Aktenzeichen 20 ZB 16.30094
Leitsatz
Eine individuelle Verdichtung der Allgemeingefahr zu einer Extremgefahr iSd § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung erfordert nicht, dass im Falle einer Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tage der Abschiebung eintreten müssen; vielmehr kann eine extreme Gefahrenlage auch dann bestehen, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde. (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
Au 2 K 16.30371 2016-04-14 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung ist zulässig, hat in der Sache aber keinen Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe liegen nicht vor bzw. sind schon nicht dargelegt (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG). Der Kläger nimmt zum einen Bezug auf die von seiner Mutter in deren Zulassungsverfahren (Az.: 20 ZB 16.30096) geltend gemachten Gründe. Insoweit kann auf den Beschluss des Senats vom gleichen Tag verwiesen werden, mit dem der Zulassungsantrag der Mutter des Klägers abgelehnt wurde.
Soweit der Kläger eigene Zulassungsgründe geltend macht, führen auch diese nicht zum Erfolg.
1. Der geltend gemachte Zulassungsgrund der Divergenz (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG) wurde nicht in einer den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG entsprechenden Weise dargelegt. Um den Zulassungsgrund der Divergenz darzulegen, muss der Antragsteller nicht nur die Divergenzentscheidung genau benennen, sondern auch darlegen, welcher Rechts- oder Tatsachensatz in dem Urteil des Divergenzgerichts enthalten ist und welcher bei Anwendung derselben Rechtsvorschrift in dem angefochtenen Urteil aufgestellte Rechts- oder Tatsachensatz dazu im Widerspruch steht (Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124a, Rn. 73 m.w.N.).
a) Der Kläger macht zwar geltend, dass die angegriffene Entscheidung von dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. Juni 2008 (BVerwG 10 C 43.07 = BVerwGE 131, 198, juris) abweiche, weil das Verwaltungsgericht die in seiner Person vorliegenden besonderen Umstände unzutreffend bewertet habe. Hätte das Verwaltungsgericht die Ausführungen im o.g. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts beachtet, so hätte es nach der Auffassung des Klägers individuelle gefahrerhöhende Umstände bejahen und ihm deshalb angesichts der Bürgerkriegssituation in Somalia einen Anspruch auf subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG zusprechen müssen. Damit benennt der Kläger jedoch keinen von einem in der o.g. Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten Rechtssatz abweichenden abstrakten Rechtssatz, den das Verwaltungsgericht aufgestellt habe. Dies wäre aber zur Darlegung einer Divergenz erforderlich gewesen. Der Kläger übt vielmehr Kritik an der Sachverhaltsermittlung und Rechtsanwendung des Verwaltungsgerichts im Einzelfall. Der Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) kommt im Asylprozess jedoch nach der abschließenden Sonderregelung des § 78 Abs. 3 AsylG nicht in Betracht.
b) Der Kläger macht des Weiteren eine Abweichung von dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Juli 2000 (BVerwG 9 C 9.00) geltend, weil es bei der Prüfung von Abschiebungsverboten zugunsten des Klägers von einer gemeinsamen Rückkehr mit der Mutter ausgegangen sei. Da der Vater des Klägers niederländischer Staatsangehöriger sei, in Großbritannien lebe und nach den Aussagen der Mutter in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht auch Kontakt zum Kläger unterhalte, stehe die familiäre Bindung einer Rückverbringung des Klägers nach Somalia ohne seinen Vater entgegen. Das Verwaltungsgericht hätte deshalb nach der o.g. Entscheidung bei der Prüfung von Abschiebungsverboten darauf abstellen müssen, dass der Kläger alleine nach Somalia zurückkehre. Damit benennt der Kläger erneut keinen von der o.g. Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts abweichenden abstrakten Rechtssatz, den das Verwaltungsgericht aufgestellt habe. Vielmehr übt er erneut Kritik an der Sachverhaltswürdigung und Rechtsanwendung des Verwaltungsgerichts im Einzelfall und macht damit der Sache nach ernstliche Zweifel geltend.
