Verwaltungsrecht

Keine Aussetzung des Verfahrens bei noch laufenden Überprüfungsverfahren

Aktenzeichen  S 17 AS 81/16

Datum:
6.10.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 132081
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB II § 40 Abs. 1
SGB X § 44
SGG § 114

 

Leitsatz

Muss die Erhebung einer unzulässigen (verfristeten) Klage als Überprüfungsantrag gewertet werden, besteht kein Anlass, das unzulässige Klageverfahren bis zur Entscheidung über den Überprüfungsantrag auszusetzen. (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

Die Klage ist unzulässig. Die angegriffenen Sanktionsentscheidungen bis zur Klageerhebung sind bestandskräftig, weil die Kläger gegen sie jeweils nicht oder nicht rechtzeitig Widerspruch und / oder Klage eingelegt haben. Die Sanktionsentscheidungen nach Klageerhebung sind nicht Streitgegenstand dieser Klage geworden.
1. Die Kammer durfte in der Besetzung entscheiden, in der sie letztlich entschieden hat. Das Ablehnungsgesuch der Kläger vom 22.02.2016 wegen Besorgnis der Befangenheit der Vorsitzenden der 17. Kammer nach § 60 Abs. 1 SGG i.V.m. § 42 Zivilprozessordnung (ZPO) ist mit Beschluss vom 03.03.2016 (Az. S 1 SF 46/16 AB) zurückgewiesen worden.
2. Die Entscheidung konnte ohne die Kläger in der Hauptsache ergehen, weil die Kläger in der ordnungsgemäß zugestellten Ladung vom 02.09.2016 auf diese Möglichkeit hingewiesen worden sind. Zwar hat das Gericht in der Ladung das persönliche Erscheinen der Kläger angeordnet, jedoch nur zum Zweck der Erörterung der Sach- und Rechtslage mit den Beteiligten, um etwa eine vergleichsweise Erledigung des Rechtsstreits herbeizuführen. Die Anordnung ist in mündlicher Verhandlung durch Kammerbeschluss aufgehoben worden, nachdem die Kläger unentschuldigt nicht zum Termin erschienen sind. Aus der Anordnung des persönlichen Erscheinens ist im vorliegenden Fall nicht darauf zu schließen gewesen, dass ohne das Erscheinen der Kläger eine Sachentscheidung nicht ergehen durfte (vgl. dazu BSG, Beschl. vom 31.01.2008, B 2 U 311/07 B, juris, Rdrn. 4 f.).
3. Streitgegenständlich ist die Verpflichtung des Beklagten, die angegriffenen Bescheide nach § 44 SGB X zurückzunehmen und die einbehaltenen Leistungen auszuzahlen. Dies ergibt sich aus der Auslegung der schriftsätzlich gestellten Anträge und des Sachvortrages der Kläger.
Gemäß § 123 SGG entscheidet das Gericht über die vom Kläger erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein. Durch diese Vorschrift wird unter anderem der wesentliche Grundsatz auch des sozialgerichtlichen Verfahrens zum Ausdruck gebracht, dass das Gericht nur über die vom Kläger zur Entscheidung gestellten Anträge entscheiden darf. Diese Bindung des Gerichts bezieht sich auf den erhobenen Anspruch, nicht auf die Fassung der Anträge. Wenn die Klage keinen im Sinne des § 92 SGG bestimmten Antrag enthält, der eine zweifelsfreie Bestimmung des gewollten ermöglicht, muss das Gericht mit den Beteiligten klären, was gewollt ist, und darauf hinwirken, dass sachdienliche und klare Anträge gestellt werden (§ 106 Abs. 1, § 112 Abs. 2 Satz 2 SGG). Erforderlichenfalls muss der Antrag entsprechend § 133 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ausgelegt werden; hiernach ist bei der Auslegung einer Willenserklärung der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften. Bei der Auslegung sind das gesamte Vorbringen und alle bekannten Umstände zu berücksichtigen.
