Verwaltungsrecht

Keine Ausweisung eines faktischen Inländers bei offenen Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren

Aktenzeichen  10 AS 16.1602

Datum:
26.8.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5 VwGO, § 124 Abs. 2 VwGO
AufenthG § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG
EMRK Art. 8 EMRK

 

Leitsatz

1. Sind die Erfolgsaussichten der Verpflichtungsklage auf Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis als offen anzusehen, überwiegt das Interesse des Antragstellers, bis zum rechtskräftigen Abschluss des Klageverfahrens im Bundesgebiet verbleiben zu dürfen, das öffentliche Interesse an der gesetzlich bestimmten sofortigen Vollziehung der Ablehnung des Antrags auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis und damit der Aufenthaltsbeendigung des Antragstellers. (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Verwirklichung eines der in § 54 AufenthG genannten Tatbestände begründet nicht unmittelbar das Ausweisungsinteresse. Ein Ausweisungsinteresse besteht nur dann, wenn von dem Betroffenen eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht, der weitere Aufenthalt des Ausländers also eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt oder sonst erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet. (redaktioneller Leitsatz)
3. Bei Annahme eines Ausweisungsinteresses ist in die Abwägungsentscheidung, ob ein Ausnahmefall vorliegt, die Dauer des bisherigen Aufenthalts im Bundesgebiet und die Integration des Betroffenen, aber auch der Grad der Wahrscheinlichkeit, dass der Betroffene erneut Straftaten begehen wird, mit einzubeziehen. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen Nr. 3 des Bescheides der Antragsgegnerin vom 21. März 2016 wird bis zum rechtskräftigen Abschluss des Klageverfahrens angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III.
Der Streitwert für das Verfahren wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.

Gründe

I. Der am 14. Februar 1998 geborene Antragsteller ist russischer Staatsangehöriger. Er reiste mit seinen Eltern am 15. September 2002 in das Bundesgebiet ein. Ihm wurden fortlaufend Aufenthaltstitel erteilt, zuletzt am 17. Dezember 2008 mit einer Gültigkeitsdauer bis zum 14. Februar 2014. Am 10. Februar 2014 beantragte er die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis.
Das Amtsgericht Augsburg verurteilte den Antragsteller mit Urteil vom 23. Juli 2014 wegen gemeinschaftlicher schwerer räuberischer Erpressung, gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung, Bedrohung und gemeinschaftlicher Sachbeschädigung zu einer Einheitsjugendstrafe von drei Jahren und vier Monaten. Das Landgericht Augsburg reduzierte diese Strafe im Berufungsverfahren mit dem Urteil vom 19. November 2014 auf zwei Jahre und elf Monate. Der Antragsteller wurde am 23. Oktober 2013 wegen einer am 12. Oktober 2013 begangenen Straftat, die auch Gegenstand es Urteils vom 23. Juli 2014 ist, inhaftiert. Er verbüßte seine Strafe in der JVA L.-L2. Im Zeitraum vom 13. März 2015 bis 28. April 2015 war er mit weiteren Gefangenen in einer Wohngemeinschaft der JVA Laufen untergebracht. In dieser Zeit kam es zu mehreren Übergriffen gegenüber einem anderen Mitbewohner der Wohngemeinschaft, an denen der Antragsteller beteiligt war. Deswegen verurteilte ihn das Amtsgericht Laufen mit Urteil vom 3. Dezember 2015 unter Einbeziehung der Verurteilung vom 19. November 2014 zu einer Einheitsjugendstrafe von drei Jahren und drei Monaten. Am 7. Februar 2016 wurde er auf Bewährung aus der Haft entlassen und kehrte in sein Elternhaus zurück.
