Aktenzeichen M 30 K 18.30351
Leitsatz
Eine staatliche Verfolgung ehemaliger Kindersoldaten ist in Sierra Leone nicht ersichtlich, insbesondere nicht im Wege der Strafverfolgung. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
I. Die zulässige Klage ist unbegründet. Die ablehnende Entscheidung des Bundesamts vom 8. Januar 2018 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, da der Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) weder einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach §§ 3 ff. AsylG, noch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG hat. Ebenso wenig liegen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich einer Abschiebung des Klägers nach Sierra Leone vor. Die auf der Ablehnung des Asylantrags als unbegründet beruhende Ausreiseaufforderung mit 30tägiger Ausreisefrist und die Abschiebungsandrohung gemäß §§ 34, 38 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 AufenthG und dessen Befristung sind ebenfalls nicht zu beanstanden.
1. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Von einer Verfolgung kann nur dann ausgegangen werden, wenn dem Einzelnen in Anknüpfung an die genannten Merkmale gezielt Rechtsverletzungen zugefügt werden, die wegen ihrer Intensität den Betroffenen dazu zwingen, in begründeter Furcht vor einer ausweglosen Lage sein Heimatland zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen. An einer gezielten Rechtsverletzung fehlt es regelmäßig bei Nachteilen, die jemand aufgrund der allgemeinen Zustände in seinem Herkunftsland zu erleiden hat, etwa infolge von Naturkatastrophen, Arbeitslosigkeit, einer schlechten wirtschaftlichen Lage oder infolge allgemeiner Auswirkungen von Unruhen, Revolution und Kriegen (vgl. OVG Münster, U.v. 28.3.2014 – 13 A 1305/13.A – juris Rn. 21 f. m.w.N.). Eine Verfolgung kann dabei gem. § 3c AsylG ausgehen von einem Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die zuvor genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Weiter darf für den Ausländer keine innerstaatliche Fluchtalternative bestehen (§ 3e AsylG), deren Inanspruchnahme zumutbar ist. Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es gemäß § 3b Abs. 2 AsylG unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden. Subsidiärer Schutz ist einem Ausländer zuzuerkennen, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Die §§ 3c bis 3e AsylG gelten entsprechend (§ 4 Abs. 3 AsylG). Die Furcht vor Verfolgung sowie die Gefahr eines ernsthaften Schadens ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei zusammenfassender Würdigung des zur Prüfung stehenden Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris Rn. 32). Die Tatsache, dass ein Drittstaatsangehöriger bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist gem. Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Betroffene erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Hinsichtlich einer individuellen Verfolgung oder Bedrohung muss das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit erlangen. Angesichts des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich ein Ausländer insbesondere hinsichtlich individueller Gründe für einen asylrechtlichen Schutzstatus befindet, genügt für diese Vorgänge in der Regel die Glaubhaftmachung. Dabei sind die Herkunft, der Bildungsstand und das Alter des Asylsuchenden sowie sprachliche Schwierigkeiten zu berücksichtigen. Dem Ausländer obliegt es aber dennoch, gegenüber dem Tatsachengericht einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern. Daher ist Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ein geeigneter Vortrag, welcher den Asylanspruch hinsichtlich der in die eigene Sphäre des Asylsuchenden fallenden Ereignissen – insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen – lückenlos trägt (vgl. BVerwG, U.v. 8.5.1984 – 9 C 141/83 – juris Rn. 11). Der Ausländer muss die persönlichen Umstände seiner Verfolgung und Furcht vor einer Rückkehr hinreichend substantiiert, detailliert und widerspruchsfrei vortragen; er muss kohärente und plausible wirklichkeitsnahe Angaben machen (vgl. BVerwG, B.v. 21.7.1989 – 9 B 239/89 – NVwZ 1990, 171; BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109/84 – NVwZ 1985, 658; BVerwG, U.v. 8.5.1984 – 9 C 141/83 – juris Rn. 11). Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag sowie in Fällen, in welchen der Vortrag nach den Erkenntnismaterialien, der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe nicht nachvollziehbar erscheinen, kann dem Asylsuchenden in der Regel nur bei einer überzeugenden Auflösung der Unstimmigkeiten geglaubt werden (vgl. VGH Kassel, U.v. 4.9.2014 – 8 A 2434/11.A – juris Rn. 15; VGH Mannheim, U.v. 27.8.2013 – A 12 S 2023/11 – juris Rn. 35; BVerwG, B.v. 23.5.1996 – 9 B 273/96 – juris Rn. 2; B.v. 21.7.1989 – 9 B 239/89 – NVwZ 1990, 171; U.v. 8.2.1989 – 9 C 29/87 – juris Rn. 8; U.v. 23.2.1988 – 9 C 273/86 – juris Rn. 11; B.v. 12.9.1986 – 9 B 180/86 – juris Rn. 5; U.v. 16.4.1985 – 9 C 109/84 – NVwZ 1985, 658).
