Aktenzeichen B 9 K 18.32113
Leitsatz
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
I.
Die zulässige Klage bleibt ohne Erfolg. Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) weder einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG noch einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG. Es liegen auch keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor. Die Abschiebungsandrohung sowie die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes sind nicht zu beanstanden. Der angefochtene Bescheid ist somit rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).
1. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG liegen nicht vor.
Nach § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG besteht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft dann, wenn sich der Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will und er keine Ausschlusstatbestände erfüllt. Eine solche Verfolgung kann vom Staat ausgehen (§ 3c Nr. 1 AsylG), von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen (§ 3c Abs. 1 Nr. 2 AsylG) oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Abs. 1 Nr. 3 AsylG). Allerdings wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3 AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 AsylG).
Für die richterliche Überzeugungsbildung im Sinne von § 108 Abs. 1 VwGO gilt Folgendes:
Hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft muss sich das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit des behaupteten Verfolgungsschicksals und der Wahrscheinlichkeit der Verfolgungsgefahr bilden. Eine bloße Glaubhaftmachung in der Gestalt, dass der Vortrag lediglich wahrscheinlich sein muss, ist nicht ausreichend (vgl. grundlegend BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109/84 – juris). Es ist vielmehr der asylrechtliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu Grunde zu legen. Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhaltes die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Hierbei darf das Gericht jedoch hinsichtlich der Vorgänge im Verfolgerland, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder der Feststellung eines Abschiebungsverbotes führen sollen, keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen, sondern muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fragen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, auch wenn Zweifel nicht völlig auszuschließen sind (BVerwG, U.v. 16.4.1985 a.a.O.). Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U. v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris).
Nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (EU-Qualifikations-RL) ist hierbei die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweise darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von einer solchen Verfolgung und einem solchen Schaden bedroht wird. Dies privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Damit wird für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür begründet, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bei einer Rückkehr in ihr Heimatland bedroht werden. Dadurch wird der Antragsteller, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat oder von einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Als vorverfolgt gilt ein Schutzsuchender dann, wenn er aus einer durch eine eingetretene oder unmittelbar bevorstehende politische Verfolgung hervorgerufenen ausweglosen Lage geflohen ist. Die Ausreise muss das objektive äußere Erscheinungsbild einer unter dem Druck dieser Verfolgung stattfindenden Flucht aufweisen. Das auf dem Zufluchtsgedanken beruhende Asyl- und Flüchtlingsrecht setzt daher grundsätzlich einen nahen zeitlichen (Kausal-)Zusammenhang zwischen der Verfolgung und der Ausreise voraus.
Es obliegt dem Schutzsuchenden, sein Verfolgungsschicksal glaubhaft zur Überzeugung des Gerichts darzulegen. Er muss daher die in seine Sphäre fallenden Ereignisse, insbesondere seine persönlichen Erlebnisse, in einer Art und Weise schildern, die geeignet ist, seinen geltend gemachten Anspruch lückenlos zu tragen. Dazu bedarf es – unter Angabe genauer Einzelheiten – einer stimmigen Schilderung des Sachverhalts. Daran fehlt es in der Regel, wenn der Schutzsuchende im Lauf des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellungen nach der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe nicht nachvollziehbar erscheinen, und auch dann, wenn er sein Vorbringen im Laufe des Verfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Begehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (vgl. dazu VGH BW, U.v. 27.8.2013 – A 12 S 2023/11 – juris; HessVGH, U.v. 4.9.2014 – 8 A 2434/11.A – juris).
Gemessen an diesen Grundsätzen hat der Kläger eine an den Merkmalen des § 3 Abs. 1 AsylG ausgerichtete Verfolgung nicht glaubhaft gemacht. Das Gericht schließt sich zunächst den zutreffenden Gründen im angefochtenen Bescheid der Beklagten an und sieht daher insoweit von einer Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 77 Abs. 2 AsylG). Ergänzend ist zum gerichtlichen Verfahren des Klägers Folgendes auszuführen:
a) Der Kläger konnte eine individuelle Vorverfolgung nicht zur Überzeugung des Gerichts glaubhaft machen. Das Vorbringen des Klägers diesbezüglich steht an maßgeblichen Stellen in Widerspruch zu seinen Äußerungen beim Bundesamt und in der Sicherheitsbefragung sowie zu den Angaben im folgeantragsbegründenden Gutachten der Menschenrechtsorganisation Memorial vom 23. August 2018 (siehe nachfolgend unter 1-5). Außerdem war es dem Kläger laut eigener Angaben möglich, mit seinen Papieren über den Flughafen Grosny auszureisen (siehe nachfolgend unter 6). Er partizipiert dementsprechend nicht an der Privilegierung des Art. 4 Abs. 4 EU-Qualifikations-RL.
(1) In der mündlichen Verhandlung gab der Kläger an, im Mai 2017 den Entschluss gefasst zu haben, die Russische Föderation zu verlassen, nachdem die Polizei Ende April 2017 bei ihm zuhause gewesen sei. Im Memorial-Bericht, der nach Angaben der Klägerbevollmächtigten auf Informationen von Mitarbeitern der Organisation basiert, die Recherchen vor Ort in Tschetschenien durchgeführt und die Familie des Klägers getroffen hätten, heißt es allerdings auf Seite 4: „Und so musste … zustimmen. Aber er hatte nur eines im Kopf, das Gebiet von Russland zu verlassen, wenn er es schaffen sollte, lebend aus dieser Hölle zu entkommen“. Diese Passage bezieht sich jedoch bereits auf die Zeit direkt nach der angeblichen Folter am 25. Februar 2015.
Wann der Kläger den Entschluss fasste, seine Heimat zu verlassen, stellt kein unwesentliches Detail, sondern einen entscheidenden Einschnitt in der Fluchtgeschichte des Klägers dar. Es müsste ihm folglich auch heute noch präsent sein, wann dies geschah. Diesen Widerspruch muss sich der Kläger auch zurechnen lassen, da der Bericht von Memorial Grundlage seines Folgeantrags war und Unrichtigkeiten nicht geltend gemacht wurden.
(2) Nicht nachvollziehbar und demzufolge nicht glaubhaft ist außerdem, dass der Kläger sich gemäß seiner Ausführungen bereits im Februar 2015 aufgrund der massiven Drohungen gegenüber ihm und seiner Familie und der erlittenen Folter verpflichtet hat, mit den tschetschenischen Behörden als Spitzel zusammenzuarbeiten. Nach seinem Vorbringen ist er dieser Verpflichtung allerdings bis zum Zeitpunkt seiner Ausreise tatsächlich nicht nachgekommen. Zu weiteren Vorfällen wie im Februar 2015 sei es dennoch nicht mehr gekommen. Die Behörden kamen nach der Schilderung des Klägers nur noch einmal in Form eines Gesprächs im Juni 2016 und mit der Aufforderung, sich bereit zu halten im April 2017 auf den Kläger zu. Ein gesteigertes Interesse der tschetschenischen Behörden an der Tätigkeit oder Person des Klägers kann folglich nicht bestanden haben. Vielmehr erscheint es realitätsfern, dass die russischen Behörden nicht einmal versuchten den Kläger, obwohl er sich zu einer Zusammenarbeit verpflichtet hatte, „in Anspruch zu nehmen“.
