Aktenzeichen Au 6 K 17.33838
Leitsatz
1. Kurdische Volkszugehörige unterliegen in der Türkei zwar einer gewissen Diskriminierung; es fehlt aber jedenfalls an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen kritischen Verfolgungsdichte. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2. In der Westtürkei steht Kurden trotz der auch dort problematischen Sicherheitslage und der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen eine inländische Fluchtalternative offen. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kläger haben die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu je einem Drittel zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Die Klage ist unbegründet. Die Kläger haben zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte, auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzes oder auf Feststellung, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG vorliegt. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes ist daher rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz VwGO). Es wird Bezug genommen auf die Gründe des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
I.
Die Kläger haben keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine Verfolgung i. S. des § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationale Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“), der demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25/10 – juris) entspricht.
Es ist Sache des Schutzsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
1. Die Kläger haben keine staatliche Verfolgung aus politischen Gründen in der Türkei als Individualverfolgung geltend gemacht.
Die Klägerin zu 1 hat bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung keine fluchtrelevanten individuell an sie oder ihre Kinder gerichteten staatlichen Verfolgungsmaßnahmen geschildert, sondern lediglich darauf verwiesen, dass ihr Ehemann beschlossen habe, wegen seiner Probleme die Türkei zu verlassen. Die Kläger des hiesigen Verfahrens, insbesondere die Klägerin zu 1, standen nie im Fokus der türkischen Behörden, es gab kein Ermittlungsverfahren gegen sie, sie waren politisch nicht aktiv und konnten die Türkei nach dem Putschversuch mit echten Reisepässen auf dem Luftweg verlassen. Verfolgungsmaßnahmen des türkischen Staates sind nicht ersichtlich. Auch der Ehemann der Klägerin zu 1 steht nicht im landesweiten Fokus der Sicherheitsbehörden, insofern wird auf die Feststellungen im streitgegenständlichen Bescheid des Parallelverfahrens Au 6 K 17.33838, der zum Gegenstand dieses Verfahrens gemacht wurde, verwiesen.
2. Die Kläger haben keine Verfolgung allein wegen ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden zu befürchten.
Die Annahme einer Gruppenverfolgung setzt voraus, dass entweder sichere Anhaltspunkte für ein an asylerhebliche Merkmale anknüpfendes staatliches Verfolgungsprogramm oder für eine bestimmte Verfolgungsdichte vorliegen, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht.
Kurdische Volkszugehörige zählen etwa 13 Mio. bis 15 Mio. Menschen auf dem Gebiet der Türkei und stellen noch vor Kaukasiern und Roma die größte Minderheit in der Bevölkerung der Türkei (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.8.2018, S. 15 – im Folgenden: Lagebericht); sie unterliegen demnach aufgrund ihrer Abstammung keinen staatlichen Repressionen, zumal aus den Ausweispapieren in der Regel – sofern keine spezifisch kurdischen Vornamen geführt werden – nicht hervorgeht, ob ein türkischer Staatsbürger kurdischer Abstammung ist (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 15). Der private Gebrauch der in der Türkei gesprochenen kurdischen Sprachen Kurmandschi und des weniger verbreiteten Zaza ist in Wort und Schrift keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt. Unterricht in kurdischer Sprache an öffentlichen Schulen war bis 2012 nicht erlaubt und wurde seither stufenweise bei entsprechender Nachfrage erlaubt; Dörfer im Südosten können ihre kurdischen Namen zurückerhalten. Die verfassungsrechtliche Festschreibung von Türkisch als einziger Nationalsprache bleibt jedoch erhalten und erschwert die Inanspruchnahme öffentlicher Dienstleistungen durch Kurden und Angehörige anderer Minderheiten, für die Türkisch nicht Muttersprache ist (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 15; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 68). Seit der Verhängung des Notstands aber hat sich die Lage verändert: Zwei Drittel der per Notstandsdekret geschlossenen Medien sind kurdische Zeitungen, Onlineportale, Radio- und Fernsehsender, darunter auch IMC TV und die Tageszeitung „Özgür Gündem“ unter dem Vorwurf, „Sprachrohr der PKK“ zu sein (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 15).