In Anwendung dieser Maßstäbe liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß §§ 3 ff AsylG oder des subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG beim Kläger nicht vor. Der Kläger hat keine § 3 AsylG bzw. § 4 AsylG relevante begründete Furcht vor Verfolgung bzw. Gefahr eines ernsthaften Schadens glaubhaft vorgetragen. Zunächst wird – insbesondere zur Glaubhaftigkeit des klägerischen Vortrags – gemäß § 77 Abs. 2 AsylG auf die Gründe des streitgegenständlichen Bescheids Bezug genommen. Darüber hinaus droht dem Kläger keine Verfolgung bzw. kein ernsthafter Schaden, soweit er vorgetragen hat, dass er in der Vergangenheit als Kindersoldat für die RUF gekämpft und ihr geholfen habe. Eine staatliche Verfolgung ehemaliger Kindersoldaten ist in Sierra Leone nicht ersichtlich, insbesondere nicht im Wege der Strafverfolgung. Es liegen keine Erkenntnisse darüber vor, dass zwangsrekrutierte Kindersoldaten, insbesondere wenn sie keine herausgehobene Stellung hatten, nach dem Bürgerkrieg zur Rechenschaft gezogen wurden bzw. nunmehr – bezüglich des Klägers – über 20 Jahre später noch würden. Vielmehr ist auf die Generalamnestie aus dem Friedensabkommen von Lomé im Jahre 1999 hinzuweisen. Wenn mit Ausnahme der Hauptverantwortlichen eine Amnestie für die Rebellen gilt, umfasst dies jedenfalls auch die Kindersoldaten. Dabei geht das Gericht davon aus, dass die Amnestie – mangels entgegenstehender Erkenntnisse – auch diejenigen erfasst, die nach dem Abkommen bis zum endgültigen Ende des Bürgerkriegs weitergekämpft haben. Zudem ist auf die abgeschlossene Tätigkeit des Sondergerichtshofs hinzuweisen. Bei der Einrichtung des Sondergerichts für Sierra Leone wurde das Mindestalter bei Tatbegehung für eine weitere Strafverfolgung auf fünfzehn Jahre festgesetzt und festgelegt, dass jugendliche Straftäter zwischen fünfzehn und achtzehn Jahren nicht mit Gefängnis bestraft, sondern mit dem Ziel der Resozialisierung und Wiedereingliederung an die Kommission für Wahrheit und Versöhnung verwiesen würden (BAMF-Länderinformation Sierra Leone, Mai 2010). Wie sich allgemein zugänglichen Quellen im Internet entnehmen lässt, hat die damalige Präsidentin des Sondergerichtshofs für Sierra Leone in einem Interview ausdrücklich Strafverfahren gegen Kindersoldaten ausgeschlossen (www.agfriedensforschung.de/themen/kindersoldaten/sierraleone.html). Vielmehr gab es ein Rehabilitierungsprogramm in Sierra Leone für die Kindersoldaten (BAMF-Länderinformation Sierra Leone, Mai 2010). Nur in einigen Fällen seien Kinder von den Familien oder Dorfgemeinschaften nicht wieder aufgenommen worden, ansonsten sei die Reintegration der Kinder überwiegend erfolgreich verlaufen. Auch durch die Bevölkerung ist der Kläger als ehemaliger Kindersoldat keiner erheblichen Bedrohung bei einer Rückkehr nach Sierra Leone ausgesetzt. Es ist zum einen bereits nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Sierra Leone fast zwanzig Jahre nach dem Bürgerkrieg und 15 Jahre nach seiner zwischenzeitlichen Rückkehr im Jahr 2006 und der sich