Aktenzeichen M 24 K 14.31132
AsylG § 76 Abs. 1, § 77 Abs. 1 S. 1, § 83b
VwVfG § 51 Abs. 1 – 3
VwGO § 63 Nr. 4, § 86 Abs. 1, § 101 Abs. 2, § 102 Abs. 2, § 154 Abs. 1
Leitsatz
1. Trotz dargelegter Erkrankung des Ausländers führt eine Rückkehr nach Mazedonien nicht zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben iSv § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG, da nach den vorliegenden Erkenntnisquellen die meisten Krankheiten und Verletzungen in Mazedonien therapiert werden können. (Rn. 28 – 37) (redaktioneller Leitsatz)
2. Weder im Bereich der Sozialhilfe noch im Gesundheitssystem Mazedoniens gibt es diskriminierende Sonderbestimmungen für rückkehrende Asylantragsteller. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
1. Das Gericht konnte gemäß § 101 Abs. 2 VwGO aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 7. April 2016 ohne weitere mündliche Verhandlung im schriftlichen Verfahren entscheiden, weil alle Beteiligten klar, eindeutig und vorbehaltlos auf mündliche Verhandlung verzichtet haben. Der Kläger hat mit Erklärung seiner Bevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung vom 7. April 2016 und die Beklagte mit genereller (auch den vorliegenden Rechtsstreit umfassender) Prozesserklärung vom 25. Februar 2016 auf Durchführung einer (weiteren) mündlichen Verhandlung verzichtet. Die Regierung von Oberbayern ist vorliegend zwar gemäß § 63 Nr. 4 VwGO als Vertreter des öffentlichen Interesses Verfahrensbeteiligter aufgrund der generellen Beteiligungserklärungen vom 11. Mai 2015 und vom 18. Mai 2015 (vgl. zur Zulässigkeit sog. Generalbeteiligungserklärungen BVerwG, U.v.27.6.1995 – 9 C 7/95 – juris Rn. 11). In diesen Erklärungen hat der Vertreter des öffentlichen Interesses allerdings darum gebeten, ihm ausschließlich die jeweilige Letzt- bzw. Endentscheidung zu übersenden und damit unter anderem auch auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
Dem Kläger wurde zudem mit Schreiben vom 22. November 2016 Gelegenheit gegeben, zur beabsichtigten Entscheidung des Gerichts, die nicht vor dem 16. Dezember 2016 ergehen würde, Stellung zu nehmen.
Einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren steht auch nicht entgegen, dass zur mündlichen Verhandlung am 7. April 2016 kein Vertreter der Beklagten erschienen war. Denn in dem Ladungsschreiben vom 19. Januar 2016, das der Beklagten am 26. Januar 2016 gegen Empfangsbekenntnis zugestellt wurde, war darauf hingewiesen worden, dass bei Nichterscheinen eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
2. Das Verwaltungsgericht München ist zur Entscheidung über die Klage insbesondere örtlich zuständig, weil der Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt des Eintritts der Rechtshängigkeit seinen Aufenthalt nach dem Asylgesetz im Regierungsbezirk Oberbayern (* … …*) und damit im Gerichtsbezirk zu nehmen hatte (§ 52 Nr. 2 Satz 3 VwGO). Aufgrund des Kammerbeschlusses vom 3. August 2015 ist der Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung über die Klagen berufen (§ 76 Abs. 1 Asylgesetz – AsylG).
3. Gegenstand der vorliegenden Klage ist die unter Aufhebung der Nr. 2 des Bescheides vom 16. Oktober 2014 hinsichtlich des Klägers begehrte Verpflichtung der Beklagten, unter Abänderung des Bescheides vom 10. März 2011 festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Mazedonien vorliegt. Dem eindeutigen Klageantrag zufolge ist nicht Gegenstand der Klage die Ablehnung des Antrags auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens.
4. Die Klage ist zulässig, jedoch unbegründet und war daher abzuweisen. Der Bescheid der Beklagten vom 16. Oktober 2014 ist, soweit er Gegenstand des Klageverfahrens ist, rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der Kläger hat keinen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten, unter Abänderung des Bescheides vom 10. März 2011 festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Mazedoniens vorliegt.
4.1. Hat das Bundesamt im ersten Asylverfahren unanfechtbar festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht bestehen, so ist eine erneute Befassung mit § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG erst dann zulässig, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen (vgl. BVerwG, U.v. 21.03.2000 – 9 C 41/99 – juris Rn. 9; BVerwG, B.v. 15.01.2001 – 9 B 475.00 – juris Rn. 5). Sind die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht erfüllt, hat das Bundesamt nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, ob die bestandskräftige Entscheidung zurückgenommen oder widerrufen wird; insoweit besteht ein Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung (BVerwG, B.v. 15.01.2001, a.a.O, Rn. 5).