Kurdische Volkszugehörige unterliegen damit in der Türkei zwar einer gewissen Diskriminierung. Es fehlt aber jedenfalls an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen kritischen Verfolgungsdichte (vgl. zur Gruppenverfolgung BVerfG, B.v. 23.1.1991 – 2 BvR 902/85, 2 BvR 515/89, 2 BvR 1827/89 – BVerfGE 83, 216 m.w.N.; BVerwG, B.v. 24.2.2015 – 1 B 31/14 – juris). Das Gericht geht aufgrund der vorliegenden und ins Verfahren eingeführten Erkenntnismittel davon aus, dass eine Verfolgung kurdischer türkischer Staatsangehöriger jedenfalls nicht die von der Rechtsprechung verlangte Verfolgungsdichte aufweist, die zu einer Gruppenverfolgung und damit der Verfolgung eines jeden Mitglieds führt (im Ergebnis wie hier VG Aachen, U.v. 5.3.2018 – 6 K 3554/17.A – juris Rn. 51 m.w.N.). Unabhängig davon steht Kurden in der Westtürkei trotz der auch dort problematischen Sicherheitslage und der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen eine inländische Fluchtalternative offen (vgl. SächsOVG, U.v. 7.4.2016 – 3 A 557/13.A; BayVGH, B.v. 22.9.2015 – 9 ZB 14.30399, alle juris). Sie können den Wohnort innerhalb des Landes wechseln und so insbesondere in Ballungsräumen in der Westtürkei eine in der Südosttürkei auf Grund der gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und PKK etwa höhere Gefährdung verringern. Keine Ausweichmöglichkeiten hingegen bestehen, soweit eine Person Ziel behördlicher oder justizieller Maßnahmen wird, da die türkischen Sicherheitskräfte auf das gesamte Staatsgebiet Zugriff haben (Lagebericht ebenda S. 24). Die Kläger stehen indes nicht im landesweiten Fokus behördlicher Maßnahmen (s.o.).
3. Die Kläger haben bei einer Rückkehr in die Türkei keine staatlich geduldete Verfolgung durch den Kläger des Parallelverfahrens oder durch seine Verwandten zu befürchten.
Die Klägerin zu 1 gab in der mündlichen Verhandlung insofern an, seit September 2018 lebe sie von ihrem Ehemann getrennt und beabsichtige die Scheidung, auch wenn sie hierfür noch keine konkreten Schritte getroffen habe. Sie werde nicht gemeinsam mit ihrem Ehemann in die Türkei zurückkehren. Sie habe in der Familie ihres Mannes viel Gewalt erlebt; seine Schwester habe sie geschlagen und einmal auch ihr Schwiegervater. Für ihren Ehemann sei sie eine Sexsklavin gewesen; er habe sie immer wieder vergewaltigt und gegen ihren Willen mit ihr geschlafen. Außerdem habe ihr Mann sie sowohl in der Türkei als auch in Deutschland geschlagen und gewürgt. Die Kinder schlage er nicht, allenfalls kneife er sie manchmal fest in den Arm. In der Türkei habe sie keine Möglichkeit für eine Scheidung gesehen, da sie nirgends alleine habe hingehen können und eine Scheidung der Tradition widerspreche. Auch ihre Familie, der sie nur von den Schlägen erzählt habe, unterstütze sie nicht und meine, sie müsse wegen der Kinder ausharren. Zu einer Schwester in der Türkei habe sie guten Kontakt, diese schweige aber zu dem Thema. Einem ihrer Brüder, der sie zu einer Versöhnung mit ihrem Mann habe bewegen wollen, habe sie von der Vergewaltigung erzählt, daraufhin habe er den Kopf gesenkt, geschwiegen und ihr seitdem nicht mehr gesagt, sie müsse zu ihrem Mann zurückkehren. Sie beabsichtige nun, nicht mehr auf ihre Eltern zu hören und sich einen Anwalt zu nehmen; sie habe ihren Mann auch angezeigt und man habe ihn in eine andere Asylbewerberunterkunft verlegt. Seit der Trennung und dem Umzug ihres Mannes habe sie keinen Kontakt mehr zu ihrem Ehemann; auch unmittelbar vor der mündlichen Verhandlung im Wartebereich des Gerichts habe sie nicht mit ihm gesprochen. Sie habe ihn aber vor der Schule öfters gesehen, weil er gegen ihren Willen versucht habe, die Kinder dort abzuholen und die Schule sie informiert habe. Ihr Mann habe ihr vor der Schule gedroht, er werde sie umbringen, wenn sie die Anzeige gegen ihn nicht zurücknehme. Wenn die Familie ihres Ehemannes von der Anzeige erfahre, sei sie in großer Gefahr; zwar sei ihr Schwiegervater inzwischen verstorben, aber ihr Ehemann habe noch Onkel in der Türkei.
a) Den Klägern zu 2 und zu 3 droht nach den Ausführungen der Klägerin zu 1 schon keine Misshandlung durch ihren Vater oder dessen Verwandte.
