Verwaltungsrecht

Keine Wahrscheinlichkeit der Verfolgung in Sierra Leone

Aktenzeichen  M 30 K 17.41654

Datum:
27.7.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 24840
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 3e, § 4
AufenthG § 11, § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
EMRK Art. 3
RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4

 

Leitsatz

1. Ein Ausländer muss die persönlichen Umstände seiner Verfolgung und Furcht vor einer Rückkehr hinreichend substantiiert, detailliert und widerspruchsfrei vortragen damit keine Zweifel an der Glaubhaftigkeit seines Vortrags bestehen. (Rn. 21 – 27) (redaktioneller Leitsatz)
2. Auch unter Berücksichtigung der schwierigen humanitären und wirtschaftlichen Bedingungen in Sierra Leone besteht kein Abschiebungsverbot, wenn das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass der Ausländer an seine bisherige erfolgreiche berufliche Tätigkeit anzuknüpfen und sich entsprechend in die sierraleonische Gesellschaft zu reintegrieren vermag. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamtes für … vom 10. Mai 2017 – Gesch.Z.: … wird in Nr. 6 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist hinsichtlich der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots begründet (1.). Im Übrigen ist die ablehnende Entscheidung des Bundesamtes vom 10. Mai 2017 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Anerkennung als Asylberechtigte i.S.v. Art. 16a GG, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß §§ 3 ff. AsylG oder des subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG. Ebenso sind zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG) keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich einer Rückkehr der Klägerin nach Sierra Leone begründet. Der Klage ist daher insoweit unbegründet (2.-4.).
1. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 AufenthG auf 30 Monate in Nr. 6 des streitgegenständlichen Bescheids ist zum maßgeblichen Zeitpunkt ermessensfehlerhaft und daher auf den vollumfänglich erhobenen Aufhebungsantrag in Nr. 1 der Klage hin aufzuheben sowie die Beklagte verpflichtet, hierüber neu zu entscheiden.
Dabei kann dahinstehen, dass nach der seit dem 21. August 2019 geltenden Gesetzesfassung des § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen ist und nicht bereits kraft Gesetzes gilt. Die in Nr. 6 des Bescheids enthaltene Formulierung kann als ein solcher Erlass eines Einreise- und Aufenthaltsverbots ausgelegt werden (vgl. BVerwG, U.v. 25.7.2017 – 1 C 10.17 – juris Rn 23). Dahinstehen kann letztlich auch, ob – insbesondere nach der Gesetzesänderung zum 21. August 2019 – bezüglich der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht die Anfechtungsklage gegenüber der Verpflichtungsklage statthaft und ausreichend ist (vgl. hierzu u.a. VG Karlsruhe, U.v. 22.8.2019 – A 19 K 1718/17 – juris m.w.N.).
Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist nach § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG zu befristen und über die Länge der Frist nach § 11 Abs. 3 AufenthG nach Ermessen zu entscheiden. Das Gericht hat daher nach § 114 VwGO auch zu überprüfen, ob das Bundesamt die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer nicht zweckgemäßen Weise Gebrauch gemacht hat.
Die Beklagte hat im Bescheid des Bundesamtes in ihrer Ermessensausübung zur Fristfestsetzung jegliche Berücksichtigung und Auseinandersetzung mit der Tochter der Klägerin und deren Stand bzw. Ausgang des Asylverfahrens, insbesondere aber mit dem des Kindsvaters und Lebensgefährten der Klägerin unterlassen. Nachdem dieser aufgrund Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG durch Bescheid vom 22. März 2019 derzeit nach Aktenlage einerseits nicht ausreisepflichtig ist, andererseits zusammen mit seiner Tochter und der Klägerin eine Familie bildet, hätte dies Berücksichtigung finden müssen.
Die Beklagte ist daher verpflichtet, über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots neu zu entscheiden.
2. Im Übrigen ist die Klage unbegründet. Die Voraussetzungen für die Anerkennung der Klägerin als Asylberechtigte, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutzes liegen nicht vor.
a) Die Anerkennung der Klägerin als Asylberechtigte scheitert gemäß Art. 16a Abs. 2 GG bereits an der Einreise der Klägerin in die Bundesrepublik Deutschland auf dem Landweg über Italien und die Schweiz.
b) Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Eine Verfolgung kann dabei gem. § 3c AsylG ausgehen von einem Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die zuvor genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Weiter darf für den Ausländer keine innerstaatliche Fluchtalternative bestehen, § 3e AsylG, deren Inanspruchnahme zumutbar ist.
