Aktenzeichen 22 ZB 16.288
GG Art. 2 Abs. 1, Art. 9 Abs. 1, Art. 100 Abs. 1
GKG § 47, § 52 Abs. 3
IHKG § 3 Abs. 2 S. 1
VwGO § 94, § 124 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 2, Nr. 3, Nr. 5, § 124a Abs. 4 S. 4, Abs. 5 S. 2, § 154 Abs. 2, § 173
ZPO § 251 S. 1
Leitsatz
Das Verwaltungsgericht muss ein Verfahren über Kammerbeiträge nicht bis zur Entscheidung über anhängige Verfassungsbeschwerden betreffend die Pflichtmitgliedschaft in der IHK entsprechend § 94 VwGO aussetzen, wenn es die Pflichtmitgliedschaft mit der bisherigen Rechtsprechung weiterhin für rechtmäßig hält und keine Anhaltspunkte dafür sieht, dass das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung ändern wird. In der Ablehnung der Aussetzung des Verfahrens liegt deshalb kein die Berufungszulassung rechtfertigender Verfahrensfehler. (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
AN 4 K 14.1227 2015-11-10 Urt VGANSBACH VG Ansbach
Tenor
I.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II.
Der Kläger hat die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen.
III.
Der Streitwert wird für das Antragsverfahren auf 4.039,60 Euro festgesetzt.
Gründe
I. Der Kläger begehrt die Aufhebung von Beitragsbescheiden der Beklagten.
Mit Bescheid vom 30. Juni 2014 setzte die Beklagte gegenüber dem Kläger als Kammermitglied Beiträge für die Jahre 2011 und 2012 endgültig sowie für das Jahr 2014 vorläufig fest und stellte gleichzeitig für diese Jahre Beiträge in einer Gesamthöhe von 3.079,94 Euro in Rechnung. Mit weiterem Bescheid vom 3. Juli 2015 bestimmte die Beklagte vorläufig einen vom Kläger zu entrichtenden Beitrag für das Jahr 2015 in Höhe von 959,66 Euro.
Gegen die vorgenannten Bescheide erhob der Kläger Anfechtungsklagen zum Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach (Az. des Verfahrens betreffend den Bescheid vom 30. Juni 2014: AN 4 K 14.01227; Az. des Verfahrens zum Bescheid vom 3. Juli 2015: AN 4 K 15.01109). Der Kläger beantragte die Aussetzung und das Ruhen der Verfahren mit der Begründung, ausstehende Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts über Verfassungsbeschwerden jeweils betreffend die Pflichtmitgliedschaft in einer Industrie- und Handelskammer sollten abgewartet werden. Die Beklagte lehnte das Ruhen der Verfahren ab.
Das Verwaltungsgericht wies diese Klagen mit Urteil vom 10. November 2015 ab.
Hiergegen richtet sich der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf die Gerichts- und die beigezogenen Behördenakten.
II. Eine Aussetzung des Zulassungsverfahrens (§ 94 VwGO analog) bis zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über anhängige Verfassungsbeschwerden betreffend die Frage, ob die Bestimmungen des Gesetzes zur vorläufigen Regelung des Rechts der Industrie- und Handelskammern (IHKG), welche die jeweiligen Beschwerdeführerinnen der Mitgliedschaft in den Industrie- und Handelskammern unterwerfen und ihnen eine Beitragspflicht auferlegen, mit Art. 2 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 1 GG vereinbart sind ( Az. 1 BvR 2222/12, 1 BvR 1106/13), kommt hier nicht in Betracht. Wie sich aus dem Folgenden näher ergibt, ist der Antrag des Klägers bereits wegen der unzureichenden Darlegung von Zulassungsgründen abzulehnen; die vorbezeichnete Rechtsfrage ist daher in diesem Verfahren nicht entscheidungserheblich.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg, da sich aus den Darlegungen in der Antragsbegründung des Klägers (vgl. zur deren Maßgeblichkeit § 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO) nicht ergibt, dass die Voraussetzungen eines Zulassungsgrundes nach § 124 Abs. 2 VwGO erfüllt sind.
1. Einen Zulassungsgrund nach § 124 Abs. 2 VwGO hat der Kläger nicht dargelegt, soweit er geltend macht, das Verwaltungsgericht hätte ein Ruhen oder die Aussetzung der Klageverfahren anordnen müssen.
Der Kläger bezieht diese Rüge nicht ausdrücklich auf einen der Zulassungsgründe nach § 124 Abs. 2 VwGO. Es ist jedoch insoweit ausreichend, wenn sein Vortrag einem dieser Gründe zugeordnet werden kann. Eine unter Verstoß gegen Verfahrensrecht erfolgte Ablehnung des Verwaltungsgerichts, das beantragte Ruhen oder die Aussetzung der Klageverfahren anzuordnen, könnte grundsätzlich einen Verfahrensmangel darstellen, auf dem die Entscheidung beruhen könnte (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO).