Die Klägerin zu 1 gab insoweit an, die Kinder würden vom Vater nicht geschlagen, auch von Schlägen der Verwandten berichtete die Klägerin zu 1 nicht.
Insoweit ist eine Misshandlung der Kläger zu 2 und zu 3 nicht beachtlich wahrscheinlich.
b) Für eine Verfolgung der Klägerin zu 1 bestehen ebenfalls keine Anhaltspunkte, denn zum einen handelt es sich bei ihrem Ehemann und dessen Verwandten nicht um Verfolger mit Territorialhoheit im Sinne des § 3c AsylG, zum anderen ist der türkische Staat grundsätzlich schutzwillig und schutzfähig gegenüber bedrohten Frauen (dazu sogleich), weswegen die Klägerin zu 1 nach § 3d AsylG staatlichen Schutz in Anspruch nehmen kann. Eine staatliche Verfolgung, eine Anknüpfung an Verfolgungsmerkmale oder sonst eine unmittelbar dem Staat zurechenbare Versagung von Schutz ist nicht erkennbar.
Insbesondere ist von der Schutzwilligkeit und Schutzfähigkeit des türkischen Staates gegen kriminelles Unrecht auszugehen. Insoweit gilt, dass der Schutz vor Verfolgung wirksam sein muss und nicht nur vorübergehender Art sein darf. Generell ist ein solcher Schutz gewährleistet, wenn der Staat geeignete Schritte einleitet, um die Verfolgung zu verhindern, insbesondere durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat (vgl. § 3d Abs. 2 AsylG). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.
Der türkische Staat wurde von der Klägerin zu 1 aber vor ihrer Ausreise gar nicht um Schutz angegangen und hatte daher weder Anlass noch Möglichkeiten, ihr Schutz zu gewähren. Von einem Unterlassen kann daher mangels Handlungsoption keine Rede sein.
Bekannt ist, dass der Schutz von Frauen vor Gewaltdelikten in der Türkei noch große Defizite aufweist. Mit einem im März 2012 verabschiedeten Gesetz zum Schutz von Frauen und Familienangehörigen vor häuslicher Gewalt haben nun zwar auch unverheiratete Frauen Anspruch auf staatlichen Schutz. Insgesamt bleiben jedoch die praktische Umsetzung der gesetzlichen Regelungen lückenhaft und die Zufluchtsmöglichkeiten für von Gewalt betroffene Frauen etwa in staatlichen Frauenhäusern ungenügend (vgl. Lagebericht ebenda S. 19; zu Zwangsverheiratungen und „Ehrenmorden“ S. 21 f.):
Das Heiratsalter ist im Jahr 2002 gesetzlich auf 17 Jahre für beide Geschlechter festgelegt worden (mit richterlichem Beschluss und Zustimmung der Eltern 16 Jahre). Diese Vorschrift wird allerdings häufig durch eine von einem Imam vollzogene, amtlich nicht anerkannte Trauung umgangen. Nach Angaben des türkischen Amts für Statistik ist der Prozentsatz der 16- bis 19-jährigen Frauen bei zivilen Eheschließungen zwischen 2006 und 2013 von 28% auf 24% gesunken. Einer Ende 2014 veröffentlichten Studie der Hacettepe-Universität zufolge wurden 3,3% der heute 20- bis 49-jährigen Frauen in der Türkei im Alter von unter 15 Jahren verheiratet, 20,8% vor ihrem 18. Geburtstag. Nichtregierungsorganisationen kritisieren, dass das Alter von minderjährigen Mädchen zunehmend nach oben „korrigiert“ werde, um eine zivile Heirat zu ermöglichen (vgl. Lagebericht ebenda S. 21).