Subsidiärer Schutz ist einem Ausländer zuzuerkennen, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Die §§ 3c bis 3e AsylG gelten entsprechend (§ 4 Abs. 3 AsylG).
Für die Prognose, die bei der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft (sowie bei der des subsidiären Schutzes) anzustellen ist, ist der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen. Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei zusammenfassender Würdigung des zur Prüfung stehenden Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris Rn. 32). Die Tatsache, dass ein Drittstaatsangehöriger bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist gem. Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Betroffene erneut von solcher Verfolgung bedroht wird.
Hinsichtlich einer individuellen Verfolgung oder Bedrohung muss das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit erlangen. Angesichts des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich ein Ausländer insbesondere hinsichtlich individueller Gründe für einen asylrechtlichen Schutzstatus befindet, kommt dabei dem persönlichen Vorbringen und dessen Würdigung für die Überzeugungsbildung eine gesteigerte Bedeutung zu. Dabei obliegt es dem Ausländer, gegenüber dem Tatsachengericht einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, der geeignet ist, das Schutzbegehren lückenlos zu tragen. Der Ausländer muss die persönlichen Umstände seiner Verfolgung und Furcht vor einer Rückkehr hinreichend substantiiert, detailliert und widerspruchsfrei vortragen; er muss kohärente und plausible wirklichkeitsnahe Angaben machen (vgl. BVerwG, B.v. 21.7.1989 – 9 B 239/89 – NVwZ 1990, 171; BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109/84 – NVwZ 1985, 658; BVerwG, U.v. 8.5.1984 – 9 C 141/83 – juris Rn. 11). Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag kann dem Asylsuchenden in der Regel nur bei einer überzeugenden Auflösung der Unstimmigkeiten geglaubt werden (vgl. BVerwG, B.v. 21.7.1989 – 9 B 239/89 – NVwZ 1990, 171; BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109/84 – NVwZ 1985, 658).
c) In Anwendung dieser Maßstäbe liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß §§ 3 ff AsylG oder des subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG bei der Klägerin nicht vor.
(1) Dabei kann dahinstehen, dass bereits Zweifel an der Glaubhaftigkeit des klägerischen Vortrags bestehen.
Während die Klägerin gegenüber der Regierung von Oberbayern angab, sich ca. ein Jahr bis zur Ausreise in Freetown – mit ihrer älteren Schwester – aufgehalten zu haben, argumentierte sie im Verfahren ihrer Tochter, die ganze Zeit umhergezogen zu sein. Letzteres ist als unglaubhafte Schutzbehauptung gegenüber dem Vorhalt einer inländischen Fluchtalternative im Verfahren der Klägerin zu werten. Auch die Angaben über den Verbleib der älteren Schwester in Freetown bzw. in Kono erscheinen nicht widerspruchsfrei. Auf die Nachfragen bei der Anhörung beim Bundesamt am 31. Oktober 2016 wird insoweit Bezug genommen. Warum die Klägerin zudem von der Bondo Society gesucht werden soll, um – nach über drei unbehelligten Jahren – Anführerin im Ort zu werden, erschließt sich nicht, zumal es eine ältere und insoweit an sich vorrangige Schwester gibt und keine Verwandtschaftsposition zur bisherigen Anführerin dargelegt wurde. Das Ansinnen von Bondo erscheint auch insoweit fraglich, als die Klägerin mit ihrer Schwester schließlich der Society durch Abbrennen der Hütte Schaden zugefügt hat.
(2) Aus dem klägerischen Vortrag ergibt sich schon nicht, dass der Klägerin bei Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungshandlung durch die Bondo Society oder ihre Verwandtschaft droht. Schließlich blieb die Klägerin ihrem Vortrag zufolge nach dem Abbrennen der Bondo Hütte über drei Jahre unbehelligt von der Society. Dass sie nun viele Jahre später ernsthafte Probleme mit der Bondo Society sollte, ist nicht beachtlich wahrscheinlich. Schließlich hatte die klägerseits vorgetragene Begegnung auf dem Markt zwischen der Klägerin und Vertreterinnen der Society im Jahre 2015 keine unmittelbaren flüchtlingsschutzrechtlich beachtlichen Folgen. Gleiches gilt auch auf ein Ansinnen ihrer Verwandten, soweit die Klägerin darauf verwies, dass Tanten Beschneiderinnen seien und sie immer noch beschneiden wollten. Ihrer Schwester gegenüber wurde dies zumindest bislang durchgesetzt.