Aufgrund der nach Erlass des Bundesamtsbescheides vom 10. März 2011 zutage getretenen Erkrankung des Klägers und die hierzu dem Bundesamt und dem Gericht vorgelegten ärztlichen Unterlagen geht das Gericht davon aus, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 VwVfG zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen, da sich die dem Bescheid des Bundesamtes vom 10. März 2011 zugrundeliegende Sachlage nachträglich zugunsten des Klägers geändert hat und der Kläger hierzu neue Beweismittel vorgelegt hat. Wie die Beklagte in ihrem Bescheid zu Recht dargelegt hat, ist hierfür ein schlüssiger und objektiv geeigneter Sachvortrag erforderlich, aber auch ausreichend, um das Vorliegen der Wiederaufgreifensvoraussetzungen nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG zu bejahen. Soweit das Gesetz verlangt, dass eine Änderung der Sachlage zu Gunsten des Betroffenen vorliegt, beinhaltet dies nicht die zusätzliche Voraussetzung, dass auch die neue Entscheidung zu Gunsten des Betroffenen ergehen muss. Ausreichend ist vielmehr, dass die Änderung der Sachlage geeignet ist, sich möglicherweise zu Gunsten des Betroffenen auszuwirken. Im Übrigen hat die Beklagte das Verfahren – entgegen ihrer Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid – auch tatsächlich wieder aufgegriffen, indem sie die vorgelegten ärztlichen Unterlagen zum Anlass genommen hat, eine Auskunft der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Skopje zur Frage, ob die anstehenden Behandlungen und Kontrollen bei einem Kind diesen Alters in Mazedonien gewährleistet seien und somit eine Gefahr für Leib und Leben ausgeschlossen werden könnte, einzuholen.
4.2. Allerdings ergibt sich aus diesem Vorbringen kein Anspruch des Klägers auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Darüber hat das Gericht vorliegend auch selbst zu entscheiden, da es, wenn es die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens als erfüllt ansieht, die Sache nicht zur Entscheidung an das Bundesamt zurückverweisen darf, sondern durchentscheiden muss (vgl. BVerwG, U.v.10.02.1998 – 9 C 28/97 – juris Rn. 9).
Da in Streitigkeiten nach dem Asylgesetz auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. der Entscheidung abzustellen ist (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG), ist vorliegend § 60 Abs. 7 AufenthG in der Fassung, die er durch das Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11. März 2016 (BGBl. I Nr. 12, 390 ff) erhalten hat, anzuwenden.
Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen.
Dabei ist – nach ständiger Rechtsprechung – die Gefahr, dass sich die Erkrankung eines Ausländers aufgrund der Verhältnisse im Abschiebestaat verschlimmert, in der Regel als individuelle Gefahr einzustufen, die am Maßstab von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in direkter Anwendung zu prüfen ist. Erforderlich, aber auch ausreichend ist in derartigen Fällen, dass sich die vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, das heißt, dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht (BVerwG, B.v. 17.08.2011 – 10 B 13/11 – juris Rn. 3 mit Verweis auf BVerwG, U.v. 17.10.2006 – 1 C 18/05 – juris Rn. 15).
Von einem solchen medizinischen Sachverhalt ist vorliegend jedoch nicht auszugehen. Das Gericht verkennt nicht, dass der Kläger an erheblichen Erkrankungen leidet. Nach den dem Gericht vorliegenden und in der mündlichen Verhandlung mit der Bevollmächtigten des Klägers erörterten Erkenntnisquellen können in Mazedonien aber die meisten Krankheiten und Verletzungen therapiert werden (Ad-hoc-Teil-Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien, v.a. bzgl. der Situation der Roma sowie zur medizinischen Versorgung, Stand: Januar 2011, vom 19.01.2011 – Lagebericht 2011 – unter II.2.1. (Medizinische Versorgung, Überblick), S. 7/8). Diese allgemeine Einschätzung wird vorliegend durch die ein anderes Kind betreffende Auskunft von IOM vom 9. Oktober 2014 und durch die im konkreten Fall des Klägers von der Beklagten eingeholten Auskunft der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Skopje vom 17. März 2014 bestätigt.
