Aktenzeichen W 3 K 16.30731
Leitsatz
1 Die Ablehnung der Durchführung eines weiteren Asylverfahrens gemäß § 71 Abs. 1 AsylG bzw. § 71a AsylG stellt sich nach Inkrafttreten des Integrationsgesetzes der Sache nach als Entscheidung über die Unzulässigkeit eines Asylantrages nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG dar. Jedenfalls seit Inkrafttreten dieser Neuregelung ist die Entscheidung, kein weiteres Asylverfahren durchzuführen, mit der Anfechtungsklage anzugreifen. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
2 Die Anfechtungsklage ist auch nicht wegen des Vorrangs einer Verpflichtungsklage im Hinblick darauf unzulässig, dass für das vom Kläger endgültig verfolgte Ziel der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft die Verpflichtungsklage die richtige Klageart ist. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
3 Ein asylrechtlicher Zweitantrag, der bei Fehlen neuen Vorbringens ohne Sachprüfung als unzulässig abgelehnt werden kann, setzt gemäß § 71a Abs. 1 AsylG ein erfolglos abgeschlossenes Asylverfahren in einem sicheren Drittstaat voraus. Wenn sich das Bundesamt allein auf die Angaben des Antragstellers verlässt und keine Prüfung durch Rückfrage oder Beiziehung der Akten des anderen Mitgliedstaates durchführt, hat es keine verlässlichen Grundlagen für seine Entscheidung. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
4 Bei richtlinienkonformer Auslegung von § 71a AsylG muss neben der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft auch die Prüfung des subsidiären Schutzes Gegenstand des erfolglos abgeschlossenen Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat gewesen sein. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 30. Mai 2016 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu vollstreckenden Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Gründe
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des Klagebegehrens ist das Asylgesetz i.d.F. der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798), zuletzt geändert mit Wirkung vom 10. November 2016 durch das Fünfzigste Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches vom 4. November 2016 (BGBl. I S. 2460). Nach § 77 Abs. 1 AsylG ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen.
Vorliegend ist statthafte Klageart die Anfechtungsklage.
Dies ergibt sich aus Folgendem:
Die Ablehnung der Durchführung eines weiteren Asylverfahrens gemäß § 71 Abs. 1 AsylG bzw. – hier – § 71a AsylG stellt sich nach Inkrafttreten des Integrationsgesetzes der Sache nach als Entscheidung über die Unzulässigkeit eines Asylantrages nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG dar. Mit dem Integrationsgesetz hat der Gesetzgeber zur besseren Übersichtlichkeit und Vereinfachung der Rechtsanwendung in § 29 Abs. 1 AsylG die möglichen Gründe für die Unzulässigkeit eines Asylantrages in einem Katalog zusammengefasst. Jedenfalls seit Inkrafttreten dieser Neuregelung ist die Entscheidung, kein weiteres Asylverfahren durchzuführen, mit der Anfechtungsklage anzugreifen. Eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG stellt, ebenso wie die hier noch ergangene gleichbedeutende Ablehnung der Durchführung eines weiteren Asylverfahrens einen der Bestandskraft fähigen anfechtbaren Verwaltungsakt dar. Sie verschlechtert die Rechtstellung der Kläger, weil damit ohne inhaltliche Prüfung festgestellt wird, dass ihr Asylvorbringen nicht zur Schutzgewährung führt und darüber hinaus auch im Falle eines weiteren Asylantrages abgeschnitten wird, weil ein Folgeantrag, um den es sich gemäß § 71a Abs. 5 i.V.m. § 71 AsylG handeln würde, nur bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG zu einem weiteren Asylverfahren führen kann. Der Asylsuchende muss die Aufhebung des Bescheides, mit dem die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens abgelehnt wird, erreichen, wenn er eine Entscheidung über seinen Asylantrag erhalten will (BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris, Rn. 16).