Mit Bescheid vom 21. März 2016 wies die Antragsgegnerin den Antragsteller aus dem Bundesgebiet aus (Nr. 1), befristete die Wirkungen der Ausweisung auf fünf Jahre ab Verlassen des Bundesgebiets (Nr. 2) und lehnte den am 10. Februar 2014 gestellten Antrag auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis ab (Nr. 3). Vom Antragsteller gehe eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowohl in spezial- als auch in generalpräventiver Hinsicht aus. Er sei in der Vergangenheit vielfach und massiv strafrechtlich in Erscheinung getreten. Insbesondere habe er trotz der Untersuchungshaft von Oktober 2013 bis November 2014, der darauffolgenden Verurteilung zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und elf Monaten und der Verwarnung, welche ihm die Konsequenzen weiterer Verfehlungen vor Augen geführt habe, in der Zeit vom 13. März bis 28. April 2015 während des Jugendstrafvollzugs erneut 15 Körperverletzungsdelikte begangen. Anhaltspunkte, welche die von ihm ausgehende Wiederholungsgefahr minderten, seien kaum bzw. nicht ersichtlich. Neben den spezialpräventiven Aspekten könne die Ausweisung auch auf generalpräventive Gesichtspunkte gestützt werden, um mittels der verhaltenssteuernden Wirkung der Ausweisung andere Ausländer von der Begehung gleichartiger Taten abzuhalten. Das Ausweisungsinteresse wiege gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG besonders schwer. Auf ein gesetzlich normiertes Bleibeinteresse nach § 55 AufenthG könne sich der Antragsteller nicht berufen, da er keine Aufenthaltserlaubnis mehr besitze. Art. 8 EMRK stehe der Ausweisung nicht entgegen. Der Antragsteller halte sich zwar seit rund 14 Jahren im Bundesgebiet auf, es könne jedoch nicht von einer gelungenen Integration in die hiesige Gesellschaft gesprochen werden. Eine Rückkehr in sein Heimatland sei ihm möglich und zumutbar. Er spreche die russische Sprache. Seinen Schulabschluss habe er erst in der Haft erworben. Die Aufenthaltserlaubnis sei zu versagen, weil die Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht gegeben sei, da besonders schwerwiegende Ausweisungsinteressen nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1a AufenthG vorlägen. Ein vom Regelfall abweichender Sachverhalt, welcher von einem atypischen Geschehensablauf gekennzeichnet sei, der so bedeutsam sei, dass jedenfalls das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigt werde, sei nicht ersichtlich.
Gegen diesen Bescheid erhob der Antragsteller Klage, mit der er beantragte, den Bescheid der Antragsgegnerin vom 21. März 2016 aufzuheben und sie zu verpflichten, ihm eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.
Mit Urteil vom 5. Juli 2016 hob das Bayerische Verwaltungsgericht Augsburg den Bescheid der Antragsgegnerin vom 21. März 2016 in Nr. 1 und 2 auf. Im Übrigen wies es die Klage ab. Das Urteil wurde in der mündlichen Verhandlung vom 5. Juli 2016 verkündet.
Am 25. Juli 2016 hat der Antragsteller beim Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Nr. 3 des Bescheides der Antragsgegnerin vom 21. März 2016 bis zum rechtskräftigen Abschluss des Klageverfahrens anzuordnen.
Die Antragsgegnerin habe ihre Zusicherung vom 6. Mai 2016, bis zur erstinstanzlichen Entscheidung in der Hauptsache keine Maßnahmen einzuleiten und zu vollziehen, widerrufen und die Auffassung vertreten, dass die Zusicherung mit Verkündung des Urteils vom 5. Juli 2016 erfüllt sei und die Ausreisefrist für den Antragsteller am 1. August 2016 ende. Bei Abwägung der für und gegen eine Abschiebung des Antragstellers noch vor dem rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens sprechende Gesichtspunkte erwiesen sich die gegen eine sofortige Vollziehbarkeit der Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis sprechenden Gründe als deutlich gewichtiger. Die Straftaten des Antragstellers lägen bereits eine Weile zurück. Er habe sie in so jugendlichem Alter begangen, dass von einer Verfestigung krimineller Verhaltensweisen nicht ausgegangen werden könne. Es sei nicht von einer relevanten Wahrscheinlichkeit einer erneuten Straffälligkeit des Antragstellers nach der Haftentlassung auszugehen. Er habe sich in vollem Umfang der positiven Erwartung entsprechend verhalten. Er habe einen Ausbildungsvertrag abgeschlossen, am 1. September 2016 könne er seine Ausbildung beginnen. Demgegenüber werde der Antragsteller im Falle der Abschiebung in ein für ihn weitgehend fremd gewordenes Heimatland, in dem ihm keine Hilfe von Verwandten zur Verfügung stünde, verbracht. Es erscheine geboten, ihm jedenfalls bis zum Abschluss des Klageverfahrens hinsichtlich der Frage der Aufenthaltserlaubnis den weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet zu ermöglichen.