(3) Der Kläger machte auch widersprüchliche Angaben bezüglich der Beantragung eines Visums und dem Verbleib seiner persönlichen Dokumente. In der mündlichen Verhandlung trug er vor, ursprünglich vorgehabt zu haben, sich für die Arbeit im Ausland ein Visum erteilen zu lassen. Dies seien aber nur Pläne gewesen. Er habe dann kein Visum beantragt.
In seiner Sicherheitsbefragung teilte er hingegen mit, keine identitätsklärenden Dokumente vorlegen zu können. Kurz bevor seine Probleme in Tschetschenien begonnen hätten, habe ihm ein Freund bei der Beschaffung eines europäischen Visums helfen wollen. Als er das Land verlassen habe müssen, sei sein Pass dann noch bei der Botschaft gelegen.
Diese Angaben passen wiederum nicht zu den weiteren Ausführungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung, als er behauptete, dass er seinen Reisepass bei der Ausreise dabei gehabt habe und sich sein russischer Inlandspass bei der Polizei befunden habe bzw. befinde. Welcher Pass dann bei der Botschaft gelegen haben soll, bleibt unklar.
(4) Auch die Darlegungen des Klägers zu seinen beruflichen Tätigkeiten weisen Unstimmigkeiten auf. In seiner Anhörung beim Bundesamt brachte er vor, ab 2015 Mini-Jobs in der Landwirtschaft angenommen zu haben.
Bei der Sicherheitsbefragung erklärte er hingegen, erst auf einer Baustelle und später in einem Minibusiness gearbeitet zu haben. Am Anfang habe er als Hilfskraft gearbeitet, Zement gemischt oder Spachtelmasse. Baugerüste habe er auch aufgebaut. Dann habe er sich selbstständig gemacht. Er habe Auftraggeber gesucht und Arbeiter an diese vermittelt und an der Provision als Subunternehmer verdient. Viehhandel sei auch rentabel, er habe überlegt dort einzusteigen.
Ausweislich der Klagebegründung lebte der Kläger von verschiedenen Gelegenheitsjobs auf Baustellen und in der Landwirtschaft. Er habe auch versucht, sich selbstständig zu machen, dies aber nicht realisieren können.
In der mündlichen Verhandlung führte der Kläger schließlich aus, auf Baustellen gearbeitet zu haben. Sie seien von Subunternehmern beauftragt worden. Eine Tätigkeit in der Landwirtschaft erwähnte er hingegen nicht. Auch wenn diese Ungereimtheiten sicher nicht alleinige Grundlage einer gerichtlichen Entscheidung sein können, so fügen sie sich doch in das Gesamtbild des unglaubhaften Vortrags des Klägers ein. Es macht sehr wohl einen Unterschied, ob der Kläger nun selbstständig war oder nicht, selbst als Subunternehmer gearbeitet hat oder von Subunternehmern beauftragt wurde oder tatsächlich in der Landwirtschaft gearbeitet hat oder nur überlegt hat, dort einzusteigen.
(5) Ebenso widersprüchlich sind die Angaben des Klägers hinsichtlich des ihm gegenüber angeblich ausgesprochenen Verbots, die Republik von Tschetschenien zu verlassen.
In seiner Anhörung beim Bundesamt führte der Kläger aus, er sei im Februar 2015 nur unter der Bedingung freigelassen worden, dass er Tschetschenien ohne die Erlaubnis der Polizei bzw. der Kadyrow-Leute nicht verlasse.
In der mündlichen Verhandlung schilderte der Kläger jedoch ausführlich seine beruflichen Aktivitäten zwischen 2015 und 2017. Diese habe er in unterschiedlichen Städten der russischen Föderation, beispielsweise in Jegorjewsk, einem Vorort von Moskau, in Inguschetien, auf der Krim oder in Krasnodar ausgeübt. In der mündlichen Verhandlung gab er dementsprechend auch an, sich bis April 2017 frei habe bewegen zu können. Die Forderung, Tschetschenien nicht zu verlassen, sei erst im April 2017 an ihn gestellt worden.
Hinsichtlich der Tatsache, ob und wann der Kläger eine „Aufenthaltsbeschränkung“ durch tschetschenische Behörden erhalten hat, wäre ebenfalls zu erwarten, dass dem Kläger die genauen Umstände – hätte es ein derartiges Verbot gegeben -auch heute noch genau präsent wären.
(6) Dafür, dass es kein an den Kläger gerichtetes, offizielles Verbot Tschetschenien zu verlassen und auch keine Vorverfolgung im Sinne des § 3 AsylG durch Mitarbeiter der Polizei, des FSB oder durch Gefolgsleute Kadyrows gegeben hat, spricht maßgeblich, dass es dem Kläger am 10. Mai 2017 möglich war, Tschetschenien mit seinem eigenen Pass über den Flughaften Grosny auf dem Luftweg zu verlassen. Angeblich waren Mitarbeiter der tschetschenischen Polizei am 27. April 2017 bei den Eltern des Klägers. Er selbst war nicht zuhause. Die Polizisten hätten zu seinem Vater gesagt, dass sie den Kläger nach dem Feiertag am 9. Mai 2017 bräuchten und er zuhause sein solle, da er etwas für sie erledigen müsse.
Es erscheint in diesem Zusammenhang reichlich unwahrscheinlich, dass der Kläger – sollte er tatsächlich von tschetschenischen Regierungskräften „gesucht“ worden sein – an dem Tag, an dem er für die Polizei zur Verfügung habe stehen sollen, über den Flughafen Grosny, an welchem sicherlich genaue Passkontrollen der Ein- und Ausreisenden erfolgen, Tschetschenien ohne Probleme mit seinem eigenen Pass verlassen konnte. Die Grenz- und Zollkontrollen eigener Staatsangehöriger durch russische Behörden entsprechen in der Regel internationalen Standards (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Russischen Föderation vom 13.2.2019, S. 24 f.). Der Kläger gab in der mündlichen Verhandlung auch selbst an, dass seine Papiere bei der Ausreise am Flughafen in Grosny kontrolliert worden seien. Hierfür sprechen auch seine Ausführungen dahingehend, dass es im Kaukasus auch sonst überall Kontrollposten gebe, an denen man oftmals kontrolliert werde – so etwa bei der Einreise nach Inguschetien, Ossetien oder Dagestan. Daher ist davon auszugehen, dass – entsprechend der allgemeinen Sicherheitslage im gesamten Nordkaukasus (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation – Stand 12.11.2018; S. 18 ff.) – am Flughafen ebenfalls strenge Kontrollen stattfinden.
Zumindest für den Zeitraum vor dem angeblichen Besuch der Polizei im April 2017 spricht gegen das Vorliegen eines staatlichen Verfolgungsinteresses am Kläger zudem, dass er nach seinen Darstellungen in der mündlichen Verhandlung zwar seinen Wohnort zwischen 2015 und 2017 (föderationsweit) immer wieder wechselte. In diesem Zeitraum sei er jedoch regelmäßig auch nach Tschetschenien zurückgekehrt, beispielsweise zu traditionellen Feiertagen, zu Beerdigungen oder Familienfesten. Es wäre den tschetschenischen Behörden daher – hätten sie dies wirklich gewollt – ein Leichtes gewesen, den Kläger gerade bei solchen Anlässen aufzugreifen. In dieser Hinsicht brachte der Kläger jedoch nichts vor.