Die Anfechtungsklage ist auch nicht wegen des Vorrangs einer Verpflichtungsklage im Hinblick darauf unzulässig, dass für das vom Kläger endgültig verfolgte Ziel der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft die Verpflichtungsklage die richtige Klageart ist (so schon: VGH BW, U.v. 29.4.2015 – A 11 S 121/15 – juris; BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50069 – juris). Soweit in der bisherigen Rechtsprechung zum Folgeantrag eine Verpflichtung der Gerichte zum Durchentscheiden angenommen und dementsprechend die Verpflichtungsklage als allein zulässige Klageart betrachtet worden ist, hält das Bundesverwaltungsgericht mit Blick auf die Weiterentwicklung des Asylverfahrensrechts hieran nicht mehr fest (BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris, Rn. 17).
Die Anfechtungsklage ist zulässig und begründet. Der Bescheid des Bundesamtes vom 30. Mai 2016 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO).
Ziffer 1 des Bescheides vom 30. Mai 2016 erweist sich bereits deshalb als rechtswidrig, weil gar nicht feststeht, ob der Kläger tatsächlich ein Asylverfahren erfolglos durchgeführt hat. Das Bundesamt hat ausweislich der Behördenakten nicht verlässlich geklärt, welchen Ausgang das Asylverfahren des Klägers in Italien genommen hat und welchen Status der Kläger in Italien hatte. Ein Rückübernahmeersuchen wurde nur an Norwegen gestellt, welches die norwegischen Behörden mit Schreiben vom 5. August 2014 ablehnten. In diesem Schreiben teilt das Dublin Büro Oslo auch mit, dass der Kläger im Jahre 2008 nach Italien zurückgeführt wurde. Das Bundesamt hat kein Rücknahmeersuchen an Italien gestellt und auch nicht aufgeklärt, wie das Asylverfahren des Klägers abgeschlossen wurde.
Der Kläger selbst hat zum Stand seines Verfahrens in Italien unterschiedliche Angaben gemacht. Einmal hat er angegeben, er sei anerkannt, einmal hat er angegeben, er sei abgelehnt, habe aber humanitären Schutz erhalten. Auch der Klägerbevollmächtigte hatte mit Schriftsatz vom 7. September 2015 (Bl. 80 der Behördenakte) darauf hingewiesen, dass dem Kläger der Stand seines Asylverfahrens nicht bekannt sei.
Ein asylrechtlicher Zweitantrag, der bei Fehlen neuen Vorbringens ohne Sachprüfung als unzulässig abgelehnt werden kann, setzt gemäß § 71a Abs. 1 AsylG ein erfolglos abgeschlossenes Asylverfahren in einem sicheren Drittstaat voraus (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016, a.a.O.). Wenn sich das Bundesamt allein auf die Angaben des Antragstellers verlässt und keine Prüfung durch Rückfrage oder Beiziehung der Akten des anderen Mitgliedstaates durchführt, hat es keine verlässlichen Grundlagen für seine Entscheidung. Die Asylbewerber haben in der Regel den Verfahrensablauf nicht durchschaut und können deshalb keine verlässlichen Angaben machen. Eine Zulässigkeitsentscheidung, die auf einer derart unzuverlässigen Tatsachenbasis getroffen wird, kann für ein nach rechtstaatlichen Grundsätzen durchzuführendes Verfahren keine Grundlage sein (vgl. BayVGH, U.v. 3.12.2015, a.a.O., Rn. 22).
Darüber hinaus ist vorliegend davon auszugehen, dass der in der Bundesrepublik Deutschland gestellte Asylantrag des Klägers nicht als identisch mit dem in Italien gestellten Asylantrag angesehen werden kann. Bei richtlinienkonformer Auslegung von § 71 a AsylG muss neben der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft auch die Prüfung des subsidiären Schutzes Gegenstand des erfolglos abgeschlossenen Asylverfahrens gewesen sein. Das Gericht folgt insoweit den Ausführungen des Verwaltungsgerichts Hamburg in seinem Beschluss vom 14.7.2016 (1 AE 2790/16, juris, Rn. 10 ff. m.w.N.) sowie dem Verwaltungsgericht Göttingen in seinem Beschluss vom 10. Juni 2016 (2 B 149/16, juris, Rn. 14 ff.).