In der Türkei kommt es immer noch zu so genannten „Ehrenmorden“, d. h. insbesondere zur Ermordung von Frauen oder Mädchen, die eines sog. „schamlosen Verhaltens“ aufgrund einer (sexuellen) Beziehung vor der Eheschließung bzw. eines „Verbrechens in der Ehe“ verdächtigt werden. Dies schließt auch vergewaltigte Frauen ein. Auch Männer werden – vor allem im Rahmen von Familienfehden (Blutrache) – Opfer von sog. „Ehrenmorden“, z. T. weil sie „schamlose Beziehungen“ zu Frauen eingehen bzw. sich weigern, die Ehre der Familie wiederherzustellen. Zu diesen Morden gibt es keine offiziellen statistischen Angaben; sie wurden seit 2008, als das Amt für Menschenrechte für das Jahr 2007 183 „Ehrenmorde“ an Frauen registrierte, nicht weitergeführt. Dem Anfang 2007 veröffentlichten Bericht einer „Ehrenmord“-Kommission des Parlaments zufolge kam es in den Jahren 2001 bis 2006 zu 1.190 sog. „Ehrenmorden“ und Blutrachedelikten, davon 710 an Männern und 480 an Frauen/Mädchen. Mädchen, die aufgrund einer Vergewaltigung ihre Jungfräulichkeit verloren haben, sind oft unmittelbar bedroht (vgl. Lagebericht ebenda S. 22).
Das Gesetz sieht die Bestrafung sexueller Übergriffe, inklusive Vergewaltigung in der Ehe, vor. Bei versuchtem sexuellen Missbrauch ist eine Gefängnisstrafe von zwei bis zehn Jahren vorgesehen und bei Vergewaltigung oder tatsächlichem sexuellen Missbrauch nicht weniger als zwölf Jahre Haft. In einigen Fällen hat die Regierung die entsprechenden Gesetze effektiv bzw. zur Gänze zum Schutz der Opfer umgesetzt, in Bezug auf die Verfolgung von Gewaltdelikten gegen Frauen bestehen aber weiter große Defizite (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 71).
Nach den letzten verfügbaren Angaben des Generaldirektorats für Frauenstatusfragen sind 2007 und 2008 insgesamt 1.985 Frauen infolge häuslicher Gewalt gestorben. Polizeilich erfasst wurden im Zeitraum Februar 2010 bis August 2011 rund 80.000 Fälle häuslicher Gewalt. NROs gehen jedoch grundsätzlich davon aus, dass sich nur eine von acht Frauen bei häuslicher Gewalt überhaupt an Außenstehende wendet. Eine im Januar 2009 vom Generaldirektorat veröffentlichte Studie zu Gewalt an Frauen in der Familie kommt zu dem Schluss, dass jede fünfte Frau ab 15 Jahren von körperlicher Gewalt und jede dritte von sexuellen Übergriffen betroffen ist. Jede siebte Frau gab zudem an, als Kind (unter 15) sexuell missbraucht worden zu sein (vgl. Lagebericht ebenda S. 22). Die generell bei Gewalt gegen Frauen steigenden Zahlen der letzten Jahre können ein Hinweis sein, dass mehr Straftaten bekannt und verfolgt werden bzw. Frauen eher bereit sind, Hilfe von außen in Anspruch zu nehmen (vgl. Lagebericht ebenda S. 19 f.). Diese Tendenz wird auch durch belastbare Aussagen des Menschenrechtsvereins İnsan Hakları Derneği (IHD) gestützt (vgl. Lagebericht ebenda S. 21 f.; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 71 ff.). Dies zeigt, dass türkische Strafverfolgungsbehörden solche Delikte vermehrt verfolgen und der türkische Staat im Rahmen seiner Möglichkeiten Schutz gewährt. Dass die Problematik der „Ehrenmorde“, bzw. Gewalttaten im häuslichen Bereich öffentlich wahrgenommen werden, zeigt auch die Einrichtung einer „Ehrenmord“-Kommission im türkischen Parlament.