(7) Überdies gaben die russischen Behörden in ihrem an den Verfassungsschutz übermittelten Antwortschreiben vom 4. Januar 2018 an, dass hinsichtlich des Klägers keine Erkenntnisse zur Beteiligung an terroristischen Aktivitäten vorlägen.
b) Es liegt auch kein Nachfluchtgrund vor, auf welchen sich der Kläger mit Erfolg berufen könnte. Zwar ermöglicht § 28 Abs. 1a AsylG die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auch dann, wenn die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG auf Ereignissen beruht, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer sein Herkunftsland verlassen hat. Im vorliegenden Fall ist der Kläger aber jedenfalls auf die Inanspruchnahme einer internen Schutzmöglichkeit im Sinne des § 3e AsylG zu verweisen:
aa) In der mündlichen Verhandlung gab der Kläger an, die Polizei sei seit seiner Ausreise wohl etwa drei Mal bei seinen Eltern gewesen, zuletzt ungefähr im April 2018. Es seien Daten von den deutschen Behörden an die russischen Behörden übermittelt worden. Daraufhin sei von den Behörden im Heimatland des Klägers behauptet worden, auch die deutschen Behörden hätten den Verdacht, der Kläger sei in Syrien bzw. der Kläger werde verdächtigt, dass er sich an terroristischen Aktivitäten beteilige. Nachdem klar gewesen sei, dass sich der Kläger nicht in Syrien aufhalte, habe die Polizei von seinen Eltern wissen wollen, weshalb er nach Deutschland gefahren sei. Sein Vater hätte dann mitgenommen und für ihn einstehen sollen oder den Kläger nach Hause holen. Weil der Vater aber am Tag zuvor erst aus dem Krankenhaus entlassen worden sei, habe man ihn dann aber doch nicht mitgenommen. Genauer hätten es ihm seine Eltern nicht erzählt. Der Kläger vermute, sie wollten ihn damit nicht belasten.
Durch das Schreiben des Bundesamts für Verfassungsschutz vom 28. Mai 2019 wurde nachgewiesen, dass am 27. November 2017 tatsächlich drei Lichtbilder und Informationen betreffend den Kläger an die russischen Behörden übermittelt wurden. Glaubhaft ist dementsprechend auch, dass Ermittlungsbehörden am 26. Dezember 2017 bei der Familie des Klägers vorgesprochen haben. Den russischen Ermittlungsbehörden muss somit auch bekannt sein, dass seitens der deutschen Behörden bezüglich des Klägers zumindest zum Zeitpunkt der Anfragestellung der Verdacht einer möglicherweise islamistischen Radikalisierung vorlag.
Gegen tatsächliche und vermeintliche Extremisten und deren Angehörige wird in Tschetschenien mit teils gewaltsamer Repression vorgegangen. Diese geht laut glaubwürdiger Aussagen lokaler NROs einher mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert werde. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen sei unzureichend (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 13.2.2019, S. 12). Kadyrow setze lokale salafistische Muslime und Aufständische oder deren Unterstützer weitgehend gleich. Er habe die Polizei und lokale Gemeinschaften angewiesen, genau zu überwachen, wie Personen beten und sich kleiden würden, um die zu bestrafen, die vom Sufismus abkommen würden (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt Russische Föderation vom 12.11.2018, S. 47 m.w.N.).
Betreffend den Kläger wurde von Seiten der russischen Behörden (offensichtlich nach entsprechender Recherche) mit Schreiben vom 4. Januar 2018 jedoch mitgeteilt, dass keine Erkenntnisse zur Beteiligung an terroristischen Aktivitäten vorlägen. Die übermittelten Bilder seien nach Feststellung der russischen Behörden im Herbst 2016 auf einem Strikeballspielplatz aufgenommen worden. Dabei handele es sich um eine Freizeitbeschäftigung ähnlich wie Airsoft.
bb) Selbst wenn in Tschetschenien von einer flüchtlingsrechtlich relevanten, dem Kläger drohenden Verfolgung i.S.d. § 3a AsylG auszugehen wäre, ist der Kläger aber im Sinne des § 3e AsylG auf die Möglichkeit der Inanspruchnahme internen Schutzes zu verweisen. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
Bei einer Niederlassung in anderen Teilen der Russischen Föderation als dem Nordkaukasus hätte der Kläger keine asyl- bzw. flüchtlingsrelevante Verfolgung zu befürchten:
(1) Nach der der Kammer zur Verfügung stehenden Erkenntnislage und der höchstrichterlichen Rechtsprechung in einem ähnlich gelagerten Fall (BVerwG, U.v. 27.3.2018 – 1 A 4/17 – juris, zur Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsanordnung in die Russische Föderation nach § 58a AufenthG angesichts der Schwere einer drohenden terroristischen Gefahr) droht dem Kläger außerhalb des Nordkaukasus wegen seiner Handlungen im Bundesgebiet (Geschehnisse am Flughafen München) und der Anfrage der deutschen Verfassungsschutzbehörden wegen des Verdachts einer islamistischen Radikalisierung und entsprechender Lichtbildübersendungen nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr, dass er durch Sicherheitsbehörden oder Strafverfolgungsorgane der Russischen Föderation der Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung ausgesetzt oder zwangsweise nach Tschetschenien zurückverbracht wird. Die genannte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts war den Beteiligten bekannt. Sie wurde bereits im streitgegenständlichen Bescheid zitiert und von der Bevollmächtigten des Klägers im gerichtlichen Verfahren thematisiert.
Auch im übrigen Staatsgebiet der Russischen Föderation wird konsequent gegen islamistische Terroristen gehandelt. Erst im Juli 2016 wurde in der Russischen Föderation mit dem Ziel der effektiveren Bekämpfung des Terrorismus und der Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit das Strafrecht deutlich verschärft. Im November 2013 wurden in Russland Gesetze verabschiedet, welche die Bestrafung von Familien und Verwandten von Terrorverdächtigen vorsehen. Sie legalisieren Kollektivbestrafungen, welche bereits in mehreren Republiken des Nordkaukasus als Form des Kampfs gegen den Aufstand praktiziert werden. Die Gesetzgebung erlaubt es den Behörden, Vermögenswerte der Familien von Terrorverdächtigen zu beschlagnahmen und die Familien zu verpflichten, für Schäden aufzukommen, welche durch Handlungen der Terrorverdächtigen entstanden sind. Das Gesetz sieht vor, dass Familienangehörige und Verwandte von Terrorverdächtigen belegen müssen, dass ihre Vermögenswerte, Immobilien und weitere Besitztümer nicht durch „terroristische Aktivitäten“ erworben wurden. Wenn nicht bewiesen werden kann, dass die Vermögenswerte legal erworben wurden, kann der Staat sie beschlagnahmen. Auch Personen, welche Terrorverdächtigen nahestehen, können mit dem Gesetz belangt werden. Die durch sie erlaubten Kollektivbestrafungen werden von den Behörden im Nordkaukasus bereits angewendet (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt Russische Föderation vom 12.11.2018, S. 48 m.w.N.). Von einer entsprechenden Praxis außerhalb des Nordkaukasus wird demgegenüber bisher nicht berichtet; auch belegt diese Gesetzeslage ebenso wenig wie die Verschärfung des Strafrechts eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung von Terrorverdächtigen (BVerwG, U.v. 27.3.2018 – 1 A 4/17 – juris).