hieran anschließenden erneuten Ausreise überhaupt noch wiedererkannt würde. Dass noch gezielt nach dem Kläger gesucht würde, ist weder von ihm vorgetragen noch wahrscheinlich. Schließlich ist bereits nicht bekannt, ob oder wann der Kläger wieder nach Sierra Leone zurückkehrt bzw. ob er überhaupt noch lebt. Vielmehr äußerte der Kläger in der mündlichen Verhandlung, dass er persönlich keine Probleme mit einer Rückkehr nach Sierra Leone hätte. Zudem ist es trotz der geringen Landesgröße Sierra Leones ebenso unwahrscheinlich, dass der Kläger zufällig Opfern oder Angehörigen etwaiger Opfer seiner früheren Taten begegnet, die sich noch an ihm rächen wollen würden. Ebenso ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger bei einer Rückkehr auch ohne konkretindividuellen Bezug auf frühere Taten als ehemaliger Kindersoldat einer Bedrohung durch die Bevölkerung ausgesetzt wäre. Dem Gericht liegen keinerlei Erkenntnisse darüber vor, dass ehemalige Kindersoldaten bzw. Personen, die als ehemalige Kindersoldaten angesehen werden, allgemein Übergriffen durch die Bevölkerung ausgesetzt sind. Im Übrigen ist für das Gericht nicht erkennbar, warum bei einer Rückkehr des Klägers nach Sierra Leone überhaupt ohne weiteres herauskommen sollte, dass der Kläger Kindersoldat gewesen ist.
2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten.
2.1 Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor.
2.1.1 Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Erfasst sind davon nur solche Gefahren‚ die in den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat begründet sind‚ während Gefahren‚ die sich aus der Abschiebung als solcher ergeben‚ nur von der Ausländerbehörde als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis berücksichtigt werden können. Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG liegt eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann sich auch aus der Krankheit eines Ausländers ergeben‚ wenn diese sich im Heimatstaat wegen unzureichender Behandlungsmöglichkeiten verschlimmert. Es ist aber nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist (§ 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG). Es kann sich darüber hinaus trotz an sich verfügbarer medikamentöser und ärztlicher Behandlung aber auch aus sonstigen Umständen im Zielstaat ergeben‚ dass der betroffene Ausländer diese medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann. Denn eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist. In die Beurteilung miteinzubeziehen und bei der Gefahrenprognose zu berücksichtigen sind sämtliche zielstaatsbezogenen Umstände‚ die zu einer Verschlimmerung der Erkrankung führen können. Von einer konkreten Gefahr ist in Krankheitsfällen dann auszugehen, wenn die erhebliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes alsbald nach der Abschiebung in den Zielstaat eintreten würde, weil eine adäquate Behandlung dort nicht möglich ist (vgl. zum Ganzen: BayVGH, U.v. 17.3.2016 – 13a B 16.30007 – juris; BVerwG‚ U.v. 17.10.2006 – 1 C 18.05 – NVwZ 2007, 712).
Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, wie etwa eine unzureichende Versorgungslage, sind hingegen bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist jedoch im Einzelfall Ausländern, die einer gefährdeten Gruppe im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG angehören, für welche aber ein Abschiebestopp nach § 60a Abs. 1 AufenthG oder eine andere Regelung, die vergleichbaren Schutz gewährleistet, nicht besteht, ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Handhabung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zuzusprechen, wenn die Abschiebung wegen einer extremen Gefahrenlage im Zielstaat Verfassungsrecht verletzen würde. Das ist der Fall, wenn der Ausländer gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (st. Rspr. des BVerwG, U.v. 17.10.1995 – 9 C 9/95 – BVerwGE 99, 324/328; U.v. 19.11.1996 – 1 C 6/95 – BVerwGE 102, 249/258 f.; U.v. 8.12.1998 – 9 C 4/98 – BVerwGE 108, 77/80 f.; U.v. 12.7.2001 – 1 C 2/01 – BVerwGE 114, 379/382; U.v. 29.6.2010 – 10 C 10/09 – BVerwGE 137, 226/232 f.). Diese Grundsätze über die Sperrwirkung bei allgemeinen Gefahren und die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise verfassungskonforme Anwendung in den Fällen, in denen dem Betroffenen im Abschiebezielstaat eine extreme zugespitzte Gefahr droht, sind auch für die neue Rechtslage nach dem Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes maßgeblich (vgl. BVerwG, B.v. 23.8.2006 – 1 B 60/06 (1 C 21/06) – juris).
2.1.2 Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe droht dem Kläger keine erheblich konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit.
Der Kläger ist derzeit gesund. Erkrankungen, die der Abschiebung derzeit entgegenstehen hat er nicht glaubhaft vorgetragen; solche sind für das Gericht auch aus den sonstigen Umständen nicht ersichtlich. Die dem Bundesamt klägerseits vorgelegten Atteste und ärztlichen Schreiben vom 5. Mai 2014 (der Asklepios Fachklinik … mit der Diagnose einer regredienten Lungentuberkulose und einem Vitamin D Mangel), 22. Dezember 2014 (von Herr H… mit der Diagnose einer aktiven Lungentuberkulose nach ICD-10: A16.2G), 10. Februar 2015 (von Herr H… mit der Diagnose einer inaktiven Lungentuberkulose nach ICD-10: B90.9G), 9. April 2015 (von Dr. F… mit der Diagnose einer Nävuszellnävus vom Juntionstyp palmoplantarer Lokalisation), 28. Mai 2015 (vom LMU Klinikum mit den Diagnosen Hyperkeratose und Hautmykose) sowie vom 18. August 2015 (von Dr. M… mit der Diagnose einer schwergradigen depressiven Störung) sind veraltet und nicht geeignet den körperlichen und geistigen Zustand des Klägers im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung glaubhaft darzustellen und etwaige in diesem Zeitpunkt bestehende Erkrankungen sowie ihre Schwere und sich hieraus ergebende Folgen für den Kläger nachvollziehbar zu beschreiben. Auch trug der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor, dass er laut seinen Ärzten gesund ist, auch wenn er sich selbst nicht immer zu 100% fit fühlt.
Anhaltspunkte für eine extreme Gefahrenlage für den Kläger sind nach den nachfolgenden Ausführungen zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht ersichtlich. Damit liegt die für eine verfassungskonforme Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderliche hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger alsbald existenzbedrohenden Mangellagen ausgesetzt wäre, nicht vor. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ergibt sich ebenfalls nicht aufgrund der Covid-19-Pandemie. Unabhängig von der Regelung in § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG, wonach es bei allgemeinen Gefahren einer – vorliegend nicht bestehenden – Anordnung nach § 60a Abs. 1 AufenthG bedürfte, wäre der Kläger nicht über das allgemeine Risiko hinaus in besonderer Weise gefährdet, insbesondere nicht derart, dass er „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder Verletzungen ausgeliefert würde“ (vgl. BayVGH, B.v. 24.7.2015 – 9 ZB 14.30457 – juris Rn. 11; OVG NRW, B.v. 17.12.2014 – 11 A 2468/14.A – juris Rn. 14). Bei dem Großteil der Bevölkerung verläuft eine vom Coronavirus verursachte Erkrankung in der Regel eher mild. Ein erhöhtes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf haben ältere Personen und Personen mit Vorerkrankungen, auch wenn schwere Verläufe auch bei Personen ohne bekannte Vorerkrankung auftreten können und auch bei jüngeren Patienten beobachtet wurden (vgl. Steckbrief des RKI, Stand 14.7.2021, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/ Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html). Der Kläger ist gesund und gehört zu keiner Risikogruppe. Eine solche Eigenschaft ist auch weder klägerseits vorgetragen noch aus den Umständen ersichtlich. Der Kläger wäre daher bei einer Rückkehr nicht über das allgemeine Risiko hinaus in besonderer Weise gefährdet. Darüber hinaus wird die Ausländerbehörde etwaige Veränderungen in den humanitären Verhältnissen Sierra Leones vor einer Abschiebung prüfen und ggf. berücksichtigen müssen.