Das Urteil wurde dem Bevollmächtigten des Antragstellers am 28. Juli 2016 zugestellt. Zur Begründung der Aufhebung der Ausweisungs- und Befristungsentscheidung führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, dass die Kammer unter Zugrundelegung des persönlichen Eindrucks in der mündlichen Verhandlung zu der Überzeugung gelangt sei, dass die Gefahr einer Wiederholung schwerer Körperverletzungsdelikte derzeit durch die erzieherischen Maßnahmen in der Jugendhaft, die eigenen Bemühungen des Antragstellers um eine Berufsausbildung und die Aufarbeitung der Taten weitgehend gebannt sei. Er befinde sich auf einem guten Weg. Im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung überwögen deutlich die positiven Aspekte. Die Interessen an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet seien gewichtig. Er sei bereits im Alter von vier Jahren in das Bundesgebiet eingereist und hier aufgewachsen. Er habe in Deutschland seine Schulbildung absolviert. Sein Vater sowie sein jüngerer Bruder besäßen die deutsche Staatsangehörigkeit. Der Antragsteller sei faktischer Inländer. Die Einbindung in das stabile familiäre Umfeld sei von entscheidender Bedeutung. Auch positive Verhaltensweisen, die als Nachtatverhalten im Zusammenhang mit einer Straftat stünden, könnten im Rahmen des Bleibeinteresses eine Rolle spielen. Daher überwiege das persönliche Interesse des Antragstellers an einem weitern Verbleib im Bundesgebiet das öffentliche Interesse an seiner Ausreise. Die Klage sei abzuweisen, soweit die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis des Antragstellers begehrt werde. Der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis stehe jedenfalls die allgemeine Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG entgegen. Ein Ausweisungsinteresse liege nicht nur dann vor, wenn im konkreten Fall eine Ausweisung rechtsfehlerfrei verfügt werden könne. Angesichts der Schwere der vom Antragsteller begangenen Straftaten seien keine derart besonderen Umstände ersichtlich, die eine Ausnahme von der Regelversagung begründen könnten. Zur näheren Begründung werde auf den Beschluss der Kammer vom 12. Mai 2016 über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe verwiesen.
Am 1. August 2016 stellte der Antragsteller den Antrag, die Berufung gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 5. Juli 2016 bezüglich der Abweisung der Klage gegen die Versagung der Aufenthaltserlaubnis zuzulassen (10 ZB 16.1530).
Daraufhin hörte das Verwaltungsgericht die Parteien zu einer beabsichtigten Verweisung des Rechtsstreits im Eilverfahren an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof an. Der Antragsteller erklärte sein Einverständnis mit der Verweisung und führte ergänzend aus, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 5. Juli 2016 bezüglich der Abweisung der Klage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Widerspruch zur Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 24. März 2014 (Az. 10 CS 13.2568) stehe.
Mit Beschluss vom 9. August 2016 erklärte sich das Bayerische Verwaltungsgericht Augsburg für sachlich unzuständig und verwies den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz abzulehnen.