2. Die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) liegt nicht vor. Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache, wenn für die angefochtene Entscheidung des Verwaltungsgerichts die im Zulassungsantrag dargelegte konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage von Bedeutung war sowie ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten ist – Klärungsfähigkeit – und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist – Klärungsbedürftigkeit (Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124 Rn. 36). Klärungsbedürftig sind nur Fragen, die nicht ohne weiteres aus dem Gesetz zu lösen sind oder durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, des Bundesverwaltungsgerichts oder des Berufungsgerichts geklärt sind (Happ, a.a.O., Rn. 38).
a) Der Kläger hält die Frage für grundsätzlich bedeutsam,
ob es einen allgemeinen Erfahrungssatz des Inhalts gibt, dass die Familie einer mit (mehreren) nicht-ehelichen Kindern zurückkehrenden somalischen Mutter bereit ist, die Verantwortung für ein männliches Kind dieser Mutter zu übernehmen, wenn der Kindsvater in Großbritannien lebt und die niederländische Staatsangehörigkeit besitzt, oder ob die Familie nicht darauf verweist, dass – nach somalischer Sitte – der Vater für dessen Sohn verantwortlich ist und deshalb jegliche Unterstützung ablehnt.
Dieser Frage kommt keine über den Einzelfall hinausreichende Bedeutung zu, weil sie sich einer abstrakten Klärung in einem Berufungsverfahren entzieht. Sie zielt vielmehr auf die Feststellung einer konkreten und erheblichen Gefahr für Leib und Leben bzw. einer individuellen Verdichtung der Allgemeingefahr zu einer Extremgefahr i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (ggf. in verfassungskonformer Auslegung) in der Person des Klägers ab. Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Wann allgemeine Gefahren im Falle des Fehlens einer politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG – wie hier – zu einem Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG i.V.m. den Grundrechten aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab. Die drohenden Gefahren müssen nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Diese Gefahren müssen dem Kläger mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Nach diesem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad muss eine Abschiebung dann ausgesetzt werden, wenn der Kläger ansonsten „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde“ (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2001 – 1 C 5.01 – BVerwGE 115, 1 m.w.N. = juris). Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Kläger mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. zu alldem BVerwG, U.v. 29.9.2011 – 10 C 24.10 – BVerwGE 137, 226 = juris). Des Weiteren kann sich ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG wegen individueller Gefahren auch aus der Gefahr ergeben, dass sich eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Krankheit eines ausreisepflichtigen Ausländers durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde (§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG i.d.F. des Art. 2 Nr. 1 des Gesetzes zur Beschleunigung von Asylverfahren vom 11. März 2016 – BGBl. I S. 390, in Kraft getreten am 12.3.2016 – AufenthG n.F.). Unter den vorgenannten Voraussetzungen kann sich eine krankheitsbedingte zielstaatsbezogene Gefahr daraus ergeben, dass die Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat der Abschiebung unzureichend sind (BVerwG, U.v. 17.10.2006 – 1 C 18/05 – NVwZ 2007, 12 ff.) oder im Einzelfall auch daraus, dass der erkrankte Ausländer eine an sich im Zielstaat verfügbare medizinische Behandlung tatsächlich nicht erlangen kann. Dies kann zum einen der Fall sein, wenn im Herkunftsstaat des Ausländers eine notwendige ärztliche Behandlung oder Medikation für die betreffende Krankheit wegen des geringen Versorgungsstandards generell nicht verfügbar ist. Zum anderen kann sich ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot trotz an sich verfügbarer medikamentöser und ärztlicher Behandlung auch aus sonstigen Umständen im Zielstaat ergeben, die dazu führen, dass der betreffende Ausländer diese medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann, z.B. wenn eine notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (BVerwG, U.v. 29.10.2002 – 1 C 1/02 – DVBl. 2003, 463).