2.2 Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK liegen ebenfalls nicht vor. Es ist nicht erkennbar, dass der Antragsteller bei einer Rückkehr nach Sierra Leone unmenschlichen Verhältnissen i.S.v. Art. 3 EMRK ausgesetzt würde. Es wird dem Kläger trotz der schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Sierra Leone möglich sein, sein Existenzminimum zu sichern. Ein außergewöhnlicher Fall, wonach unter dem allgemeinen Gesichtspunkt schwieriger humanitärer Bedingungen im Herkunftsland von einer Abschiebung entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK „zwingend“ abzusehen wäre, liegt nicht vor.
Sierra Leone gehört trotz seines Rohstoffreichtums zu den ärmsten Ländern der Erde. Nach den Jahren des Bürgerkriegs erholt sich das Land wirtschaftlich nur langsam. Sierra Leone ist eines der am wenigsten entwickelten Länder der Welt. Die Wirtschaft Sierra Leones ist geprägt von der Landwirtschaft (überwiegend kleinbäuerliche Subsistenzwirtschaft) und der Rohstoffgewinnung. Das Land ist mit einem Bruttoinlandsprodukt von ca. 4,2 Milliarden US-Dollar und einem Pro-Kopf-Einkommen von ca. 539,1 US-Dollar (FCDO, Foreign, Commonwealth & Development Office, Economic Factsheet, Stand Oktober 2020) eines der ärmsten Länder der Welt und belegt nach dem Human Development Index von 2019 Rang 181 der 189 untersuchten Länder. Ein Großteil der Bevölkerung (ca. 70%) lebt in absoluter Armut und hat weniger als 1,25 bis 2 US-Dollar pro Tag zur Verfügung; die Arbeitslosenrate im Land ist sehr hoch wobei die Jungendarbeitslosigkeit ein besonderes Problem darstellt (Bertelsmann Stiftung, Bertelsmann Stiftung’s Transformation Index (BTI) 2020 – Sierra Leone Country Report, Gütersloh, Bertelsmann Stiftung, 2020; Westphal in LIPortal, Sierra Leone, Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), Stand Dezember 2020). Staatliche oder nichtstaatliche finanzielle Fördermöglichkeiten wie Sozial- oder Arbeitslosenhilfe existieren nicht. Erwerbslose, Kranke, Behinderte und ältere Menschen sind ganz besonders auf die Unterstützung der traditionellen Großfamilie angewiesen. Auch nichtstaatliche oder internationale Hilfsorganisationen bieten in der Regel keine konkreten Hilfen zum Lebensunterhalt. Die Wirtschaft wird mit etwa 57,4% am Bruttoinlandsprodukt vom landwirtschaftlichen Sektor dominiert; der Dienstleistungssektor trägt mit 32,8% und der Industriesektor mit 5,6% zum Bruttoinlandsprodukt bei (FCDO ebd.). Die Mehrheit versucht mit Gelegenheitsjobs oder als Händler/in ein Auskommen zu erwirtschaften. Die Subsistenzwirtschaft wird in Familien oft parallel oder alternativ genutzt, um den Lebensunterhalt zu sichern (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Sierra Leone, Wien am 4.7.2018). Ungelernten Arbeitslosen gelingt es nur durch Hilfstätigkeiten, Gelegenheitsarbeiten (z.B. im Transportwesen), Kleinhandel (z.B. Verkauf von Obst, Süßigkeiten, Zigaretten) und ähnlichen Tätigkeiten etwas Geld