Der Kontrolldruck gegenüber kaukasisch aussehenden Personen ist aus Angst vor Terroranschlägen und anderen extremistischen Straftaten erheblich. Russische Menschenrechtsorganisationen berichten vom häufig willkürlichen Vorgehen der Miliz gegen Kaukasier allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Kaukasisch aussehenden Personen stünden unter einer Art Generalverdacht. Personenkontrollen und Hausdurchsuchungen (häufig ohne Durchsuchungsbefehle) finden weiterhin statt (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 13.2.2019, S. 22). Solange die Konflikte im Nordkaukasus nicht endgültig gelöst sind, ist nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes davon auszugehen, dass abgeschobene Tschetschenen besondere Aufmerksamkeit durch russische Behörden erfahren. Dies gilt insbesondere für Personen, die im Verdacht stehen, einen fundamentalistischen Islam zu propagieren (Auswärtiges Amt; Ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Russischen Föderation, Stand Juni 2017, S. 20).
Die Zugehörigkeit zu einer solchen Risikogruppe rechtfertigt jedoch ebenfalls noch nicht die Annahme, dass dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung droht.
Nach einer Auskunft des Auswärtigen Amtes, die das Bundesverwaltungsgericht im Verfahren 1 A 4/17 im Falle eines dagestanischen radikal-islamistischen Gefährders eingeholt hat (vgl. BVerwG, U.v. 27.3.2018 – 1 A 4/17 – juris), habe dieser Kläger im Falle seiner Abschiebung in die Russische Föderation mit einer Befragung und Überwachung zu rechnen. Es erscheine jedoch nahezu ausgeschlossen, dass er „präventiv“ gefoltert oder einer anderen Art. 3 EMRK verletzenden Behandlung ausgesetzt werde. Auch das Bundesamt für … nahm im betreffenden Verfahren dahingehend Stellung, dass Personen, die sich in der Russischen Föderation nicht islamistisch betätigt haben oder dort aufgefallen sind, nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit misshandelt würden. Das Bundesverwaltungsgericht setzte sich in diesem Urteil auch mit gegenteiligen Stellungnahmen des Civic Assistance Committee, Human Rights Center Memorial und der Schweizerischen Flüchtlingshilfe auseinander. Letztere legte dar, dass Familienangehörige von Terrorismusverdächtigen aus Dagestan auch in anderen Regionen in Russland von staatlichen Behörden verfolgt und schikaniert werden und dem ständigen Risiko einer willkürlichen Strafverfolgung ohne Begründung ausgesetzt seien. „Wahhabiten“ und ihre Familienmitglieder würden in ganz Russland verfolgt. Der Modus Operandi der Behörden des Nordkaukasus finde mittlerweile auch im übrigen Russland Anwendung. Seit 2009 sei die Zahl der Verhaftungen und Entführungen von Personen aus dem Nordkaukasus in ganz Russland gestiegen. Rund 20 Prozent der dokumentierten Entführungen fänden mittlerweile außerhalb des Nordkaukasus statt.
Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts ist diesen Ausführungen aber nichts dafür zu entnehmen, dass der russische Staat auch einer im europäischen Ausland entfalteten islamistisch-jihadistischen Betätigung – insbesondere Planung/Vorbereitung eines Terroranschlags in Deutschland – in der Russischen Föderation mit derart drastischen Maßnahmen begegnen würde. Ein vergleichbares Interesse der russischen Behörden, gegen eine Person wie den Kläger rechtswidrig vorzugehen, ist in einem solchen Fall mangels Referenzfällen nicht belegbar und könne auch nicht ohne weiteres unterstellt werden. Denn spezifisch russische Interessen habe der betreffende Kläger bisher nicht verletzt.
Der Senat erachtete es daher auch nicht für beachtlich wahrscheinlich, dass in der Russischen Föderation gegen den dortigen Kläger ein Strafverfahren eingeleitet oder er in Polizeigewahrsam genommen würde. Es lägen keine Hinweise darauf vor, dass sich der Fokus der russischen Strafverfolgungsbehörden auch auf Personen richten würde, die nicht aus Syrien, Irak oder der Türkei, sondern aus dem westeuropäischen Ausland zurückkehrten.
Der erkennende Senat des Bundesverwaltungsgerichts hielt ferner das Risiko, dass die Behörden in Dagestan, soweit sie von der Abschiebung des Klägers erfahren würden, den Kläger außerhalb Dagestan aufsuchen und dort misshandeln oder nach Dagestan verbringen würden, ebenfalls für gering:
„Das Auswärtige Amt führt in seinem aktuellen Lagebericht zwar aus, die regionalen Strafverfolgungsbehörden könnten Menschen auf der Grundlage von in ihrer Heimatregion erlassenen Rechtsakten auch in anderen Gebieten der Russischen Föderation in Gewahrsam nehmen und in ihre Heimatregion verbringen. Kritiker, die Tschetschenien aus Sorge um ihre Sicherheit verlassen mussten, fühlten sich häufig auch in russischen Großstädten vor dem „langen Arm“ des Regimes von Ramsan Kadyrow nicht sicher. Bewaffnete Kräfte, die Kadyrow zuzurechnen seien, seien etwa auch in Moskau präsent. Bei Umzügen in eine andere Region der Russischen Föderation informiert das FMS-Büro, bei dem die Registrierung erfolgt, das FMS-Büro am Ort der ursprünglichen Registrierung. Ob diese Information durch die Behörden des ursprünglichen Wohnorts in irgendeiner Weise aktiv verwendet wird, ist aber eine andere Frage. Dies hängt davon ab, wie wichtig die Person für die dortigen Behörden war/ist. Ausgehend davon ist eher unwahrscheinlich, dass dagestanische Strafverfolgungsbehörden aufgrund der gegen den Kläger in Deutschland erhobenen Vorwürfe Anlass sehen werden, ein Strafverfahren gegen ihn einzuleiten oder gegen ihn in irgendeiner Weise extralegal vorzugehen, wenn er – der Dagestan schon im Kleinkindalter verlassen hat – nicht in Kontakt zu Dagestan tritt und insbesondere andernorts seinen Wohnsitz nimmt. (…) Der Kläger hat weder in Dagestan auf der Seite der Aufständischen gekämpft noch ist er in Syrien gewesen.
Hinreichend tragfähige Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr drohte, gegen seinen Willen durch russische föderale Stellen nach Dagestan zurückverbracht zu werden, waren den ausgewerteten Erkenntnisquellen nicht zu entnehmen. Soweit die Schweizerische Flüchtlingshilfe von rückgeführten Tschetschenen berichtet, die etwa vom russischen Geheimdienst nach Ankunft am Flughafen Moskau festgenommen und nach Tschetschenien gebracht oder nach Rückkehr aus dem westeuropäischen Ausland verhaftet und gefoltert worden seien (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Tschetschenien: Aktuelle Menschenrechtslage, Update vom 13. Mai 2016, S. 22), werden die jeweiligen Hintergründe nicht mitgeteilt. Schlüsse für den hier zu entscheidenden Fall waren daraus mithin nicht zu ziehen,(…)“ (vgl. BVerwG, U.v. 27.3.2018 – 1 A 4/17 – juris Rn. 119 f.).
Das Bundesverwaltungsgericht hat sich in diesem Fall folglich dezidiert mit der Frage der Möglichkeit einer Inanspruchnahme internen Schutzes in der Russischen Föderation im Falle der Abschiebung eines radikal-islamischen Gefährders auseinandergesetzt.