Der Antrag sei bereits unzulässig, weil er zu unbestimmt sei. Zudem sei der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellt worden, bevor der Antrag auf Zulassung der Berufung eingelegt worden sei. Voraussetzung für einen erfolgreichen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO sei, dass der Verwaltungsgerichtshof die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels zumindest als offen bewerten und entscheiden müsse, ob das öffentliche Interesse an der Vollziehung des streitgegenständlichen Bescheides überwiege. Dies dürfe der Verwaltungsgerichtshof aber nicht, weil er sonst die Aufgabe des Rechtsmittelführers übernehmen und prüfen müsse, welche Gründe für die Zulassung der Berufung geltend gemacht werden könnten.
Ergänzend wird auf die Behördenakten und die vorgelegten Gerichtsakten auch im Verfahren 10 ZB 16.1530 verwiesen.
II. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen Nr. 3 des Bescheides der Antragsgegnerin vom 21. März 2016 hat Erfolg. Zwar lassen sich die Erfolgsaussichten der Verpflichtungsklage auf Verlängerung der dem Antragsteller ursprünglich bis 14. Februar 2014 erteilten Aufenthaltserlaubnis zum derzeitigen Zeitpunkt nicht hinreichend sicher beurteilen, sondern sind als offen anzusehen. Jedoch führt die nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO zu treffende Abwägungsentscheidung zu dem Ergebnis, dass die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen Nr. 3 des Bescheides der Antragsgegnerin vom 21. März 2016 anzuordnen ist. Denn im Rahmen der gebotenen Abwägung überwiegt das Interesse des Antragstellers, bis zum rechtskräftigen Abschluss des Klageverfahrens im Bundesgebiet verbleiben zu dürfen, das öffentliche Interesse an der gesetzlich bestimmten (§ 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) sofortigen Vollziehung der Ablehnung des Antrags auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis und damit der Aufenthaltsbeendigung des Antragstellers.
Der Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Nr. 3 des Bescheids der Antragsgegnerin vom 21. März 2016 anzuordnen, ist zulässig. Dem Antrag auf Zulassung der Berufung kommt keine aufschiebende Wirkung zu. Er hemmt lediglich die Rechtskraft des erstinstanzlichen Urteils (Seibert in Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl. 2016, § 124 Rn. 37, § 124a Rn. 222), so dass mangels einer rechtskräftigen Entscheidung über das Klagebegehren auch noch nach Ergehen des erstinstanzlichen Urteils die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet werden kann (vgl. BayVGH, B. v.13.4.2010 – 19 AS 10.52 – juris Rn. 10).
Maßstab für die Beurteilung, ob der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO begründet ist, sind die Erfolgsaussichten des Klageverfahrens, da eine positive Entscheidung über die Zulassung der Berufung nicht zwangsläufig zu einem Erfolg des Rechtsmittels in der Hauptsache führt. Die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Antrag auf Zulassung der Berufung sind insoweit unterschiedlich (BVerwG, B. v. 19.6.2007 – 4 VR 2.07 – juris Rn. 14 zu § 80b Abs. 2 VwGO). Allerdings darf der Antrag auf Zulassung der Berufung nicht rechtsmissbräuchlich oder offensichtlich unzulässig oder unbegründet sein. Vorliegend hat der Kläger seinen Zulassungsantrag fristgerecht gestellt. Die Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO zur Begründung des Zulassungsantrags läuft zwar erst am 28. September 2016 ab. Derzeit erscheint eine Zulassung der Berufung jedenfalls nicht ausgeschlossen, weil – wie der Kläger in seinem Schriftsatz vom 22. August 2016 zur Begründung des Zulassungsantrags vorgetragen hat – die Begründung des Verwaltungsgerichts, es liege kein Ausnahmefall i. S. d. § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG vor, weil eine Wiederholungsgefahr bestehe, nicht ganz widerspruchsfrei zu den Ausführungen zur Ausweisung ist, wonach die Gefahr der Begehung weiterer Körperverletzungsdelikte im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung „weitgehend gebannt“ sei.