Regierung und Nichtregierungsorganisationen bestätigen, dass sich die Polizeiarbeit beim Umgang mit Gewaltopfern verbessert hat. Dennoch wurde Erhebungen türkischer Frauen-NROs zufolge 2011 73% der um staatlichen Schutz bittenden Frauen die Unterstützung verwehrt. Eine im Juli 2012 vorgestellte Studie des türkischen Innenministeriums bestätigt, dass Behörden und Polizei auf kommunaler Ebene häufig nur unzureichend über die ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zum Schutz von Opfern häuslicher Gewalt informiert sind. Nach der Verabschiedung des oben erwähnten Gesetzes zum Schutz von Frauen und Familienangehörigen vor häuslicher Gewalt arbeiten das Familienministerium und andere staatliche Einrichtungen deshalb zurzeit verstärkt an der praktischen Umsetzung der gesetzlichen Regelungen insbesondere mit Hilfe von Fortbildungen für Angehörige der Justiz und Sicherheitskräfte, aber auch in Schulen und Moscheen. Seit 2005 müssen Kommunen mit mehr als 50.000 Einwohnern, soweit es ihre finanzielle Kapazität erlaubt, Frauenhäuser einrichten. Tatsächlich existieren nach Angaben des türkischen Familienministeriums Ende 2017 insgesamt 137 staatliche Frauenhäuser mit einer Kapazität von insgesamt 3.443 Plätzen. Nach Aussage staatlicher Stellen stehen diese Einrichtungen auch Rückkehrern zur Verfügung (vgl. Lagebericht ebenda S. 22). So hätten darüber hinaus im Bereich der häuslichen Gewalt dem türkischen Innenministerium zufolge im Jahr 2016 annähernd 42.000 Frauen unter zeitweiligen staatlichen Schutz gestanden (hurriyetdaylnews; 20 women killed despite state protection: Turkish Interior Ministry; 15.3.2017, http://www…com/20-women-killed-despite-state-protection-turkish-interior-ministry-110831; Abruf vom 22.1.2019). Dass gleichzeitig in den Jahren 2015 bis 2017 20 Frauen getötet wurden, die unter staatlichen Schutz gestanden hätten, steht der grundsätzlichen Schutzfähigkeit nicht entgegen. Ein lückenloser Schutz ist nicht zu fordern und könnte auch in Deutschland nicht gewährleistet werden. Die Forderung nach einem derart absoluten staatlichen Schutz würde schon allgemein an einer wirklichkeitsnahen Einschätzung der Effizienz staatlicher Eingriffsmöglichkeiten vorbeigehen (BVerwG, U.v. 2.8.1983 – 9 C 818/81 – BVerwGE 67, 317-320 Rn. 12). Zumal nach den Angaben des türkischen Innenministeriums diese Frauen, die sich wegen ernsthafter Bedrohung ihres Lebens durch Männer unter Schutz befunden hätten, getötet worden seien, bevor sie die Polizei hätten benachrichtigen können, da sich die Taten unvermittelt ereignet hätten (hurriyetdaylnews; 20 women killed despite state protection: Turkish Interior Ministry; a.a.O.).
Insoweit ist die Klägerin zu 1 zunächst auf diese Möglichkeiten staatlichen Schutzes zu verweisen, die sie bisher nicht beantragt bzw. beansprucht hat. Insbesondere ist sie gehalten, sich um die Aufnahme in einem Frauenhaus bzw. um die Aufnahme in staatliche Schutzprogramme zu bemühen sowie ihren Ehemann strafrechtlich zu verfolgen und ein Scheidungs- und Sorgerechtsverfahren anzustrengen. Dass die türkischen Behörden im Fall der Klägerin zu 1 nicht schutzwillig und schutzfähig wären, ist hier nicht ersichtlich.
II.
Nach all dem kommen auch die Anerkennung als Asylberechtigte und die Zuerkennung subsidiären Schutzes nicht in Betracht. Es wird vollumfänglich auf die obigen Ausführungen verwiesen.
III.
Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen ebenfalls nicht vor.
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.
Das Gericht ist davon überzeugt, dass die Kläger sowie das weitere Kind der Klägerin zu 1 ihren Lebensunterhalt in der Türkei auch ohne Unterstützung durch den Ehemann und Kindsvater sicherstellen können. Auch wenn hierfür mehr zu fordern ist als ein kümmerliches Einkommen zur Finanzierung eines Lebens am Rande des Existenzminimums (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris Rn. 20), ist doch vernünftigerweise zu erwarten, dass die Kläger ihren Lebensunterhalt in der Türkei sicherstellen.
Die Grundversorgung und die medizinische Versorgung sind nach Überzeugung des Gerichts für Rückkehrer in der Türkei jedenfalls im Umfang des absoluten Existenzminimums gesichert.
In der Türkei gibt es zwar keine mit dem deutschen Recht vergleichbare staatliche Sozialhilfe. Sozialleistungen für Bedürftige werden aber über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität gewährt und von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftungen für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind. Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Eine neu eingeführte Datenbank vernetzt Stiftungen und staatliche Institutionen, um Leistungsmissbrauch entgegenzuwirken. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besonderen Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder Volksküchen. Die Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt. Darüber hinaus existieren weitere soziale Einrichtungen, die ihre eigenen Sozialhilfeprogramme haben (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.8.2018, S. 29 f. – im Folgenden: Lagebericht).