(2) Der Kläger im hier zu entscheidenden Fall wurde ausweislich eines Aktenvermerks der KPI Bayreuth vom 24. Juli 2018 als „relevante Person“ (Islamismus) eingestuft (vgl. Bl. 130 der Behördenakte). Die Voraussetzungen für die Einstufung als „Gefährder“ (Islamismus) waren und seien nicht gegeben. Es lägen derzeit keine Erkenntnisse über einen Gefährdungssachverhalt, ausgehend von seiner Person vor.
Wenn aber bereits einer tatsächlich als „Gefährder“ eingestuften Person nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr droht, dass sie unter Berücksichtigung der ihr zugeschriebenen Terrorgefahr durch russische Sicherheitsbehörden oder Strafverfolgungsorgane der Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung ausgesetzt wird oder zwangsweise in den Nordkaukasus zurückverbracht wird, so muss dies erst recht für den Kläger im vorliegenden Fall gelten.
Er ist – anders als von der Klägerbevollmächtigten behauptet – gerade nicht vorverfolgt aus Tschetschenien ausgereist und hat (bisher) demzufolge keine spezifisch russischen Interessen verletzt. Er war auch nicht in Syrien. Letzteres ist den Angaben des Klägers aus der mündlichen Verhandlung zufolge mittlerweile auch den russischen Behörden bekannt. Vor allem, da es sich als richtig herausgestellt hat, dass die übersandten Bilder auf einer Strikeball-Anlage in Grosny aufgenommen wurden (der Verdacht sich also gerade nicht bestätigt hat), bestehen keine hinreichend tragfähigen Anhaltspunkte dafür, dass bzw. warum die tschetschenischen Behörden ein gesteigertes Interesse an der Person der Klägers haben sollten und ihn deshalb zwangsweise nach Tschetschenien zurückverbringen würden. Deshalb hält es die Kammer auch nicht für beachtlich wahrscheinlich, dass gegen den Kläger in der Russischen Föderation ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde. Hierfür sprechen auch die Angaben des Österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, wonach sich die russischen und tschetschenischen Behörden bei der Strafverfolgung mittlerweile auf IS-Kämpfer/Unterstützer bzw. auf Personen konzentrierten, die im Nordkaukasus gegen die Sicherheitskräfte kämpften (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt Russische Föderation vom 12.11.2018, S. 50).
Selbst wenn jedoch ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden wäre, belegt der in der russischen Föderation bestehende rechtliche Rahmen keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung von Terrorverdächtigen (BVerwG, U.v. 27.3.2018 – 1 A 4/17 – juris Rn. 110).
(3) Auch unter Berücksichtigung der weiteren, den Kläger individuell betreffenden Gesichtspunkte ist es ihm möglich und zumutbar, sich in der Russischen Föderation außerhalb des Nordkaukasus niederzulassen:
Art. 27 der russischen Verfassung von 1993 garantiert die Niederlassungsfreiheit. Dieses Recht ist allerdings begrenzt durch regionale und lokale Bestimmungen. Mit dem Föderationsgesetz von 1993 wurde ein Registrierungssystem geschaffen, nach dem Bürger den örtlichen Stellen des Innenministeriums ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort und ihren Wohnsitz melden müssen. Voraussetzung für eine Registrierung ist die Vorlage des Inlandspasses (ein von russischen Auslandsvertretungen in Deutschland ausgestelltes Passersatzpapier reicht nicht aus) und nachweisbarer Wohnraum. Nur wer eine Bescheinigung seines Vermieters vorweist, kann sich registrieren lassen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Russischen Föderation vom 21.5.2018, S. 22).
Dabei wird es den Betroffenen zwar nicht leicht gemacht; in der Regel wird es ihnen administrativ erschwert, insbesondere einen legalen Aufenthalt und diesen wiederum insbesondere an bestimmten Orten zu nehmen. Dies ist im Endeffekt jedoch nicht unmöglich, mag es auch nicht immer am bevorzugten Ort oder stets auf Anhieb möglich sein. In diesem Zusammenhang ist auf die Verhältnisse in der Russischen Föderation insgesamt abzustellen, insbesondere ohne die Verhältnisse in den russischen Großstädten, wie etwa Moskau und St. Petersburg, zu verallgemeinern, weil dort u.a. wegen der angespannten Wohnraumsituation ein besonderer Zuwanderungsdruck für die hinsichtlich der restlichen Russischen Föderation nicht repräsentativen Verhältnisse besteht, wovon im Übrigen nicht nur Tschetschenen betroffen sind. Bei hinreichendem Bemühen können russische Staatsangehörige tschetschenischer Volkszugehörigkeit in der Russischen Föderation eine Registrierung erreichen. Sollten die amtlichen Stellen entgegen der Rechtslage eine Registrierung verweigern, können sich Tschetschenen hiergegen mit sehr guten Erfolgsaussichten selbst in Moskau zur Wehr setzen. Darüber hinaus lässt sich den Erkenntnisquellen nicht entnehmen, dass die Registrierungsschwierigkeiten „flächendeckend“ in der Russischen Föderation bestehen. Es gibt Regionen, in denen keine örtlichen Vorschriften zur Registrierung erlassen worden sind oder diese nicht restriktiv angewandt werden, in denen also eine Registrierung leichter möglich ist (vgl. – insbesondere auch zum Registrierungsverfahren – VG Berlin, U.v. 12.3.2008 – 38 X 33.08 – juris Rn. 74 ff.).
Soweit von Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Tschetschenen außerhalb Tschetscheniens (und der oben genannten weiteren Regionen) durch die Verweigerung von Registrierungen, polizeiliche Übergriffe, ungerechtfertigte strafrechtliche Anschuldigungen oder fremdenfeindliche Aggressionen auszugehen ist, handelt es sich entweder nicht um asylrelevante Übergriffe oder sie erreichen nicht, auch nicht in der Gesamtschau, eine Häufigkeit bzw. Intensität, dass sie asylrelevante Übergriffe für tschetschenische Flüchtlinge wie den Kläger als nicht ganz entfernte und damit durchaus reale Möglichkeit erscheinen lassen. Es ist auch nicht pauschal davon auszugehen, dass tschetschenische Flüchtlinge wie der Kläger einer realen Gefahr tätlicher Übergriffe in Zusammenhang mit Kontroll- und Durchsuchungsmaßnahmen oder der falschen Beschuldigung eines Verbrechens mittels gefälschter Beweismittel, fremdenfeindlichen Übergriffen von Privatpersonen o.ä. ausgesetzt wären (vgl. VG Berlin, U.v. 12.3.2008 – 38 X 33.08 – juris Rn. 65 ff. m.w.N.)
Dem Kläger ist auch im Hinblick auf die Gewährleistung des Existenzminimums eine Aufenthaltsnahme in den übrigen Teilen der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens zumutbar. Erforderlich hierfür ist, dass der Kläger am Zufluchtsort unter persönlich zumutbaren Bemühungen jedenfalls sein Existenzminimum sichern kann. Fehlt es an einer solchen Möglichkeit der Existenzsicherung, ist eine interne Schutzmöglichkeit nicht gegeben (vgl. VGH BW, U.v. 15.2.2012 – A 3 S 1876/09 – juris). Erwerbsfähigen Personen bietet ein verfolgungssicherer Ort das wirtschaftliche Existenzminimum, wenn sie dort – was grundsätzlich zumutbar ist – durch eigene und notfalls auch weniger attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können. Dazu gehören auch Tätigkeiten, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs ausgeübt werden können, auch soweit diese Arbeiten im Bereich einer „Schatten- oder Nischenwirtschaft“ stattfinden (vgl. BVerwG, B.v. 17.5.2005 – 1 C 24.06 – juris). Maßgeblich ist ferner nicht, ob der Staat den Flüchtlingen einen durchgehend legalen Aufenthaltsstatus gewähren würde, vielmehr ist in tatsächlicher Hinsicht zu fragen, ob das wirtschaftliche Existenzminimum zur Verfügung steht (vgl. BVerwG, B.v. 31.8.2006 – 1 B 96.06 – juris).
