Antrag auf Aufenthaltserlaubnis.
2.3 Ein Anordnungsanspruch im Sinn eines Abschiebungshindernisses nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG folgt schließlich nicht aus dem Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 7. April 2016, mit dem der Strafrest zur Bewährung ausgesetzt wurde. Zum einen war der Bewährungsbeschluss dem Senat bereits zum Zeitpunkt des Beschlusses vom 21. November 2016 (a.a.O.) bekannt, ohne dass er dort zu einem für den Antragsteller günstigeren Ergebnis geführt hat. Zum anderen stellt sich im vorliegenden Fall gar nicht die Frage, inwieweit eine relevante Wiederholungsgefahr vor dem Hintergrund der Strafaussetzung zur Bewährung (noch) bejaht werden kann, zu deren Beantwortung der Antragsteller auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Oktober 2016 (2 BvR 1943/16 – juris Rn. 21, 24) verweist. Denn – anders als in dem zitierten Fall – steht infolge der bereits vor Jahren eingetretenen Bestandskraft der Ausweisung des Antragstellers fest, dass von ihm wegen der negativen Prognose eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht. Insoweit eingetretenen möglichen positiven Entwicklungen kann die Antragsgegnerin im Rahmen des bereits angesprochenen Befristungsverfahrens Rechnung tragen. Unzutreffend ist daher der Beschwerdevortrag, allein wegen der nach Absolvierung einer Drogentherapie erfolgten Entlassung des Antragstellers in die Freiheit sei eine weitere Überprüfung der bestehenden Ausreisepflicht durch das Beschwerdegericht „im Sinne der Durchsetzung des Art. 6 GG und Art. 8 EMRK zwingend erforderlich“.
Die Kostenfolge ergibt sich § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1‚ § 63 Abs. 2 Satz 1‚ § 53 Abs. 2 Nr. 1‚ § 52 Abs. 2 GKG i.V.m. Nr. 1.5 und 8.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).