(3) Jedenfalls hat das Bundesamt die Klägerin zutreffend auf eine inländische Fluchtalternative i.S.v. §§ 3e, 4 Abs. 3 AsylG verwiesen. Schließlich blieb nicht nur die Klägerin über drei Jahre selber unbehelligt, sondern vor allem auch die ältere Schwester in Kono. In der Anhörung beim Bundesamt gab die Klägerin an, ihre Schwester sei in Kono sicher, da dies so weit weg sei. Auf die zutreffenden Ausführungen im Bescheid des Bundesamtes wird daher Bezug genommen, § 77 Abs. 2 AsylG. Soweit die Klägerin in der mündlichen Verhandlung von einem Telefonat mit ihrer Schwester berichtet hat, wonach diese von Bondo erkannt und angesprochen worden sei, ist dies als gegenüber den Angaben beim Bundesamt gesteigerter Vortrag und nicht glaubhafte Schutzbehauptung zu bewerten, zumal dies erst nach Vorhalt der inländischen Fluchtalternative und durch „wenig offene“ Fragestellung des Klägerbevollmächtigten erfolgte. Der Vorhalt des Klägerbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung nicht präzisen Fragen zur Verfolgungsdichte beim Bundesamt verfängt nicht, nachdem in der Anhörung beim Bundesamt gerade deutlich vorgehalten und nachgefragt wurde, wieso die Schwester nicht das Land verlassen habe und der Platz in Kono für die Schwester sicher sei, aber nicht für die Klägerin. Auch bei der Anhörung im Verfahren der Tochter machte die Klägerin hier keine detaillierten anderweitigen Angaben. Vielmehr erklärte sie, sie wisse nicht, wie es ihre Schwester mache, der Beschneidung zu entgehen.
(4) Die Inanspruchnahme der inländischen Fluchtalternative – fern ab von ihrer Verwandtschaft – in Kono oder einer anderen größeren Stadt Sierra Leones ist auch zumutbar. Der Klägerin wird es dort gelingen, ihren Lebensunterhalt hinreichend zu sichern (siehe hierzu nachfolgend).
3. Eine Abschiebung der Klägerin mit ihrer Familie nach Sierra Leone wird die Klägerin nicht in unmenschliche, existenzgefährdende Umstände bringen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK begründet wäre.
a) Dies gilt auch unter Berücksichtigung der schwierigen humanitären und wirtschaftlichen Bedingungen in Sierra Leone.
Sierra Leone gehört zu den ärmsten Staaten der Erde und belegt nach dem Human Development Index von 2017 Rang 184 der 189 untersuchten Länder. Ein Großteil der Bevölkerung (ca. 77%) lebt in absoluter Armut und hat weniger als 2 US-Dollar pro Tag zur Verfügung (vgl. Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ): LIPortal – Länder-Informations-Portal – Sierra Leone – Stand November 2018 (LIPortal); BFA Republik Österreich: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Sierra Leone, 3.5.2017). Die Nachwirkungen des Bürgerkrieges, die weit verbreitete Korruption und die unzureichend ausgebaute Infrastruktur beeinflussen die wirtschaftliche Lage in Sierra Leone (vgl. LIPortal). Die Arbeitslosigkeit im Land ist sehr hoch (Bertelsmann Stiftung, Bertelsmann Stiftung’s Transformation Index (BTI) 2016 – Sierra Leone Country Report, Gütersloh, Bertelsmann Stiftung, 2016; BFA Republik Österreich a.a.O.). Es wird geschätzt, dass ungefähr zwei Drittel der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig sind (vgl. LIPortal; BFA Republik Österreich a.a.O.; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Informationszentrum Asyl und Migration, Glossar Islamische Länder – Band 17 Sierra Leone, Mai 2010). Die Mehrheit der Bevölkerung versucht zudem mit Gelegenheitsjobs oder Handel ein Auskommen zu erwirtschaften. Dabei wird die Subsistenzwirtschaft in Familien oft parallel oder alternativ genutzt, um den Lebensunterhalt zu sichern (LIPortal; BFA Republik Österreich a.a.O.). Die medizinische Versorgung ist in Sierra Leone nach wie vor schwierig und es herrscht ein ausgeprägter Mangel an Fachärzten (vgl. BFA Republik Österreich a.a.O.; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Informationszentrum Asyl und Migration, Glossar Islamische Länder – Band 17 Sierra Leone, Mai 2010).