Der – vermutlich im Jahre 2006 und/oder im Jahre 2008 nach der Rückschiebung aus Norwegen – in Italien gestellte Asylantrag des Klägers hat mit hoher Wahrscheinlichkeit keinen Antrag auf subsidiären Schutz beinhaltetet. Auch in Deutschland ist ein Antrag auf subsidiären Schutz gemäß § 4 AsylG erst seit Inkrafttreten der geänderten Fassung des § 13 AsylG (Art. 1 Nr. 15 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom 28.08.2013, BGBl I S. 3474) am 1. Dezember 2013 Gegenstand des Asylantrags. Zuvor umfasste der Antrag auf Asylanerkennung nur das „echte“ Asyl gemäß Art. 16a Abs. 1 GG und den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG), während subsidiärer Schutz in Deutschland nur im Rahmen des Abschiebungsschutzes nach § 60 AufenthG geprüft wurde. Wenn die Entwicklung des Asylverfahrens in Italien ähnlich gewesen sein sollte, könnte ein dort im Jahr 2006 oder 2008 gestellter Asylantrag wohl nicht als identisch mit dem der Entscheidung des Bundesamts im Fall des Antragstellers zugrundeliegenden Antrag angesehen werden. Hiervon ausgehend wäre im Fall eines nicht identischen Antrags vorliegend eine vollständig neue Sachprüfung unter Einbeziehung des internationalen subsidiären Schutzes geboten. Ein anderes Ergebnis hätte zur Folge, dass unter Umständen über den Antrag des Antragstellers auf Gewährung subsidiären Schutzes weder durch die italienischen Behörden noch durch das Bundesamt und damit überhaupt nicht entschieden würde.
Eine Umdeutung (§ 47 VwVfG) der Ziffer 1 des Bescheides vom 30. Mai 2016 in eine Entscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG kommt nicht in Betracht. Denn mangels entsprechender Nachforschungen ist nicht geklärt, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Norm vorliegen. Ob der Kläger in Italien internationalen Schutz erhalten hat – wie das Bundesamt in den Verfahren der Ehefrau und der Kinder des Klägers angenommen hat – ist nicht bekannt. Darüber hinaus spricht auch die Abschiebungsandrohung nach Äthiopien dagegen, dass das Bundesamt überhaupt eine solche Entscheidung beabsichtigt haben könnte. Außerdem ist auch die nach § 29 Abs. 2 Satz 1 AsylG erforderliche Anhörung des Klägers zu den Gründen „nach § 29 Abs. 1 Nr. 2“ nicht erfolgt. Der Kläger wurde zwar am 24. März 2016 „gemäß § 25 AsylG“ angehört. Bei dieser Anhörung war aber von einer Ablehnung wegen eines Schutzstatus in Italien nie die Rede.
Auch Ziffer 2 des Bescheides vom 30. Mai 2016 erweist sich als rechtswidrig. Die Entscheidung beruht offensichtlich auf einer nicht ausreichenden Tatsachengrundlage. Dass der Kläger religiös verheiratet ist und für seine seine Ehefrau und die zwei Töchter die Abschiebung nach Italien angedroht wurde und diese nicht nach Äthiopien abgeschoben werden dürfen, berücksichtigt der Bescheid nicht. Die Familie des Klägers kommt im Bescheid gar nicht vor, obwohl der Kläger bei seiner Anhörung entsprechende Angaben gemacht hat (vgl. Bl. 116 BA-Akte). Hier kommt zumindest ein Abschiebungsverbot aus Art. 8 EMRK in Betracht. Folglich erweisen sich auch Ziffer 3 und Ziffer 4 des Bescheides vom 30. Mai 2016 als rechtswidrig, so dass dieser insgesamt aufzuheben war.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylG; der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.