Tschetschenen können auch ohne eine legale Registrierung ein zumutbares Auskommen finden. Die vergleichsweise hohe Zahl der in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens lebenden Tschetschenen belegt, dass es unabhängig von bürokratischen Schwierigkeiten (etwa bei Registrierung oder Ausweispapierbeschaffung), teilweisen Diskriminierungen und auch Übergriffen von Behördenangehörigen und trotz Ressentiments in der Bevölkerung möglich ist, zumindest einen faktischen Aufenthalt zu erlangen und – wenn auch auf dem landesüblichen niedrigen Niveau – dabei eine wirtschaftliche Grundlage zu finden und sei es auch nur im Bereich der – sehr weit verbreiteten – Schattenwirtschaft (vgl. VG Augsburg, U.v. 12.6.2006 – Au 2 K 05.30203 – juris Rn. 19). Es ist daher davon auszugehen, dass eine Registrierung oder das Innehaben von Personalpapieren zwar durchaus hilft, das Leben in der Russischen Föderation leichter zu gestalten, jedoch nicht unabdingbare Voraussetzung dafür ist, Lebensverhältnisse zu schaffen, welche – unter Berücksichtigung des allgemeinen Lebensstandards in der Russischen Föderation – als zumutbar anzusehen sind (vgl. VG Berlin, U.v. 12.3.2008 – 38 X 33.08 – juris Rn. 79 m.w.N.).
Unter Berücksichtigung der persönlichen Umstände des Klägers rechtfertigt sich keine andere Beurteilung. Er ist überdurchschnittlich gebildet und in einem arbeitsfähigen Alter. Nach eigenen Angaben ist es ihm auch vor seiner Ausreise durch verschiedenste Tätigkeiten gelungen, seinen Lebensunterhalt zu sichern. Hierfür registrierte sich der Kläger auch nicht an den jeweiligen Wohnsitzen – nach seinen Angaben blieb sein Wohnsitz über die gesamte Zeit in Tschetschenien. Überdies ist es ihm zur Sicherung seines Existenzminimums zumutbar, sämtliche Tätigkeiten – auch schlichte Hilfstätigkeiten – auszuüben.
Ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft besteht daher nicht.
2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG. Danach ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines inter-nationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Die Gefahr eines ernsthaften Schadens kann nicht nur vom Staat drohen (§ 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c Nr. 2 AsylG) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c Nr. 3 AsylG). Allerdings scheidet die Gewährung subsidiären Schutzes aus, wenn der Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keiner Gefahr eines ernsthaften Schadens ausgesetzt ist, weil er dort Zugang zu Schutz vor einem solchen ernsthaften Schaden i.S.d. § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e Abs. 1 AsylG).
Hinsichtlich des Klägers scheidet die Gewährung subsidiären Schutzes offensichtlich schon deshalb aus, da er, wie oben bereits ausgeführt, keine Verfolgung im Herkunftsland besteht (vgl. dazu die Ausführungen unter 1.). Auch insoweit ist also nicht erkennbar, weshalb ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden i.S.d. § 4 Abs. 1 AsylG drohen sollte. Überdies wäre der Kläger auch in diesem Zusammenhang auf die bestehende Möglichkeit internen Schutzes zu verweisen, § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e AsylG.
3. Nationale Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG oder § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind ebenfalls nicht gegeben. Insoweit wird zunächst auf den streitgegenständlichen Bescheid Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 VwGO).
a) Hervorzuheben ist insbesondere, dass eine Abschiebung trotz schlechter humanitärer Verhältnisse nur in sehr außergewöhnlichen Einzelfällen als unmenschliche oder erniedri-gende Behandlung bewertet werden kann und die Voraussetzung des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK erfüllt. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in der Russischen Föderation führen nicht zu der Annahme, dass bei einer Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliegt. Der Kläger ist jung, gesund und erwerbsfähig. Der Kläger hat zudem die Schule in Russland besucht und dort bereits gearbeitet (vgl. dazu bereits unter 1.). Darüber hinaus verfügt der Kläger über familiären Rückhalt in der Russischen Föderation, sodass bei einer Rückkehr in Notsituationen von einer Unterstützung im Rahmen des Familienverbundes auszugehen ist. Überdies hat die Russische Föderation ein reguläres Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Rentensystem. Leistungen hängen von der spezifischen Situation der Personen ab (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation – Stand 7.5.2018; S. 101 ff.). Auch hier kann der Kläger ggf. auf Unterstützungsleistungen zurückgreifen. Die hohen Voraussetzungen für die Feststellung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG sind daher schon im Ansatz nicht erfüllt, solange der Kläger nicht in den Nordkaukasus abgeschoben wird.
b) Dem Kläger droht auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen würde.
aa) Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Nach der Rechtsprechung ist die Gefahr, dass sich eine Erkrankung des Ausländers aufgrund der Verhältnisse im Abschiebezielstaat verschlimmert, in der Regel als individuelle Gefahr einzustufen, die am Maßstab von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu prüfen ist (vgl. BVerwG, U.v. 17.10.2006 – 1 C 18/05 – juris). Dabei erfasst diese Regelung nur solche Gefahren, die in den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat begründet sind, während Gefahren, die sich aus der Abschiebung als solche ergeben, nur von der Ausländerbehörde als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis berücksichtigt werden können. Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann sich aus der Krankheit eines Ausländers ergeben, wenn diese sich im Heimatstaat wesentlich verschlimmert, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend sind. Darüber hinaus kann sich – trotz an sich verfügbarer medikamentöser und ärztlicher Behandlung – das Abschiebungsverbot aber auch aus sonstigen Umständen im Zielstaat ergeben, die dazu führen, dass der betroffene Ausländer diese medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann. Denn eine ziel-staatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist. In die Beurteilung mit einzubeziehen und bei der Gefahrenprognose zu berücksichtigen sind sämtliche zielstaatsbezogenen Umstände, die zu einer wesentlichen Verschlimmerung der Erkrankung führen können. Für die Annahme einer „konkreten Gefahr“ genügt jedoch nicht die bloße theoretische Möglichkeit, Opfer von Eingriffen in Leib, Leben oder Freiheit zu werden. Vielmehr entspricht der Begriff der Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG dem asyl-rechtlichen Prognosemaßstab der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“, wobei allerdings das Element der Konkretheit der Gefahr für „diesen Ausländer“ das zusätzliche Erfordernis einer einzelfallbezogenen, individuell bestimmten oder erheblichen Gefährdungssituation statuiert (vgl. zum Ganzen: BayVGH, B.v. 23.11.2012 – 13a B 12.30061 – juris).