b) Die gesunde, voll erwerbsfähige und noch junge Klägerin kann jedoch nicht nur auf eine überdurchschnittliche Schulbildung von elf Jahren zurückblicken, sondern insbesondere auf eine erfolgreiche berufliche Tätigkeit in Sierra Leone mit dem Aufbau eines selbständigen Getränkeverkaufs und sodann Kleiderhandels. Hierzu hat die Klägerin beim Bundesamt und gegenüber dem Gericht, insbesondere in der mündlichen Verhandlung und mit Stellungnahmen im Anschluss an diese substantiiert ausgeführt. Mit ihren damaligen – für die Verhältnisse in Sierra Leone mit monatlich ca. 1.000.000 Leons jedenfalls mehr als durchschnittlichem – Einkommen war es der Klägerin möglich, sich und ihre Tochter zu ernähren. Warum es der Klägerin bei Rückkehr nach Sierra Leone nunmehr nicht gelingen soll, an ihre bisherige erfolgreiche berufliche Tätigkeit anzuknüpfen und sich entsprechend in die sierraleonische Gesellschaft zu reintegrieren, vermag das Gericht zu erkennen. Dabei legt das Gericht – den obigen Ausführungen folgend – zugrunde, dass die Klägerin in den größeren Städten, insbesondere auch in Kono, unbehelligt von der Bondo Society wird leben können. Soweit die Klägerin in ihren schriftlichen Ausführungen den Einnahmen von 1.000.000 Leons Ausgaben für Miete von monatlich 100.000 Leons, Schulgeld von etwa 50.000 Leons – wobei es Internetmeldungen zufolge Bestrebungen des Präsidenten Maada Bio für kostenfreie Grundschulbesuche geben soll -, Essen von 450.000 bis 600.000 Leons und Wasser von 155.000 Leons gegenüberstellt, steht dies der Annahme einer hinreichenden Lebensunterhaltssicherung nicht entgegen.
c) Zudem kann die Klägerin bei Rückkehr durchaus auf soziale Unterstützung finden. Mag die Klägerin auch nicht in den Kreis ihrer Großfamilie (väterlicherseits) mit entsprechendem Einfluss etwaigen Tanten, die Beschneiderinnen bei der Bondo Society seien, zurückkehren können, so könnte die Klägerin jedoch durch ihren Bruder …, mit dem sie in Freetown auch nach dem Vorfall mit der Bondo Society zusammenlebte, ihre ältere Schwester …, die in Kono über Jahre unbehelligt von Bondo lebt und bislang nicht beschnitten ist, sowie ihre Cousine, bei der die erste Tochter der Klägerin aufwächst und die diese bislang vor einer Beschneidung bewahrt hat, Unterstützung erfahren. Diese Unterstützung mag aufgrund deren finanzieller Verhältnisse nicht in finanzieller Hinsicht ausfallen, jedoch zumindest eine erste Anlaufstelle und Unterstützung bei der Suche nach Wohnung, Arbeit etc. oder der Kinderbetreuung darstellen. Auch in der Großfamilie mütterlicherseits, die nach klägerischen Angaben in der Anhörung im Verfahren der Tochter kritisch Beschneidungen gegenübersteht, könnte die Klägerin und ihre Familie – zeitweilig – soziale Unterstützung suchen und finden.
d) Die Annahme, dass die Klägerin bei Rückkehr ihre Existenz und ihren Lebensunterhalt hinreichend wird sichern können, entfällt zudem auch nicht, wenn eine gemeinsame Rückkehr mit der Tochter und ggf. auch ihres Lebensgefährten zugrunde gelegt wird.
Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45/18 – juris) ist vorliegend bei einer realitätsnahen, aber hypothetischen Rückkehrprognose anzunehmen, dass die Klägerin nach Sierra Leone zusammen mit ihrer Tochter … und dem Vater der Tochter, ihrem Lebensgefährten, mit dem sie ihren Angaben in der mündlichen Verhandlung nach zusammenleben würde und ein weiteres gemeinsames Kind erwarte, zurückkehren würde. So ist im Regelfall davon auszugehen, dass eine im Bundesgebiet in familiärer Gemeinschaft lebende Kernfamilie (Eltern und minderjährige Kinder) im Familienverband in ihr Herkunftsland zurückkehrt (BVerwG, a.a.O.).