Vorliegend ergibt die Auslegung, dass die Kläger eine Verpflichtung des Beklagten begehren, auf der ersten Stufe seine Eingliederungsmaßnahmen in Gestalt von Meldeaufforderungen und Eingliederungsverwaltungsakten und daraus resultierend auf der zweiten Stufe seine Sanktionsbescheide zurückzunehmen und sodann auf der dritten Stufe die einbehaltenen Leistungen zuzüglich eines von den Klägern für angemessen gehaltenen Betrages als Folgenbeseitigung an die Kläger auszuzahlen. Dies haben die Kläger in ihrer Klagebegründung unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Rechtsnorm des § 44 SGB X und § 40 Abs. 1 SGB II klar und unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Da die Kläger bereits in der Vergangenheit sämtliche Versuche des Sozialgerichts Bayreuth sowie des Bayerischen Landessozialgerichts, auf eine aus Sicht der Gerichte sachdienliche Antragstellung hinzuwirken (vgl. den Schriftverkehr im Zusammenhang mit den Klagen auf Feststellung der Nichtigkeit von Meldeaufforderungen, S 13 AS 825/13 und L 11 AS 734/13 sowie S 13 AS 881/13 und L 11 AS 735/13, unter Hinweis auf den Wortlaut ihrer Anträge) jeweils abgelehnt haben, verbietet sich auch im vorliegenden Fall eine andere Auslegung.
4. Damit ist statthaft hinsichtlich der vor Klageerhebung ergangenen Sanktionsbescheide (21.06.2013 bis 22.12.2015) grundsätzlich die kombinierte Verpflichtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 1, Abs. 4 SGG bzw. soweit Überprüfungsbescheide ergangen sind, die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage, die mit einer Leistungsklage verbunden ist.
5. Hinsichtlich der Sanktionsbescheide vom 21.06.2013, 07.08.2013, 04.09.2013, 22.10.2013, 06.11.2013, 05.12.2013, 18.12.2013, 12.02.2014, 13.03.2014, 28.03.2014, 22.04.2014, 29.04.2014, 13.05.2014, 20.05.2014 und 18.07.2014 ist die Klage unzulässig.
Die Kläger haben gegen diese Bescheide entgegen der Auffassung des Beklagten nicht am 20.10.2014 Widerspruch eingelegt; dieser Widerspruch wäre auch verfristet gewesen und hätte die Bestandskraft der Bescheide nicht beseitigen können. Der Widerspruch vom 20.10.2014 bezog sich ausweislich seines Wortlauts lediglich auf alle in den Jahren 2013 / 2014 vom Beklagten an die Kläger ergangenen Meldeaufforderungen und Eingliederungsvereinbarungen. Gegen die gleichwohl ergangenen Widerspruchsbescheide vom 17.12.2014, 18.12.2014, 19.12.2014, 22.12.2014 und 05.01.2015 haben die Kläger trotz darin enthaltener ordnungsgemäßer Rechtsfolgenbelehrung nicht innerhalb Monatsfrist Klage erhoben und diese somit ebenfalls bestandskräftig werden lassen. Gleiches gilt für die in den genannten Widerspruchsbescheiden jeweils verfügte Ablehnung der Überprüfung der Sanktionsbescheide, gegen die die Kläger auch nicht innerhalb Jahresfrist des § 66 Abs. 2 SGG spätestens am 11.01.2016 Klage erhoben haben.
Damit konnte die erkennende Kammer keine Veranlassung dafür erkennen, das vorliegende Klageverfahren auszusetzen, um die Entscheidung des Beklagten über möglicherweise in der Klageerhebung liegende Widersprüche gegen die ablehnenden Überprüfungsentscheidungen des Beklagten vom 17.12.2014, 18.12.2014, 19.12.2014, 22.12.2014 und 05.01.2015 abzuwarten.