Erforderlich, aber auch ausreichend für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist danach, dass sich die vorhandene schwerwiegende Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, d.h. dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht. Von einer wesentlichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes kann nicht schon bei jeder befürchteten ungünstigen Entwicklung des Gesundheitszustandes gesprochen werden, sondern nur bei außergewöhnlichen schweren physischen oder psychischen Schäden oder Zuständen. Dies stellt auch § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG klar, wonach eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden, vorliegt. Insbesondere ist es gemäß § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung in der Russischen Föderation mit der der Versorgung in Deutschland vergleichbar ist (vgl. zum Ganzen auch VG Bayreuth, U.v. 25.1.2018 – B 7 K 17.31917 – juris).
bb) In Anwendung dieser Kriterien lässt sich nicht feststellen, dass beim Kläger eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung vorliegt, die sich im Falle ihrer Rückkehr oder Abschiebung in die Russische Föderation alsbald wesentlich verschlechtern würde.
(1) Ausweislich des in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Arztbriefes des Klinikums … an den Ärztlichen Dienst der AEO … vom 27. Mai 2019 wurden folgende Erkrankungen diagnostiziert: Schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen (F32.3), Posttraumatische Belastungsstörung (F43.1), Sodbrennen, keine oder geringe motorische Funktionseinschränkung: Barthel-Index: 100 Punkte (U50.00), keine oder leichte kognitive Funktionseinschränkung: Erweiterter Barthel-Index: 70-90 Punkte (U51.00).
Der Psychopathologische Befund bei Entlassung lautete: „Patient wach, ansprechbar, 4-fach orientiert. Die Kognition wird unauffällig. Die Stimmungslage ist weitestgehend nivelliert, der Antrieb ist regelrecht. Psychomotorisch ist der Patient ruhig. Er verneint Sinnestäuschungen. Gedanken kreisen um die Zukunft. Von akuter Suizidalität klar und glaubhaft distanziert. Bietet keine aggressiven Tendenzen. Er ist absprachefähig.“ Als weiteres Procedere wird vorgesehen: „Die stationäre Aufnahme erfolgte aufgrund von Panikzuständen, Stimmungseinbruch und Albträumen im Rahmen einer schweren depressiven Episode und PTBS. Der Patient zeigte sich initial depressiv ausgelenkt, stark grübelnd und wenig schwingungsfähig. Die vorbestehende Medikation mit Trazodon wurde erhöht. Wir integrierten den Patient in unser multimodales Therapieangebot. Im Schädel-MRT waren unspezifische Marklagerveränderungen periventrikulär frontal rechts zu beobachten, sonst unauffällig, siehe Befund. Im Verlauf zeigte sich die Stimmungslage tendenziell besser, es bestehen jedoch Isolierungstendenzen. Wir können Herrn … am 28.5.2019 frei von Eigen- und Fremdgefährdung in ihre ambulante Betreuung entlassen. Wir bitten um Fortführung der Entlassmedikation unter regelmäßigen Labor- und EKG-Kontrollen. Wir bitten zudem um ambulante nervenärztliche Weiterbehandlung.“ Als Medikation wurden Trazodon (100 mg) und Pantoprazol (40mg) festgelegt.
Im fachärztlichen Attest von Frau …, Fachärztin für Psychiatrie/Psychotherapie vom 28. Mai 2019 wird dem Kläger ebenfalls eine Posttraumatische Belastungsstörung (F 43.1) und schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen (F32.3) diagnostiziert.
(2) Soweit sich der Kläger auf das Vorliegen einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) beruft, wurden sie mit den im Laufe des Verfahrens vorgelegten Attesten und Arztbriefen nicht substantiiert dargelegt. Die vorgelegten ärztlichen Unterlagen genügen bereits im Ansatz nicht den Anforderungen an eine Bescheinigung bzw. Substantiierung einer PTBS.
Zur Substantiierung eines Vorbringens einer Erkrankung an einer PTBS gehört nach ständiger Rechtsprechung angesichts der Unschärfe des Krankheitsbildes sowie seiner vielfältigen Symptomatik regelmäßig die Vorlage eines gewissen Mindestanforderungen genügenden fachärztlichen Attests. Aus diesem muss sich nachvollziehbar ergeben, auf welcher Grundlage der Facharzt seine Diagnose gestellt hat und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Dazu gehören etwa Angaben darüber, seit wann und wie häufig sich der Patient in ärztlicher Behandlung befunden hat und ob die von ihm geschilderten Beschwerden durch die erhobenen Befunde bestätigt werden. Des Weiteren sollte das Attest Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf (Medikation und Therapie) geben. Wird das Vorliegen einer PTBS auf traumatisierende Erlebnisse im Heimatland gestützt und werden die Symptome erst längere Zeit nach der Ausreise aus dem Heimatland vorgetragen, so ist in der Regel auch eine Begründung dafür erforderlich, warum die Erkrankung nicht früher geltend gemacht worden ist. Diese Anforderungen an die Substantiierung ergeben sich aus der Pflicht des Beteiligten, an der Erforschung des Sachverhalts mitzuwirken (§ 86 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 VwGO), die in besonderem Maße für Umstände gilt, die in die eigene Sphäre des Beteiligten fallen (vgl. hierzu BVerwG, U. v. 11.09.2007 – 10 C 17/07 – juris).
Diese höchstrichterliche Rechtsprechung hat der Gesetzgeber im Wesentlichen nachvollzogen und Vorgaben zu den qualitativen Anforderungen an ärztliche Atteste in § 60 a Abs. 2c AufenthG gemacht (BayVGH, B.v. 24.1.2018 – 10 ZB 18.30105 – juris; B.v. 9.11.2017 – 21 ZB 17.30468 – juris; VG Bayreuth, B.v. 8.8.2018 – B 7 S 18.31388 – juris). Nach dieser Vorschrift wird gesetzlich vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. Der Ausländer muss eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen. Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich medizinische Beurteilung des Krankheitsbilds (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich erben, enthalten.
In den beiden vorgelegten fachärztlichen Attesten von Frau … finden sich keinerlei Angaben zu Anamnese und Exploration. Erstaunlich ist auch, dass die Ärztin (bis auf eine Ergänzung hinsichtlich des stationären Aufenthalts des Klägers) mit wortgleichen Ausführungen im zuletzt vorgelegten Attest noch die zusätzliche Diagnose der schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen feststellt. Ferner werden auch keine Angaben zu den Folgen der krankheitsbedingten Situation oder zum der PTBS zugrunde liegenden, traumatischen Ereignis gemacht. Letzteres gilt auch für den Arztbrief der Sozialstiftung …
(3) Die Erkrankung an einer schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen (F32.3) wurde ebenfalls nicht substantiiert dargelegt. Auch diesbezüglich werden die vorgelegten Atteste den Anforderungen des § 60a Abs. 2c AufenthG nicht gerecht.
(4) Bei der Frage, ob es sich bei der diagnostizierten Gesundheitsstörung des Klägers um eine schwerwiegende oder lebensbedrohliche Behandlung handelt, die sich durch die Abschiebung alsbald wesentlich verschlechtern wird, ist auch noch folgendes zu berücksichtigen:
Aufgrund der häufigen Geltendmachung schwer diagnostizier- und überprüfbarer Erkrankungen psychischer Art (z. B. PTBS) als Abschiebungshindernis wollte der Gesetzgeber mit der Präzisierung in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG klarstellen, dass nur äußerst gravierende Erkrankungen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben darstellen (vgl. BT-Drs. 18/7538, S. 18). Bei einer PTBS kann eine solche schwerwiegende Erkrankung nach der Gesetzesbegründung regelmäßig nicht angenommen werden – eine Abschiebung sei hier grundsätzlich möglich, es sei denn, diese würde zu einer wesentlichen Gesundheitsgefährdung bis hin zu einer Selbstgefährdung führen (vgl. BT-Drs. a.a.O.).