(1) Eine etwaige Bedrohung der Tochter … durch die Tanten der Klägerin oder die Bondo Society oder die Familie des Kindsvaters in Bezug auf eine Beschneidung ist im Asylverfahren der Tochter, nicht aber ohne weiteres im Rahmen der Prüfung des § 60 Abs. 5 AufenthG bei der Klägerin entscheidungserheblich. Dass der ggf. erforderliche Schutz der Tochter vor der Bondo Society oder den Tanten der Klägerin zu einer – vorliegend nur zu prüfenden – Existenzgefährdung der Klägerin führen wird, vermag das Gericht nicht zu erkennen. Diesbezüglich gelten die obigen Ausführungen zur Klägerin entsprechend.
(2) Der Lebensgefährte der Klägerin hat zwar in seinem Asylverfahren die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erhalten, dies steht einer Einbeziehung in die Rückkehrprognose jedoch nicht entgegen. Der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts folgend gilt die o.g. realitätsnahe, wenngleich notwendig hypothetische Rückkehrprognose auch dann, wenn einzelnen Mitgliedern der Kernfamilie bereits ein Schutzstatus zuerkannt oder für sie nationaler Abschiebungsschutz festgestellt worden ist (BVerwG, a.a.O. Rn. 15, 19 ff.).
Allein aus der Feststellung eines Abschiebungsverbots eines Familienmitglieds ergibt sich jedoch in Folge nicht ein Abschiebungsverbot für alle weiteren Familienmitglieder. Vielmehr bedarf es einer differenzierten Betrachtungsweise.
Selbst wenn nur von einer eingeschränkten Arbeitsfähigkeit bei … … aufgrund der vorgelegten Atteste ausgegangen wird, kann er durch Übernahme der Kinderbetreuung zur Existenzsicherung der Familie beitragen und der Klägerin eine volle Erwerbstätigkeit ermöglichen. Dadurch wäre zudem das Risiko, dass die Bondo Society auf die in Deutschland geborene … „aufmerksam“ wird, erheblich reduziert, als wenn diese die Mutter bei ihrer Erwerbstätigkeit z.B. auf dem Markt etc. begleiten müsste. Zutreffend hat das Bundesamt auch darauf verwiesen, dass … … gelernter Friseur sei und diese Tätigkeit trotz der attestierten Einschränkung der Arbeitsfähigkeit zumutbar sein dürfte. Insofern geht das Gericht davon aus, dass er durchaus für den Fall, dass die Einnahmen der Klägerin knapp für die Lebensunterhaltssicherung wären, auch einen gewissen, wenngleich finanziellen Beitrag durch eingeschränkte Arbeitstätigkeit wird leisten können.
Nachdem der Lebensgefährte in Bezug auf seine Deltavirus-Erkrankung keine Medikation (mehr) erhält, so laut Attest vom 26. November 2019, und eine antiretrovirale Therapie von Hepatitis B hingegen in Sierra Leone kostengünstig erhältlich ist, wird die Existenzsicherung ebenfalls nicht unzumutbar erschwert. Nach einer Auskunft der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Accra vom 23. Februar 2015 an das Bundesamt können bei einer Hepatitis B-Erkrankung Leberwerte in Sierra Leone kontrolliert werden, wobei die Kosten wahrscheinlich nicht sehr hoch seien. Nach einer weiteren Auskunft der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Accra vom 26. September 2017 an das Bundesamt wäre sogar die Behandlung von Hepatitis B in Sierra Leone möglich. Die Medikamente müssten teilweise importiert werden. Medikamente zur Behandlung von Hepatitis seien in Sierra Leone vorhanden und nach dortigen Maßstäben eher preisgünstig. Der Erwerb solcher Medikamente stelle insofern keine außergewöhnliche Belastung dar.
(3) Soweit die Klägerin in der mündlichen Verhandlung angegeben hat, ein weiteres Kind zu erwarten, steht dies den voranstehenden Annahmen und Ausführungen nicht entgegen.
4. Anhaltspunkte für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG auf grund besonderer individueller Umstände in der Situation der Klägerin, insbesondere gesundheitlicher Art, sind vorliegend weder vorgetragen noch ersichtlich.
Die Klage ist daher mit Ausnahme bezüglich der Befristungsentscheidung mit der Kostenfolge des § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO abzuweisen. Das Obsiegen fällt gegenüber dem Unterliegen kaum ins Gewicht und stellt daher einen geringen Teil i.S.v. § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO dar. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung und die Abwendungsbefugnis ergeben sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordung (ZPO).

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