Ebenfalls offen ist, ob die Klage auf Verpflichtung der Antragsgegnerin, die Aufenthaltserlaubnis des Antragstellers zu verlängern, Erfolg haben wird. Die Antragsgegnerin hat den Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis mit der Begründung abgelehnt, dass ein Ausweisungsinteresse i. S. d. § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG und kein Ausnahmefall von dieser Regelerteilungsvoraussetzung vorliege. Nach dem derzeitigen Sachstand lässt sich insbesondere unter Berücksichtigung der Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur Rechtswidrigkeit der Ausweisungsverfügung aber nicht mit hinreichender Sicherheit feststellen, ob (noch) ein Ausweisungsinteresse besteht oder ob eine Abweichung von der Regelerteilungsvoraussetzung geboten ist.
Unter einem Ausweisungsinteresse gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ist ein Tatbestand zu verstehen, der in § 54 AufenthG definiert ist. Entsprechend der Rechtslage vor dem 1. August 2015 ist keine hypothetische Ausweisungsprüfung in der Weise vorzunehmen, dass geklärt würde, ob eine Ausweisung des Antragstellers rechtmäßig wäre. Es spielt demnach keine Rolle, ob ein Bleibeinteresse nach § 55 AufenthG besteht (Maor in Beck’scher Online-Kommentar AuslR, AufenthG, § 5 Rn. 8). Vorliegend sind durch die Verurteilungen des Antragstellers zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und drei Monaten u. a. wegen gefährlicher Körperverletzungen die Tatbestände des § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1a AufenthG erfüllt.
Die Verwirklichung eines der in § 54 AufenthG genannten Tatbestände begründet allerdings nicht unmittelbar das Ausweisungsinteresse. Ein Ausweisungsinteresse besteht nur dann, wenn von dem Betroffenen eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht (Funke/Kaiser in Gemeinschaftskommentar AufenthG, Stand: Juli 2016, § 5 Rn. 58 und 64), der weitere Aufenthalt des Ausländers also eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt oder sonst erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet (vgl. Samel in Bergmann/Dienelt, AuslR, 11. Aufl. 2016, AufenthG, § 5 Rn. 45). Denn ein Ausweisungsinteresse ist nicht mehr erheblich, wenn ohne vernünftige Zweifel feststeht, dass die Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die mit dem Ausweisungsinteresse zusammenhängt, nicht mehr besteht (Maor, a. a. O., Rn. 11).
Nach den Ausführungen des Verwaltungsgerichts im (noch nicht rechtskräftigen) Urteil vom 5. Juli 2016 bestehen Zweifel, ob der weitere Aufenthalt des Antragstellers im Bundesgebiet noch eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt. Das Verwaltungsgericht hat ausführlich dargelegt, dass seiner Auffassung nach die Wiederholungsgefahr für die Begehung schwerer Straftaten weitgehend gebannt sein dürfte, weil der Antragsteller sich auf einem guten Weg befinde und im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung die positiven Aspekte in seiner Entwicklung deutlich überwögen. Ob diese Einschätzung des Verwaltungsgerichts, zu der es auch aufgrund des vom Antragsteller in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindrucks gekommen ist, zutrifft, vermag der Senat im Eilverfahren nicht hinreichend sicher zu beurteilen.