4. Die Klage ist ebenfalls hinsichtlich der Sanktionsbescheide vom 20.10.2014, 21.11.2014, 08.12.2014, 26.01.2015, 10.02.2015, 12.03.2015 und 23.04.2015 unzulässig. Gegen diese Entscheidungen haben die Kläger keinen Widerspruch eingelegt und die Bescheide damit bestandskräftig werden lassen; insoweit ist jedoch die Klageschrift vom 29.01.2016 als Antrag auf Überprüfung der Bescheide nach § 44 SGB X auszulegen, über die der Beklagte noch entscheiden muss, jedenfalls soweit die Rücknahme der Sanktionsbescheide nicht wegen Ablaufs der Frist nach § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X i.V.m. § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II schlechterdings keine Auswirkung mehr haben kann. Anlass zur Aussetzung des Verfahrens bestand auch in diesem Fall zur Auffassung der erkennenden Kammer nicht, da kein ordentlicher Rechtsbehelf zur Entscheidung offen stand. Zwar wird in dem Fall, dass eine Klage nach Erhebung des Widerspruchs, aber vor Abschluss des Widerspruchsverfahrens erhoben wurde, überwiegend angenommen, dass das Verfahren analog § 114 Abs. 2 SGG auszusetzen (BSG Beschluss vom 4. 3. 2014, B 1 KR 43/13 B; Bayer. LSG, Urt. v. 30. 11. 2011, L 1 R 406/11; Bayer. LSG, Beschluss vom 5. 5. 2014, L 11 AS 325/14 B) und dass in der Klageerhebung zugleich die Einlegung des Widerspruchs zu sehen ist (vgl. etwa BSG, Urt. vom 13.12.2000, B 6 KA 1/00 R). So liegt der Fall hier jedoch nicht; während Widerspruch und Klageerhebung Rechtsbehelfe gegen einen nicht bestandskräftigen Verwaltungsakt darstellen, eröffnet der Antrag nach § 44 SGB X ein neues Verwaltungsverfahren.
5. Ebenfalls unzulässig ist die Klage hinsichtlich der Sanktionsbescheide vom 28.05.2015 und 14.07.2015. Hiergegen haben die Kläger jeweils am 20.09.2015 – verfristet – Widerspruch eingelegt, welche Widersprüche mit Bescheiden vom 27.10.2015 als unzulässig zurückgewiesen wurden. Auch hier steht noch eine Überprüfungsentscheidung des Beklagten aus, auf die mit dem oben unter 4. Gesagten zur Auffassung der Kammer nicht durch Aussetzung des Verfahrens zu warten war.
6. Gleiches gilt für die Sanktionsbescheide vom 03.11.2015, 16.11.2015 und 22.12.2015. Hiergegen haben die Kläger keinen Widerspruch, sondern lediglich am 29.01.2016 die vorliegende Klage mit dem Begehren der Aufhebung nach § 44 SGB X erhoben. Diesbezüglich liegt eine negative Überprüfungsentscheidung des Beklagten ebenfalls nicht vor; als Widerspruch gedeutet wäre die am 29.01.2016 erhobene Klage auch im Hinblick auf den zuletzt ergangenen Sanktionsbescheid vom 22.12.2015 verfristet, da für diesen eine Bekanntgabefiktion am 28.12.2015 gilt. Auch insoweit ist die Klage als Antrag nach § 44 SGB X im Verwaltungsverfahren auszulegen.
7. Sanktionsbescheide nach Klageerhebung sind nicht Streitgegenstand geworden. Nach § 96 Abs. 1 SGG wird ein neuer Verwaltungsakt nach Klageerhebung nur Gegenstand des Klageverfahrens, wenn er nach Erlass des Widerspruchsbescheides ergangen ist und den abgeänderten Verwaltungsakt abändert oder ersetzt. Diese Voraussetzung ist für weitere Sanktionsbescheide des Beklagten nicht erfüllt.
8. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG; sie entspricht im Ergebnis dem Ausgang des Rechtsstreits.

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