zu verdienen und in bescheidenem Umfang ihren Lebensunterhalt sicher zu stellen (vgl. zu damals noch prekäreren Verhältnissen: OVG NRW, B.v. 6.9.2007 – 11 A 633/05.A – juris Rn 28). Die Lebensumstände in Sierra Leone sind also als äußerst schwierig zu bezeichnen. Man geht aber davon aus, dass sich ein junger, gesunder und arbeitsfähiger Mann in Sierra Leone ein Existenzminimum – wenn auch nur durch Gelegenheitsjobs – erwirtschaften kann. (vgl. VG Regensburg, U.v. 11.02.2019 – RN 14 K 17.3514 – juris). Die medizinische Versorgung ist in Sierra Leone nach wie vor schwierig und es herrscht ein ausgeprägter Mangel an Fachärzten (vgl. BFA Republik Österreich a.a.O.; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Informationszentrum Asyl und Migration, Glossar Islamische Länder – Band 17 Sierra Leone, Mai 2010).
Die aktuelle Covid-19-Pandemie mit den diesbezüglich einhergehenden Einschränkungen steht der obigen Annahme (Rn. 22) nicht entgegen. Das Gericht nimmt in Auswertung der allgemein zugänglichen Erkenntnisquellen zwar durchaus wahr, dass die zeitweilig auch in Sierra Leone verhängten Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie die Personen, die vom Kleinhandel auf der Straße und Gelegenheitsarbeiten leben, besonders trifft. So gibt es Mutmaßungen, dass die eingeschränkten Arbeitsmöglichkeiten für den Teil der Bevölkerung, der die täglichen Einnahmen direkt für Nahrungsmittel ausgibt und über keine finanziellen Ressourcen verfügt, bedrohlicher sein könne als die Infektionsgefahr und sich die Bedingungen der Armut noch einmal verschärft dürften (Westphal in LIPortal, Sierra Leone, Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), Stand Dezember 2020). Inwieweit die nunmehr zurückliegenden Lockdowns in dieser Weise aber erheblich nachwirken, ist nicht ersichtlich. Auch liegen keine Erkenntnisse darüber vor, dass das öffentliche Leben in Sierra Leone derzeit derart eingeschränkt ist, dass es einer erwerbsfähigen Person nicht mehr möglich wäre, bei Rückkehr ihre Existenz mit den elementaren Grundbedürfnissen zu sichern.
Die tatsächlichen individuellen Umstände des Klägers werden es ihm daher ermöglichen, trotz dieser humanitären Verhältnisse in Sierra Leone seinen Lebensunterhalt zu sichern. Zwar verfügt der Kläger über keine Schulbildung. Doch ist er jung, gesund und erwerbsfähig. Er hat Berufserfahrung im Verkauf von in Flaschen abgefüllten Kerosin sowie als Schweißer gesammelt. Er unterliegt in Sierra Leone nach eigenen Aussagen in der mündlichen Verhandlung keinerlei Unterhaltsverpflichtungen und ist mit der Sprache und den Gepflogenheiten des Landes vertraut. In einer Gesamtbetrachtung ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger trotz der schwierigen Lage in Sierra Leone in der Lage sein wird, sich durch die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, mag diese auch nur aus Gelegenheitsarbeiten bestehen, ein Existenzminimum aufzubauen und dauerhaft zu sichern.