Ein Abschiebungshindernis wegen einer PTBS oder schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen des Klägers könnte daher allenfalls in einem besonders gelagerten Ausnahmefall angenommen werden (vgl. BayVGH, B.v. 6.11.2017 – 11 ZB 17.31463; SächsOVG, U.v. 20.4.2018 – 2 A 811/13.A – beide juris). Im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG, lässt sich den vorgelegten ärztlichen Berichten und Attesten ein derartiger Ausnahmefall aber nicht entnehmen. Vielmehr ist der Kläger ausweislich beider Berichte klar von akuter Suizidalität distanziert. Weitere Anhaltspunkte dafür, dass bei einer Beendigung der Behandlung in Deutschland und einer Rückkehr in die Russische Föderation eine wesentliche Gesundheitsgefährdung im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beim Kläger eintreten würden, finden sich nicht.
(5) Auch wenn davon ausgegangen wird, dass der Kläger an einer PTBS oder einer schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen leidet, so sind diese Erkrankungen in der Russischen Föderation behandelbar. Eine Behandlung ist für den Kläger zudem erreichbar und finanzierbar.
Seit dem 1. Januar 2011 gibt es in der Russischen Föderation ein Gesetz über die Krankenpflichtversicherung. Im Rahmen dieser Versicherung (OMS) können russische Staatsbürger eine kostenlose medizinische Grundversorgung in Anspruch nehmen, die durch staatliche Finanzmittel, Versicherungsbeiträge und andere Quellen finanziert wird. Davon umfasst sind Notfallhilfe und ambulante sowie stationäre Behandlung (vgl. International Organization for Migration – Länderinformationsblatt Russische Föderation – Juni 2014 – S. 8.). Um eine Krankenversicherung zu erhalten, müssen die Bürger an eine der Krankenversicherungen einen Antrag stellen und dazu die folgenden Dokumente vorlegen: Identifikationsdokument (bei Erwachsenen Reisepass oder vorläufiger Ausweis) und u.U. die Versicherungspolice der Rentenversicherung. Die Aufnahme in die Krankenversicherung ist kostenfrei (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation – Stand 7.5.2018; S. 106), für die Beiträge kommt bei der nichtarbeitenden Bevölkerung der Staat auf (vgl. Handelsblatt: Gesundheitssysteme weltweit – Russland – http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/gesundheitssysteme-weltweit-russland-ueberbleibsel-aus-sowjetzeiten/19579606-6.html). Wenn eine Behandlung in einer Region nicht möglich ist, gibt es die Möglichkeit, dass der Patient in eine andere Region, in welcher die Behandlung vorgenommen werden kann, überwiesen wird (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation – Stand 7.5.2018; S. 111 m.w.N.).
Psychiatrische Behandlungen für diverse psychische Behandlungen durch einen Psychologen/Psychiater sind in der gesamten Russischen Föderation verfügbar. Es gibt auch psychiatrische Krisenintervention bei Selbstmordgedanken. Auch eine PTBS ist in der gesamten Russischen Föderation behandelbar, beispielsweise im Alekseevskaya hospital in Moskau. In Moskau gibt es zudem unterschiedliche Arten von Therapien (kognitive Verhaltenstherapie, Desensibilisierung und Aufarbeitung durch Augenbewegungen (EMDR) und Narrative Expositionstherapie) um PTBS zu behandeln. Diverse Antidepressiva sind in der gesamten Russischen Föderation verfügbar (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation – Stand 7.5.2018; S. 114 m.w.N).
Die medizinische Versorgung in der Russischen Föderation wird zwar nicht dem Standard in Deutschland entsprechen, dennoch besteht auch für das Gericht kein ernstlicher Zweifel daran, dass hieraus für den Kläger eine konkrete Gefahr für Leib oder Leben entsteht. § 60 Abs. 7 Satz 1 bis 4 AufenthG gewährt gerade keine Anspruch auf die bestmögliche medizinische Behandlung. Der Gesetzgeber stellte durch § 60 Abs. 7 S. 3 AufenthG vielmehr ausdrücklich klar, dass es nicht erforderlich ist, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik gleichwertig ist sowie dass eine ausreichende medizinische Versorgung in der Regel auch dann vorliegt, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist (§ 60 Abs. 7 S. 4 AufenthG).
Der Kläger kann sich folglich bei einer Rückkehr nach Russland wieder um Aufnahme in die obligatorische Krankenversicherung bemühen, um Zugang zur Behandlung seiner Erkrankungen zu erhalten. Die in den vorgelegten ärztlichen Unterlagen erwähnten, für die Behandlung des Klägers erforderlichen Medikamente sind auch in der Russischen Föderation verfügbar. Pantoprazol ist (als Standardmedikament) nach der Erkenntnislage des Gerichts in der gesamten Russischen Föderation erhältlich (vgl. ZIRF-Auskunft vom 6.2.2017 – allgemein (ohne Anmeldung) abrufbar über die Plattform MILo) und auch Trazodon ist vorhanden (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation – Stand 7.5.2018; S. 114 m.w.N.).
Die Behandlung ist für den Kläger außerdem finanzierbar. Im Allgemeinen gilt, dass alle russischen Staatsbürger – sowohl im Rahmen einer Krankenpflichtversicherung als auch anderweitig versicherte – für etwaige Medikamentenkosten selbst aufkommen. Ausnahmen von dieser Regelung gelten nur für besondere Personengruppen, die an bestimmten Erkrankungen leiden und denen staatliche Unterstützung zuerkannt worden ist (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation – Stand 7.5.2018; S. 116). Es wurde nicht dargelegt, dass es dem Kläger nicht möglich sein sollte, die finanziellen Mittel für den Erwerb der Medikamente aufzubringen. Dass die Kläger durch seine Krankheit derart eingeschränkt ist, dass er keinerlei Erwerbstätigkeit ausüben kann, lässt sich den vorgelegten Attesten und Arztberichten nicht entnehmen.
4. Es bestehen auch gegen die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung einschließlich der Zielstaatbestimmung (Russische Föderation) im Hinblick auf § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG keine Bedenken. Zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, auf den gemäß § 77 Abs. 1 AsylG abzustellen ist, sind Gründe, die dem Erlass der Abschiebungsandrohung gegenüber dem Kläger entgegenstünden, nicht ersichtlich. Denn er ist, wie oben ausgeführt, weder als Flüchtling anzuerkennen, noch steht ihm ein Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes oder auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG zu. Er besitzt auch keine asylunabhängige Aufenthaltsgenehmigung (§ 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 Abs. 1 und 2 AufenthG).
5. Gründe, die gegen die Rechtmäßigkeit der von der Beklagten festgesetzten Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots sprechen, liegen nicht vor.
II.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben. Die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten richtet sich nach § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 der Zivilprozessordnung (ZPO). Der Einräumung einer Abwendungsbefugnis nach § 711 ZPO bedurfte es angesichts der – wenn überhaupt anfallenden – dann allenfalls geringen vorläufig vollstreckbaren Aufwendungen der Beklagten nicht, zumal diese auch die Rückzahlung garantieren kann, sollte in der Sache eventuell eine Entscheidung mit anderer Kostentragungspflicht ergehen.