Das Ruhen des Verfahrens konnte hier nicht angeordnet werden, da die Beklagte ihre Zustimmung hierzu verweigert hat (§ 173 VwGO i. V. m. § 251 Satz 1 ZPO). In Betracht kam lediglich die Aussetzung der Klageverfahren in entsprechender Anwendung des § 94 VwGO im Hinblick auf die vom Kläger angesprochenen, beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfassungsbeschwerden. Diese betreffen die Frage der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlich verankerten Pflichtmitgliedschaft in einer Industrie- und Handelskammer (IHK) und der damit einhergehenden Beitragspflicht. Die Zielsetzung einer Aussetzung des Klageverfahrens betreffend die Beitragserhebung durch die Beklagte ist zwar aus Sicht des Klägers nachvollziehbar. Mit seinem Argument, die Pflichtmitgliedschaft in einer IHK wie der Beklagten sei verfassungswidrig, könnte er grundsätzlich auch die Rechtmäßigkeit einer Beitragserhebung in Frage stellen, welche an die Pflichtmitgliedschaft anknüpft (§ 2 Abs. 1, § 3 Abs. 2 Satz 1 IHKG). Der Kläger hat jedoch nicht dargelegt, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Aussetzung der Klageverfahren (§ 94 VwGO) vorgelegen und eine verfahrensrechtliche Pflicht des Verwaltungsgerichts zur Aussetzung bestanden hätten.
Das Verwaltungsgericht ist im angefochtenen Urteil (UA S. 7) davon ausgegangen, dass die Normen des IHKG zur Pflichtmitgliedschaft in einer IHK Entscheidungsgrundlage in den vorliegenden Klageverfahren sind. Weiter hat es angenommen, dass ein Gericht das Verfahren nicht gemäß § 94 VwGO analog aussetzen muss, wenn das Bundesverfassungsgericht zwar eine Verfassungsbeschwerde betreffend die Gültigkeit einer Rechtsnorm zur Entscheidung angenommen hat, das Gericht jedoch nicht von der Verfassungswidrigkeit dieser in dem bei ihm anhängigen Verfahren anzuwendenden Rechtsnorm überzeugt ist. Es hat zudem erwogen, dass ein Aussetzen des Verfahrens aus Gründen der Prozessökonomie dann geboten sein könnte, wenn sich abzeichnen würde, dass das Bundesverfassungsgericht eine Abweichung von seiner bisherigen Entscheidungspraxis plane. Der Kläger hat nicht konkret dargelegt, inwieweit diese rechtlichen Maßstäbe unzutreffend sein könnten. Sie stehen im Übrigen auch in Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Danach kommt zwar eine Aussetzung des Verfahrens in entsprechender Anwendung des § 94 VwGO grundsätzlich in Betracht, wenn die Gültigkeit einer Rechtsnorm, die bei der Entscheidung über den betreffenden Rechtsstreit heranzuziehen ist, Gegenstand einer konkreten Normenkontrolle (Art. 100 Abs. 1 GG) ist (BVerwG, B. v. 26.2.2015 – 2 C 1/14 – NVwZ-RR 2015, 619 Rn. 3 m. w. N.). In gleicher Weise ist eine Aussetzung des Verfahrens entsprechend § 94 VwGO auch dann zulässig, wenn eine Verfassungsbeschwerde anhängig ist, mit der die Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm mit beachtlichen Gründen in Zweifel gezogen wird, und mit einer Senatsentscheidung hierüber zu rechnen ist (Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 94 Rn. 5 m. w. N.). Die Ablehnung der Aussetzung des Verfahrens ist jedoch auch bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 94 VwGO analog jedenfalls dann nicht zu beanstanden, wenn das betreffende Gericht in Übereinstimmung mit der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung von der Gültigkeit der betreffenden Rechtsnorm ausgeht (BVerwG, B. v. 11.9.2013 – 9 B 43/13 – juris Rn. 3).