Ferner ist es dem Kläger insbesondere zumutbar, Leistungen aus den – überwiegend an die freiwillige Ausreise anknüpfenden – Rückkehrprogrammen wie dem REAG/GARP-Programm in Anspruch zu nehmen. Der Kläger wurde im behördlichen Asylverfahren auch auf die Rückkehrprogramme hingewiesen. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann ein Asylbewerber, der durch eigenes zumutbares Verhalten – wie insbesondere durch freiwillige Rückkehr – im Zielstaat drohende Gefahren abwenden kann, nicht vom Bundesamt die Feststellung eines Abschiebungsverbots verlangen (vgl. BVerwG, U.v. 15.4.1997 – 9 C 38.96 – juris Rn. 27). Derzeit sehen die Rückkehrprogramme für Sierra Leone folgende finanzielle Unterstützungsleistungen: Zahlung von Flug- oder Bustickets, Reisebeihilfen i.H.v. 200,00 EUR pro volljähriger Person und 100,00 EUR pro minderjähriger Person, medizinische Unterstützungen während der Reise sowie im Zielland (maximal 2.000,00 EUR für bis zur drei Monate nach Ankunft) sowie eine einmalige Förderung i.H.v. 1000,00 EUR pro Person bzw. 500,00 EUR pro minderjähriger Person bzw. maximal 3.500,00 EUR pro Familie. Hinzu kommen die Corona-Zusatzzahlung II („2. Starthilfe“) in einem Zeitraum von sechs bis acht Monaten nach der Ausreise i.H.v. 1.500,00 EUR für Einzelpersonen bzw. 3.000,00 EUR für Familien.
2.3 Vorliegend ist auch nicht entsprechend der bundesverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung eine gemeinsame Rückkehrprognose (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45/18 – juris) anzustellen. Eine gemeinsame Rückkehrprognose kommt nur bei einer Kernfamilie – sprich bei einer bestehenden familiären Gemeinschaft zwischen Eltern und ihren minderjährigen Kindern in Betracht (BVerwG, a.a.O. – juris Rn. 18). Soweit der Kläger vorträgt, in Deutschland würde noch seine Tochter leben, ist klägerseits weder hinreichend vorgetragen, noch aus den Akten und Umständen für das Gericht ersichtlich, dass eine familiäre Gemeinschaft zwischen dem Kläger, seiner Tochter oder deren Mutter besteht. Der bloße Verweis auf die Vaterschaft reicht hierfür nicht aus. Vielmehr trägt der Kläger selbst vor, dass zwischen ihm und der Mutter seiner Tochter keine Beziehung mehr besteht. Das bestätigt auch das Protokoll der mündlichen Verhandlung des Amtsgerichts M… vom 3. März 2020. Der Kläger hat auch keinen Kontakt zu seiner Tochter; dieser wird ihm von der Kindsmutter verwehrt. Diese hat sogar zeitweise ein Kontaktverbot gegen den Kläger erwirkt, an welches sich dieser aber nicht zu halten schien (vgl. S. 4. des Protokolls des Amtsgerichts M… vom 3. März 2020 = Bl. 39 der Strafakte … … … … …) In einer Gesamtschau – insbesondere unter Berücksichtigung der von der Staatsanwaltschaft vorgelegten Unterlagen i.V.m. den klägerischen Angaben – vermag das Gericht überhaupt keinen Anhaltspunkt für eine bestehende familiäre Gemeinschaft des Klägers zu seiner Tochter oder deren Kindsmutter zu erkennen. Dass der Kläger seiner Tochter Briefe schreibt, reicht zur Annahme des Bestands einer solchen nicht aus. Es ist davon auszugehen, dass weder die Tochter noch die Kindsmutter mit dem Kläger – bei einer zu erwartenden Rückkehr nach Sierra Leone – gemeinsam Deutschland verlassen würden.
3. Im Übrigen wird auf die Bescheidsbegründung nach § 77 Abs. 2 AsylG, insbesondere hinsichtlich der Ausreisefrist von 30 Tagen und der Abschiebungsandrohung nach §§ 34, 38 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG sowie dem gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG, Bezug genommen.
II. Die Klage ist daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
III. Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung und die Abwendungsbefugnis ergeben sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.