Diese Feststellungen bedürfen neben einem glaubhaften Vortrag, dem Nachweis eventueller gesundheitlicher Störungen durch qualifizierte ärztliche Atteste auch der umfassenden Würdigung der Lage im Herkunftsland, insbesondere ggf. der medizinischen Versorgung, sowie der individuellen Umstände des Asylantragstellers. Dieser Tatsachenfeststellungs-, Subsumtions- und Wertungsvorgang ist der Rechtsanwendung des Gerichts im Einzelfall überlassen; seine Überprüfung hingegen ist keine Aufgabe des Berufungsgerichts im Rahmen einer Grundsatzrüge. Im Übrigen hat das Verwaltungsgericht im Verfahren der Mutter des Klägers geprüft und ausführlich unter Heranziehung einschlägiger Erkenntnismittel und Würdigung der individuellen Umstände der Klägerin begründet (s. UA S. 13/15 im Verfahren Au 2 K 15.30699), weshalb diese im Falle ihrer Rückkehr nicht mangels ausreichender Lebensgrundlage dem baldigen Hungertod ausgeliefert wäre. Insbesondere hat es ausgeführt, dass die Mutter des Klägers den Schutz ihrer (Groß-)Familie bzw. ihres Clans in Anspruch nehmen könnte. Diese Einschätzung hat das Verwaltungsgericht im vorliegenden Verfahren auf den Kläger übertragen, und zwar unter Berücksichtigung der vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen über eine bei ihm diagnostizierte Anpassungsstörung, Störung sozialer Funktionen sowie schweren expressiven und rezeptiven Sprachstörung. Es hat dabei maßgeblich darauf abgestellt, dass aus den vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen nicht ansatzweise ersichtlich sei, dass der Kläger im Falle einer Abschiebung alsbald schwerste Gesundheitsschäden zu besorgen habe. Auch diese Feststellungen obliegen der tatrichterlichen Beweiswürdigung im Einzelfalle und sind daher einer grundsätzlichen Überprüfung nicht zugänglich.
b) Des Weiteren hält der Kläger die Frage für grundsätzlich bedeutsam,
ob der im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 27.07.00 (BVerwG 9 C 9.00) aufgestellte Grundsatz auch auf andere Fallkonstellationen, wie hier die, dass der leibliche Vater die Unionsbürgerschaft hat und familiären Kontakt zum Kind unterhält, zu übertragen ist.
Diese Frage würde sich in einem Berufungsverfahren nicht entscheidungserheblich stellen, weil sie das Vorliegen innerstaatlicher Vollstreckungshindernisse nach Art. 6 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 EMRK betrifft. Die Trennung der Familie im Falle einer Abschiebung ist daher nicht im asylgerichtlichen Verfahren durch das Verwaltungsgericht und ggf. den Verwaltungsgerichtshof, sondern von der Ausländerbehörde nach § 60a AufenthG unter dem Gesichtspunkt zu prüfen, ob der Durchführung der Abschiebung rechtliche Hindernisse entgegenstehen (BVerwG, U.v. 21.9.1999 – 9 C 12.99 – juris Rn. 13 ff.). Auch mittelbare trennungsbedingte Gefahren im Zielstaat der Abschiebung wären von der Ausländerbehörde zu prüfen (BVerwG, U.v. 21.9.1999 – 9 C 12.99 – juris Rn. 9 ff.; U.v. 27.7.2000 – 9 C 9.00 – juris Rn. 11). Zwar darf ein Ausländer nach § 60 Abs. 5 AufenthG nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Über diese Norm werden die Schutzregeln der EMRK in innerstaatliches Recht inkorporiert. Sowohl aus der Systematik als auch der Entstehungsgeschichte folgt jedoch, dass es insoweit nur um zielstaatsbezogenen Abschiebungsschutz geht (vgl. BVerwG, U.v. 13.6.2013 – 10 C 13.12 – juris Rn. 24).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 83b AsylG.
Mit dieser Entscheidung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).