Dem Kläger stehen im Rahmen der Familienversicherung auch die Leistungen des Mazedonischen Sozial- und insbesondere des Krankenversicherungssystems im Falle einer Rückkehr zur Verfügung. Zwar können in Fällen, in denen vor der Ausreise Sozialhilfe bezogen worden sein sollte, Sozialhilfeansprüche unterbrochen werden, wenn der nach mazedonischem Recht vorgesehenen gesetzlichen Pflicht zur monatlichen Meldung beim dortigen Arbeitsamt nicht entsprochen wurde, so dass ein Neuantrag auf Sozialhilfe erst nach einer Wartezeit von sechs Monaten gestellt werden kann (Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien, Stand: August 2015, vom 12. August 2015 – Lagebericht 2015 – unter IV. 1 und IV.3, S. 10 und 11 ebenso wie die vorhergehenden Lageberichte Stand: Oktober 2013, Dezember 2012 und Januar 2011). Die Rückkehr in das öffentliche Gesundheitssystem ist aber unabhängig davon problemlos möglich; es gibt insoweit keine Wartefristen für die Wiedereingliederung nach längerer Abwesenheit. Weder im Bereich der Sozialhilfe noch im Gesundheitssystem gibt es diskriminierende Sonderbestimmungen für rückkehrende Asylantragsteller (Lagebericht 2015 unter IV.4, S. 12).
Die Versicherungsbedingungen für Arbeitslose wurden im vergangenen Jahr vereinfacht, um mehr Personen den Zugang zur Krankenversicherung zu ermöglichen. Demnach kann ein Arbeitsloser, gleich ob er früher gearbeitet hat oder nicht, sich gegen Vorlage einer Bescheinigung des für seinen Wohnsitz zuständigen Arbeitsamtes über seine fehlenden Einkünfte versichern lassen. Diese Möglichkeit steht auch mittellosen Rückkehrern offen. Für diese ist das Arbeitsamt am Ort der Niederlassung nach Rückkehr zuständig. Bis vor einigen Jahren war es für Arbeitslose deutlich schwieriger, sich krankenversichern zu lassen. Für eine offizielle Registrierung als Arbeitsloser hatte der Betreffende mindestens einen Grundschulabschluss vorweisen müssen. Familienangehörige (nicht erwerbstätige Ehepartner und Kinder) werden über den Hauptversicherer mitversichert.
Das Grundleistungspaket der Krankenversorgung ist sehr breit gefächert und umfasst fast alle medizinischen Leistungen, abgesehen von einigen Ausnahmen wie z.B. schönheitschirurgische Eingriffe oder homöopathische Medizin. Es deckt sowohl ambulante als auch stationäre Behandlungen ab. Eingeschlossen sind auch Reha- und physiotherapeutische Maßnahmen (siehe hierzu Lagebericht 2011 – unter II.2.2. (Medizinische Versorgung, Krankenversicherungsschutz durch den nationalen Gesundheitsfonds und Versicherungsleistungen), S. 8-10).
Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen ist die Höhe der Eigenanteilszahlungen für medizinische Leistungen pro Jahr auf maximal 70% eines monatlichen Durchschnittslohns beschränkt. Dieser beträgt laut Lagebericht 2011 rund 300 € bzw. laut Lagebericht 2015 im Dezember 2014 ca. 367 €. Hierfür müssen lediglich die entsprechenden Belege gesammelt werden. Bei Langzeiterkrankungen, wie z.B. Krebs oder Dialysebehandlungen, gibt es Ausnahmeregelungen hinsichtlich der Höhe des Eigenanteils, damit auch diese Behandlungen für alle Versicherten zugänglich sind. Für Kinder entfallen die Eigenanteile. Wenn das Monatseinkommen unter dem Durchschnittslohn liegt, gibt es eine prozentuale Reduzierung der Eigenanteile. Rentnern und Arbeitslose zahlen einen sehr geringen Eigenanteil in einer Größenordnung von rund 1 € pro Behandlung (Lagebericht 2011 – unter II.2.4. (Medizinische Versorgung, Zuzahlungen), S. 10).
Vor diesem Hintergrund geht das Gericht davon aus, dass trotz der dargelegten Erkrankung des Klägers eine Rückkehr nach Mazedonien nicht zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führt. Angesichts der angeführten, dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel sind auch keine (weiteren) gerichtlichen Ermittlungen veranlasst (§ 86 Abs. 1 VwGO), zumal nach Auskunft des den Kläger behandelnden … … vom 11. November 2016 momentan nur eine Verlaufskontrolle im Frühjahr 2017 und keine weiteren Operationen beim Kläger geplant sind. Die Klage war demzufolge abzuweisen.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
6. Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO i.v.m. §§ 708 ff der Zivilprozessordnung (ZPO).