Nicht eindeutig geklärt werden kann daher auch, ob im Fall des Antragstellers ein Ausnahmefall von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG anzunehmen ist. Ausnahmen von einer Regelerteilungsvoraussetzung liegen vor, wenn ein atypischer Fall gegeben ist, der so weit vom Regelfall abweicht, dass die Versagung des Aufenthaltstitels mit der Systematik oder der grundlegenden Entscheidung des Gesetzgebers nicht mehr vereinbar ist. Insbesondere liegt ein Ausnahmefall vor, wenn die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen höherrangigen Rechts wie etwa Art. 6 GG oder im Hinblick auf Art. 8 EMRK geboten ist (Bender/Leuschner in Hofmann, AuslR, 2. Aufl. 2016, AufenthG, § 5 Rn. 7). Weitere Kriterien für die Frage, ob ein atypischer, von der Regel abweichender Sachverhalt in Bezug auf § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG gegeben ist, konnten nach der Rechtsprechung zur vorherigen Fassung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG in Bezug auf Straftaten insbesondere die Dauer des straffreien Aufenthalts im Verhältnis zur Gesamtaufenthaltsdauer und die schutzwürdigen Bindungen im Inland sein. Ob ein Ausnahmefall vorliegt, ist aufgrund einer umfassenden Abwägung aller einschlägigen öffentlichen und privaten Interessen zu entscheiden und stellt eine Rechtsentscheidung dar. Zu dieser Abwägung kommt es jedoch erst, wenn feststeht, dass eine konkrete Gefährdung der öffentlichen Sicherheit i. S. d. § 53 Abs. 1 AufenthG nach wie vor zu besorgen ist. Ein Ausnahmefall ist also dann zu bejahen, wenn die bestehende Wiederholungsgefahr aufgrund besonderer Umstände als Restrisiko in Kauf zu nehmen ist (Funke/Kaiser, a. a. O., Rn. 74). Insoweit geht das Verwaltungsgericht im Prozesskostenhilfebeschluss vom 12. Mai 2016 (Au 1 K 16.542), auf den es sich im Urteil vom 5. Juli 2016 bezieht, davon aus, dass der Antragsteller zwar als faktischer Inländer zu betrachten ist, die in den Führungsberichten zum Ausdruck gebrachte positive Einschätzung der Persönlichkeitsentwicklung des Antragstellers aber nicht zu einer so deutlich veränderten Einschätzung der Wiederholungsgefahr führen könne, dass die Annahme eines Ausnahmefalls gerechtfertigt sei und das Vorliegen eines Ausweisungsinteresses verneint werden könne. Die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur Ausweisungsverfügung im Urteil vom 5. Juli 2016, wonach die Gefahr einer Wiederholung schwerer Körperverletzungsdelikte weitgehend gebannt sei, und die Verneinung eines Ausnahmefalls im selben Urteil, obwohl allenfalls noch eine äußert geringe Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung angenommen und dem Antragsteller der Status eines faktischen Inländers zuerkannt wird, sind jedoch nicht ganz widerspruchsfrei.
Daher lässt sich derzeit nicht sicher feststellen, ob im Fall des Antragstellers eine Ausnahme von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG gegeben ist. Käme man zu dem Ergebnis, dass ein Ausweisungsinteresse vorliegt, weil die Gefahrenprognose ergibt, dass von ihm noch eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht, so ist bei der Abwägungsentscheidung, ob ein Ausnahmefall zu bejahen ist, die Dauer seines bisherigen Aufenthalts im Bundesgebiet und seine Integration, aber auch der Grad der Wahrscheinlichkeit, dass der Antragsteller erneut Straftaten begehen wird, zu berücksichtigen. Bestünde schon kein Ausweisungsinteresse mehr, stellt sich die Frage, ob ein Ausnahmefall von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG anzunehmen ist, ohnehin nicht.
Sind danach die Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren offen, überwiegt das private Interesse des Antragstellers an seinem Verbleib im Bundesgebiet bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren das öffentliche Interesse an seiner sofortigen Ausreise. Die von der Ausländerbehörde angenommene Gefahr, dass der Antragsteller bis zur Entscheidung in der Hauptsache erneut Straftaten im Bundesgebiet begehen wird und daher der Aufenthalt sofort zu beenden ist, sieht das Verwaltungsgericht aufgrund der positiven Entwicklung in der Haft und nach der Entlassung, die ihm auch von seinem Bewährungshelfer bescheinigt wird, als relativ gering an. Der Antragsteller beabsichtigt zudem, am 1. September 2016 eine Berufsausbildung zu beginnen. Demgegenüber würde eine sofortige Ausreise aus dem Bundesgebiet seine Chance, eine berufliche Qualifikation und Integration zu erreichen, von vornherein verhindern. Selbst wenn der Antragsteller im Hauptsacheverfahren Erfolg hätte, wäre der Ausbildungsplatz verloren.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 63 Abs. 2 Satz 1 und § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen