Aktenzeichen Au 1 K 16.30522
Leitsatz
Allein die illegale Ausreise aus Eritrea, um sich dem Nationaldienst zu entziehen, führt nicht zu politischen Verfolgungsmaßnahmen des eritreischen Staates. Allerdings begründen die auf die Entziehung vom Wehr- und Nationaldienst folgenden Strafmaßnahmen im Zusammenhang mit den unmenschlichen Haftbedingungen in Eritrea einen Anspruch auf subsidiären Schutz. (Rn. 24 – 27) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Gründe
1. Über die Klage konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, weil die Parteien mit Schreiben vom 10. August 2016 bzw. mit Generalerklärung vom 25. Februar 2016 hierzu ihr Einverständnis erklärt haben (§ 101 Abs. 2 VwGO).
2. Die zulässige, insbesondere fristrecht erhobene Klage (vgl. § 74 Abs. 1 Hs. 2 14 AsylG), ist unbegründet.
a) Gegenstand der Klage ist ausschließlich die Frage, ob die illegale Ausreise aus Eritrea und die Entziehung vor der Ableistung des Wehr- oder Nationaldienstes eine politische Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG darstellt. Dem Kläger wurde mit Bescheid vom 15. April 2016 nach § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG subsidiärer Schutz gewährt. Die Klage richtet sich ausschließlich gegen die Ablehnung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne von § 3 Abs. 1 Asyl. Der Bescheid der Beklagten ist jedoch rechtmäßig, soweit dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 AsylG nicht zuerkannt wurde (§ 113 Abs. 1 VwGO).
b) Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist – unter Berücksichtigung der unionsrechtlichen Vorgaben – Flüchtling, wenn seine Furcht begründet ist, dass er in seinem Herkunftsland wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3 a AsylG ausgesetzt ist (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris). Von einer Verfolgung kann nur dann ausgegangen werden, wenn dem Einzelnen in Anknüpfung an die genannten Merkmale gezielt Rechtsverletzungen zugefügt werden, die wegen ihrer Intensität den Betroffenen dazu zwingen, in begründeter Furcht vor einer ausweglosen Lage sein Heimatland zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen. An einer gezielten Rechtsverletzung fehlt es aber regelmäßig bei Nachteilen, die jemand aufgrund der allgemeinen Zustände in seinem Herkunftsland zu erleiden hat, etwa infolge von Naturkatastrophen, Arbeitslosigkeit, einer schlechten wirtschaftlichen Lage oder infolge allgemeiner Auswirkungen von Unruhen, Revolution und Kriegen (vgl. OVG NRW, U.v. 28.3.2014 – 13 A 1305/13.A – juris). Auch eine kriminelle Verfolgung muss an ein in § 3 AsylG genanntes Merkmal anknüpfen, um als politische Verfolgung gelten zu können. Eine Verfolgung i.S. des § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationale Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
Dabei ist nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (ABl EU Nr. L 337 S. 9 ff; im Folgenden: RL 2011/95/EU) die Tatsache, dass der Ausländer bereits verfolgt oder von Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, wenn nicht stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass er neuerlich von derartiger Verfolgung bedroht ist. Hat der Asylbewerber seinen Heimatstaat jedoch unverfolgt verlassen, so kann sein Asylantrag nur Erfolg haben, wenn ihm auf Grund von Nachfluchttatbeständen politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Droht diese Gefahr nur in einem Teil seines Heimatstaates, so kann der Betroffene auf Gebiete verwiesen werden, in denen er vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist, es sei denn, es drohen dort andere nach den oben dargelegten Grundsätzen unzumutbare Nachteile und Gefahren (BVerfG, B.v. 10.7.1989 – 2 BvR 502/86 – BVerfGE 80, S. 345 f.).
c) Gemessen an diesen Maßstäben droht dem Kläger bei einer Rückkehr nach Erit- 18 rea keine Verfolgung im Sinne von § 3 AsylG.
aa) Der Kläger trägt vor, Eritrea verlassen zu haben, weil er nicht bereit sei, wie sein Vater und sein Bruder zum Militär zu gehen. Sein Vater habe als Soldat im Krieg kämpfen müssen und sei viele Jahre im Gefängnis gewesen. Er habe nicht das gleiche Schicksal erleiden wollen. Weil er sich seiner Einberufung entzogen habe, müsse er bei einer Rückkehr mit Gefängnis, Folter oder sogar Tod rechnen. Diese Fluchtgründe sind jedoch nicht geeignet, eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG zu begründen.
bb) Maßstab für die flüchtlingsschutzrechtliche Beurteilung der vom Kläger geltend gemachten Fluchtgründe ist, ob mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von einer Verfolgungsgefahr für den Kläger in seinem Herkunftsland (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 AsylG) Eritrea in Anknüpfung an die geschützten Persönlichkeitsmerkmale Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) auszugehen ist.
(1) Die Einberufung in den Nationalen Dienst (Militärdienst einschließlich nationa21 ler Dienstverpflichtung) durch den eritreischen Staat stellt keinen im Rahmen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG beachtlichen Verfolgungsgrund dar.
Die Verpflichtung zum Nationaldienst als solchen stellt deshalb keine flücht- 22 lingsschutzrechtlich relevante Verfolgung dar, weil die Heranziehung zum Militärdienst ausweislich der Regelung in § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG flüchtlingsschutzrechtlich schon grundsätzlich nicht dem Schutzversprechen unterfällt. Denn nach dieser Vorschrift stellt die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes nur dann eine relevante Verfolgungshandlung dar, wenn der Militärdienst im Rahmen eines Konflikts zu leisten ist und der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen (Kriegsverbrechen, schwere nichtpolitische Straftaten, Zuwiderhandlungen gegen die Grundsätze der Vereinten Nationen).
Diese Voraussetzungen liegen jedoch hier nicht vor. Eine in Eritrea drohende Bestrafung wegen Wehrpflicht-/Kriegsdienstverweigerung durch eine illegale Ausreise ergeht nicht in Zusammenhang mit einem Konflikt i. S. v. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG. Denn Eritrea befindet sich derzeit in keinem Konflikt im Sinne dieser Norm – sei es mit anderen Staaten (internationaler Konflikt), sei es mit aufständischen innerstaatlichen Gruppen (innerstaatlicher Konflikt). Kriegerische Auseinandersetzungen mit den Nachbarstaaten Äthiopien, Dschibuti und Sudan bestehen nach der vorliegenden Erkenntnislage zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht. Im Übrigen trifft der eritreische Nationaldienst alle Staatsangehörigen ohne Ansehen der Persönlichkeitsmerkmale des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gleichermaßen.
(2) Soweit der Kläger geltend macht, er werde im Falle einer Wiedereinreise nach Eritrea wegen seiner illegalen Ausreise und der Flucht vor dem Nationaldienst ohne Aussicht auf ein rechtsstaatliches Verfahren verhaftet, so begründet dieses, wie das Bundesamt zu Recht festgestellt hat, einen Anspruch auf subsidiären Schutz im Sinne von § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, nicht jedoch die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
Für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist es nach § 3 b Abs. 2 AsylG 25 zwar unerheblich, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet ist, weil er tatsächlich die Merkmale besitzt, die zur Verfolgung führen, sofern der Verfolger dem Betroffenen diese Merkmale tatsächlich zuschreibt. Allein die Tatsache, dass der Kläger illegal ausgereist ist, um sich dem Nationaldienst zu entziehen, führt nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln jedoch nicht dazu, dass ihm vom eritreischen Staat eine politische Gegnerschaft zugeschrieben wird, die zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen genommen wird. In Eritrea gibt es kein Recht, den Wehr- oder Nationaldienst zu verweigern. Wer sich diesen Diensten entzieht, wird mit Umerziehungslageraufenthalten oder mit Gefängnis bestraft. So werden Personen, die versuchen, dem Wehr- und Nationaldienst zu entgehen, bei dem (illegalen) Ausreiseversuch verhaftet. Die Anzahl der Wehrdienstverweigerer und der Fahnenflüchtigen ist steigend (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 14. Dezember 2015 (Stand: August 2015), S. 12). Sofern Personen bei der Entziehung vom Wehrdienst behilflich waren, droht auch ihnen Strafverfolgung (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 14. Dezember 2015 (Stand: August 2015), S. 11). Diese Maßnahmen begründen in Zusammenhang mit den in Eritrea unmenschlichen Haftbedingungen zwar einen Anspruch auf subsidiären Schutz im Sinne vom § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Ein generelles Anknüpfen an einen nach § 3 b AsylG relevanten Verfolgungsgrund kann darin jedoch nicht gesehen werden. Denn insoweit handelt es sich um eine Strafverfolgung nach den allgemein in Eritrea geltenden Strafvorschriften, die jeden Eritreer gleichermaßen trifft. Die Strafvorschriften knüpfen nicht an eine bestimmte politische Haltung oder bestimmte Persönlichkeitsmerkmale an, sondern an den Umstand, dass sich die Betroffenen dem Wehr- oder Nationaldienst entzogen haben. Hinweise darauf, dass allein aus dem Umstand der illegalen Ausreise auf eine politische Gegnerschaft geschlossen wird, die zu einer im Vergleich zu den ohnehin geltenden Strafvorschriften verschärften strafrechtlichen Ahndung führen, sieht das Gericht aufgrund der ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel nicht. Misshandlungen, Folter und Willkür treffen weite Kreise der Bevölkerung. Rechtsstaatliche Verhältnisse und eine militärische oder zivile Rechtsordnung sind nicht vorhanden. Verhaftungen ohne Haftbefehl und ohne Angabe von Gründen sind üblich (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 14. Dezember 2015 (Stand: August 2015), S. 11).
Nach Auffassung des Gerichts besitzt daher die strafrechtliche Ahndung des Wehrdienstentzugs ohne Hinzutreten weiterer Umstände keinen politischen Sanktionscharakter. Gemäß der Proklamation 82/1995 muss ein Deserteur eine Strafe von 3.000 Birr bezahlen und/oder eine zweijährige Haftstrafe verbüßen. Falls er nach der Desertion das Land verlässt, beträgt die Haftstrafe fünf Jahre. Deserteure verlieren außerdem das Recht auf Arbeit und Landbesitz (EASO-Bericht über Herkunftsländer-Informationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 42). Aufgrund des politischen bzw. ideologischen Charakters des Nationaldiensts wurde die Desertion oder Wehrdienstverweigerung einigen Quellen zufolge von den Behörden als Ausdruck politischer Opposition bzw. Verrat an der Nation aufgefasst, doch beziehen sich diese Quellen auf Ereignisse, die aus den Jahren 2008 und 2009 stammen. Die Erkenntnisse zur Behandlung rückgeführter Eritreer beruhen in erster Linie auf Erfahrungen mit Rückführungen von abgewiesenen Asylsuchenden, die zwischen 2002 und 2008 zurückgeführt worden waren. Seither gibt es keine neueren empirischen Erkenntnisse. Dem oben genannten EASO-Bericht ist zu entnehmen, dass die meisten Quellen darin übereinstimmen, dass Bestrafungen außergerichtlich und nicht gemäß den oben aufgeführten Gesetzesartikeln und damit willkürlich erfolgen. Einige von Dänemark und Norwegen im Rahmen von Fact Finding Missions Ende 2014 und Anfang 2015 in Eritrea kontaktierte Gesprächspartner seien aber der Ansicht, dass Deserteure und Wehrdienstverweigerer mittlerweile nur noch für einige Wochen oder Monate inhaftiert und danach wieder in den Nationaldienst überführt würden. Mehrere 2013 und 2014 von Norwegen, den Niederlanden und Dänemark konsultierten Eritrea-Experten hielten aber Befragungen, Bestrafungen und Misshandlungen im Fall einer Rückkehr weiterhin für möglich. Die eritreische Führung habe mittlerweile gegenüber ausländischen Delegationen mehrfach verlauten lassen, dass Rückkehrer nicht bestraft würden, sofern sie keine Straftaten begangen hätten (EASO-Bericht über Herkunftsländer-Informationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 41). Unter Auswertung der Erkenntnismittel kommt das Gericht daher zur Überzeugung, dass bei illegaler Ausreise und Flucht vor dem Nationalbzw. Wehrdienst die im Falle einer Rückkehr drohende Bestrafung, Befragung und Misshandlung die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG erfordert, hierin jedoch nicht generell eine politische Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG zu sehen ist. Soweit einzelne Gerichte dennoch die Voraussetzungen für die Gewährung der Flüchtlingseigenschaft für gegeben sahen, bezogen sie sich auf Erkenntnismittel aus den Jahren 2009/2010 (VG Frankfurt, U.v. 12.8.2013 – 8 K 2202/13.F.A. – juris Rn. 15f; VG Minden, U.v. 13.11.2014 – 10 K 2815/13.A – juris Rn. 50). Die aktuellen Erkenntnisse aus den Jahren 2015 und 2016 (EASO-Bericht über Herkunftsländer-Informationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015; U.S. Department of State vom 13.4.2016, Human Rights Report: Eritrea 2015, Bureau of Democracy, Human Rights and Labor; Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 21.1.2015, Eritrea: Rekrutierung von Minderjährigen – alle genannten Quellen im Internet abrufbar; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 14. Dezember 2015 (Stand: August 2015)) bestätigen der eritreischen Regierung schwere Menschenrechtsverletzungen, lassen aber nicht den Schluss auf eine grundsätzlich politisch motivierte Verfolgung im Falle der illegalen Ausreise und der Verweigerung des National- oder Wehrdienstes zu. Dass die Praxis der Bestrafung wegen illegaler Ausreise und Wehrdienstentzug aufgrund der in Eritrea herrschenden Willkürherrschaft ohne unabhängiges Justizwesen, mit willkürlichen Inhaftierungen, körperlichen Misshandlungen, Folter und Inhaftierung unter menschenunwürdigen Bedingungen massiv elementare Rechtsgrundsätze und Menschenrechte verletzt, steht außer Zweifel. Dieser Umstand führte auch zur Gewährung subsidiären Schutzes im Sinne von § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG.
3. Weil dem Kläger in seinem Herkunftsland (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 AsylG) Eritrea somit 27 keine Verfolgung in Anknüpfung an die geschützten Persönlichkeitsmerkmale Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) droht, ist die Klage auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist mit der Kostenfolge des § 154 VwGO abzuweisen.