Unter Berücksichtigung der vorgenannten Kriterien hat das Verwaltungsgericht bei der angefochtenen Entscheidung zum Aussetzungsantrag des Klägers zugrunde gelegt, dass seines Erachtens die entscheidungserheblichen Normen zur IHK-Pflichtmitgliedschaft mit dem Grundgesetz vereinbar sind und keine Anzeichen für eine anstehende geänderte Auffassung des Bundesverfassungsgerichts zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der maßgeblichen Rechtsnormen erkennbar seien (UA S. 9 und 10). Seine Rechtsmeinung hat das Verwaltungsgericht zum einen maßgeblich auf bisher zur Frage der Pflichtmitgliedschaft in öffentlichrechtlichen Körperschaften ergangene Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (B. v. 7.12.2001 – 1 BvR 1806/98 – BayVBl 2002, 560; B. v. 18.12.1974 – 1 BvR 430/65 u. a. – BVerfGE 38, 281; B. v. 19.12.1962 – 1 BvR 541/57 – BVerfGE 15, 235), des Bundesverwaltungsgerichts (U. v. 19.1.2008 – 6 C 10/04 – BVerwGE 122, 344; U. v. 21.7.1998 – 1 C 32.97 – BVerwGE 107, 169) und des Verwaltungsgerichtshofs (B. v. 4.9.2012 – 22 ZB 11.1007 – NVwZ 2013, 236) gestützt. Zum anderen hat es auch unter Berücksichtigung der derzeit anhängigen Verfassungsbeschwerden betreffend die IHK-Pflichtmitgliedschaft keine sich verdichtenden Anzeichen für eine geänderte Beurteilung der betreffenden Rechtsnormen erkannt. Seit den jüngsten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts hätten sich weder die tatsächlichen noch die rechtlichen Rahmenbedingungen dahingehend verändert, dass nunmehr eine andere Bewertung der Pflichtzugehörigkeit zu den IHK geboten wäre. Diese materiellrechtliche Auffassung des Verwaltungsgerichts zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der Rechtsnormen betreffend die IHK-Pflichtmitgliedschaft und zu etwaigen Anzeichen für einen Wandel in der rechtlichen Beurteilung der einschlägigen Rechtsnormen ist bei der Beurteilung, ob das Verwaltungsgericht verfahrensrechtlich fehlerhaft vorgegangen ist, zugrunde zu legen (Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124 Rn. 485 m. w. N.). Der Kläger hat sich im Übrigen mit der Begründung des Verwaltungsgerichts zur Ablehnung seines Aussetzungsantrags nicht konkret auseinandergesetzt und nicht dargelegt, weshalb dennoch eine Pflicht des Verwaltungsgerichts bestanden haben könnte, seinem Antrag stattzugeben.
Alleine daraus, dass andere Gerichte Verfahren im Hinblick auf anhängige Verfassungsbeschwerden ausgesetzt haben, ergibt sich keine Verpflichtung eines Verwaltungsgerichts, vergleichbare Verfahren ebenfalls auszusetzen, wie der Kläger möglicherweise annimmt. Aus der vorgenannten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (B. v. 11.9.2013 – 9 B 43/13 – juris Rn. 3) folgt vielmehr, dass einem Verwaltungsgericht, das wie hier in Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung von der Verfassungsmäßigkeit der betreffenden Rechtsnorm ausgeht, bei der Entscheidung über eine beantragte Aussetzung des Verfahrens unter den dort genannten Voraussetzungen ein Beurteilungsspielraum auch dann verbleibt, wenn die Verfassungswidrigkeit einer streitentscheidenden Rechtsnorm Gegenstand eines beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfahrens ist, z. B. im Rahmen einer von einem anderen Gericht angestrengten konkreten Normenkontrolle (Art. 100 Abs. 1 GG).
2. Weiter hat der Kläger keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) oder eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) dargelegt, indem er ausgeführt hat, das gesamte Konstrukt einer IHK mit der Heranziehung zur Beitragspflicht sei verfassungsrechtlich mittlerweile bedenklich. Hieraus ergibt sich bereits nicht, inwieweit aus seiner Sicht die Pflichtmitgliedschaft in der IHK gegen bestimmte Normen des Grundgesetzes verstößt. Im Hinblick auf die Bindungswirkung (§ 31 Abs. 1 BVerfGG) des Beschlusses vom 19. Dezember 1962 (1 BvR 541/57 – BVerfGE 15, 235) und der bestätigenden nachfolgenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts hätte der Kläger zudem substantiiert und konkret darlegen müssen, worin die für einen Wegfall dieser Bindungswirkung nötigen rechtserheblichen tatsächlichen oder rechtlichen Änderungen oder ein Wandel der allgemeinen Rechtsauffassung bestehen sollten (BayVGH, B. v. 4.9.2012 – 22 ZB 11.1007 – NVwZ 2013, 236/237). Eine pauschale Bezugnahme des Klägers auf seinen erstinstanzlichen Vortrag (Schriftsatz vom 10.3.2016, S. 2 unter Nr. 2) genügt den Anforderungen an eine Darlegung der geltend gemachten Berufungsgründe nicht.
Der Kläger sieht bereits darin, dass das Bundesverfassungsgericht die oben genannten Verfassungsbeschwerden „zugelassen“ und hierzu Stellungnahmen eingeholt habe, Hinweise auf eine möglicherweise anstehende geänderte Grundsatzentscheidung. Daraus ergibt sich indes nicht konkret, weshalb eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür sprechen sollte, dass das Bundesverfassungsgericht in einer künftigen Entscheidung die IHK-Pflichtmitgliedschaft als verfassungswidrig ansehen könnte. Solche Hinweise ergeben sich auch offensichtlich nicht aus dem vom Kläger angeführten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. Dezember 2015 (10 C 6.15 – GewArch 2016, 148), das insbesondere eine etwaige Unangemessenheit der Rücklagenbildung durch eine IHK betrifft, welche ein Kammermitglied im Rahmen seiner gegen einen Betragsbescheid gerichteten Klage unter Umständen rügen kann. Diesem Urteil sind keine Ausführungen betreffend die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Pflichtmitgliedschaft in öffentlichrechtlichen Körperschaften zu entnehmen.
Kosten: § 154 Abs. 2 VwGO.
Streitwert: §§ 47, 52 Abs. 3 GKG.