Die medizinische Versorgung durch das staatliche Gesundheitssystem hat sich in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert, vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite vor allem in ländlichen Provinzen bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet. Landesweit gab es im Jahr 2016 1.510 Krankenhäuser mit einer Kapazität von 217.771 Betten, davon ca. 58% in staatlicher Hand. Die Behandlung bleibt für die bei der staatlichen Krankenversicherung Versicherten mit Ausnahme der „Praxisgebühr“ unentgeltlich. Grundsätzlich können sämtliche Erkrankungen in staatlichen Krankenhäusern angemessen behandelt werden, insbesondere auch chronische Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, Aids, Drogenabhängigkeit und psychiatrische Erkrankungen. Wartezeiten in den staatlichen Krankenhäusern liegen bei wichtigen Behandlungen/Operationen in der Regel nicht über 48 Stunden. In vielen staatlichen Krankenhäusern ist es jedoch (nach wie vor) üblich, dass Pflegeleistungen nicht durch Krankenhauspersonal, sondern durch Familienangehörige und Freunde übernommen werden. Durch die zahlreichen Entlassungen nach dem gescheiterten Putschversuch, von denen auch der Gesundheitssektor betroffen ist, kommt es nach Medienberichten gelegentlich zu Verzögerungen bei der Bereitstellung medizinischer Dienstleistungen (vgl. Lagebericht ebenda S. 27). Psychiater praktizieren und zwölf psychiatrische Fachkliniken mit einer Bettenkapazität von rund 4.400 standen im Jahr 2011 zur Verfügung, weitere Betten gibt es in besonderen Fachabteilungen einiger Regionalkrankenhäuser. Auch sind therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige vorhanden (vgl. Lagebericht ebenda S. 27; zur Behandlung psychischer Erkrankungen auch S. 30 f.).
Zum 1. Januar 2012 hat die Türkei eine allgemeine, obligatorische Krankenversicherung eingeführt für alle Personen mit Wohnsitz in der Türkei mit Ausnahmen u.a. für Soldaten/Wehrdienstleistende und Häftlinge. Die obligatorische Krankenversicherung erfasst u. a. Leistungen zur Gesundheitsprävention, stationäre und ambulante Behandlungen und Operationen, Laboruntersuchungen, zahnärztliche Heilbehandlungen sowie Medikamente, Heil- und Hilfsmittel. Unter bestimmten Voraussetzungen sind auch Behandlungen im Ausland möglich. Nicht der Sozialversicherungspflicht unterfallende türkische Staatsbürger mit einem Einkommen von weniger als einem Drittel des Mindestlohns können von der Beitragspflicht befreit werden. Bei einem Einkommen zwischen einem Drittel und dem doppelten Mindestlohn gelten ermäßigte Beitragssätze. Bis Mitte des Jahres 2014 haben sich rund 12 Mio. Türken einer solchen Einkommensüberprüfung unterzogen, für rund 8 Mio. von ihnen hat der Staat die Zahlung der Beiträge übernommen (vgl. Lagebericht ebenda S. 31).
Die für eine gesundheitliche Versorgung mittelloser türkischer Staatsbürger bisher geltenden „Grünen Karten“ (2011: knapp 9 Millionen Inhaber) sind ausgelaufen, ihre Inhaber sollen in die allgemeine Krankenversicherung überwechseln. Für Kinder bis zum Alter von 18 bzw. 25 Jahren, Ehepartner und (Schwieger-)Elternteile ohne eigenes Einkommen besteht die Möglichkeit einer Familienversicherung. Besondere Beitragsregelungen gelten schließlich auch für Bezieher von Alters- und Erwerbsminderungsrenten (vgl. Lagebericht ebenda S. 31).
Im Anbetracht der Auskunftslage ist daher davon auszugehen, dass die Kläger und das weitere Kind der Klägerin zu 1 unter Zuhilfenahme staatlicher Unterstützung in zumutbarer Weise ihren Lebensunterhalt in der Türkei werden sichern können. Zusätzlicher Schutz z.B. in Frauenhäusern ist kapazitätsmäßig in den städtisch geprägten Siedlungsregionen der Westtürkei auch eher erreichbar als im kurdisch dominierten und traditionell geprägten Südosten der Türkei (vgl. oben).
IV.
Auch die Abschiebungsandrohung in Ziffer 5 des Bescheids nach § 34 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG begegnet keinen rechtlichen Bedenken.
V.
Nachdem sich auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG als rechtmäßig erweist, war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.