Aktenzeichen Au 7 S 17.30386
VwGO VwGO § 80 Abs. 5
Leitsatz
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 30. Januar 2017 (Az.: Au 7 K 17.30385) gegen die Abschiebungsandrohung in Ziffer 3 des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 23. Januar 2017 wird angeordnet.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Antragsgegnerin zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
I.
Der Antragsteller, nach eigenen Angaben nigerianischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Abschiebungsandrohung wegen Einstellung seines Asylverfahrens.
1. Der im Jahr 1992 geborene Antragsteller, der keine Ausweisdokumente vorlegte, reiste im Juli 2015 illegal in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 26. April 2016 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (nachfolgend: Bundesamt) einen Asylantrag.
Bei seiner Anhörung zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates für die Durchführung des Asylverfahrens am 26. April 2016 in der Sprache Englisch trug er im Wesentlichen vor, er habe sein Herkunftsland im Mai 2015 verlassen und sei über Niger (2 Tage), Libyen (3 Wochen) und Italien (1 Woche) nach Deutschland gereist.
Unter dem Datum 26. April 2016 bestätigte der Antragsteller mit seiner Unterschrift, dass er die „Belehrung für Erstantragsteller über Mitwirkungspflichten und Allgemeine Verfahrenshinweise (Überschrift: „Wichtige Mitteilung“) in deutscher und englischer Sprache erhalten und den Inhalt verstanden habe.
Mit Schreiben vom 25. Oktober 2016, verschickt per Postzustellungsurkunde, wurde der Antragsteller zur persönlichen Anhörung am 18. November 2016 um 9.00 Uhr in … geladen. Das Schreiben enthielt in einem Kasten folgenden Hinweis:
„Ich weise Sie ausdrücklich darauf hin, dass Ihr Asylantrag nach § 33 Abs. 2 Nr. 1 AsylG als zurückgenommen gilt, wenn Sie zu diesem Termin nicht erscheinen. Dies gilt nicht, wenn Sie unverzüglich nachweisen, dass Ihr Nichterscheinen auf Hinderungsgründe zurückzuführen war, auf die Sie keinen Einfluss hatten. Im Falle einer Verhinderung durch Krankheit müssen Sie unverzüglich die Reise- und/oder Verhandlungsunfähigkeit durch ein ärztliches Attest nachweisen, eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung genügt nicht. Wenn Sie bei der Krankenkasse als arbeitsunfähig gemeldet sind, müssen Sie dieser die Ladung zum Termin unverzüglich mitteilen. Können Sie dem Bundesamt kein Nachweis über die Hinderungsgründe vorlegen, entscheidet das Bundesamt ohne weitere Anhörung nach Aktenlage, ob Abschiebungsverbote vorliegen.“
Das Ladungsschreiben war an den Antragsteller mit der Adresse „… Str., …“ adressiert. Diese Adresse war dem Bundesamt von der Unterkunftsleitung mitgeteilt worden.
Am 2. November 2016 ging beim Bundesamt die Postzustellungsurkunde (PZU) ein. Auf der ersten Seite der PZU ist vom Zusteller das Kästchen angekreuzt „Adressat unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln“. Unter dem Datum „27.10.2016“ steht die Unterschrift des Zustellers.
2. Mit Bescheid vom 23. Januar 2017, adressiert an den Antragsteller unter der Adresse „… Str., …“, stellte das Bundesamt fest, dass der Asylantrag als zurückgenommen gelte, das Asylverfahren eingestellt sei (Ziffer 1) und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Ziffer 2). Unter Setzung einer Ausreisefrist von einer Woche wurde dem Antragsteller die Abschiebung nach Nigeria angedroht (Ziffer 3). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß 3 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4).
Der Bescheid wurde laut Aktenvermerk am 23. Januar 2017 als Einschreiben zur Post gegeben.
3. Am 30. Januar 2017 wurde hiergegen Klage erhoben mit dem Ziel der Aufhebung des Bescheids. Zudem wurde beantragt, dem Kläger Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wobei die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers nicht vorgelegt wurde. Die Klage wird unter dem Aktenzeichen Au 7 K 17.30385 geführt.
Gleichzeitig wurde beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 23. Januar 2017 anzuordnen.
Zur Begründung wurde u.a. vorgetragen, dass der Antragsteller ein Ladungsschreiben zum Anhörungstermin am 18. November 2016 nicht erhalten habe. Mit Schriftsatz vom 7. Februar 2017 vertieften die Bevollmächtigten des Antragstellers ihr Vorbringen.
4. Für die Antragsgegnerin legte das Bundesamt unter dem 2. Februar 2017 die Akten vor, äußerte sich aber nicht zur Sache.
5. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichts- und vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO hat auch in der Sache Erfolg.
1. Der Antrag ist zulässig.
Insbesondere besteht vorliegend ein Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers.
Der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz richtet sich zum einen auf eine Klage, die entsprechend der ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung:, fristgemäß innerhalb der gemäß § 74 Abs. 1 Halbs. 1 AsylG maßgeblichen Zweiwochenfrist erhoben wurde (vgl. VG Berlin, B.v. 19.8.2016 – 6 L 417.16 A – juris Rn. 7; VG Köln, B.v. 12.7.2016 – 3 L 1544/16.A – juris Rn. 18-20; B.v. 19.5.2016 – 3 L 1060/16.A – juris Rn. 18-20). Die auf eine Woche verkürzte Klagefrist gemäß § 74 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG gilt im vorliegenden Fall nicht; der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist nicht innerhalb einer Woche zu stellen, da es für die Einstellung des Verfahrens an einer § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG und § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG entsprechenden Regelung fehlt (vgl. VG Minden, B.v. 26.7.2016 – 10 L 1078/16.A – juris Rn. 13).
Zum anderen besteht ein Rechtsschutzbedürfnis auch trotz des Umstands, dass der Antragsteller einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß § 33 Abs. 5 Satz 2 AsylG stellen könnte. Ein Wegfall des Rechtsschutzinteresses kann dem Vorgehen gegen einen den Adressaten belastenden Verwaltungsakt nur unter besonderen Umständen entgegengehalten werden. Das Interesse an gerichtlichem Rechtsschutz kann in der hier inmitten stehenden Fallkonstellation erst dann entfallen, wenn das mit dem Rechtsschutzbegehren verfolgte Ziel durch ein gleich geeignetes, keine anderweitigen rechtlichen Nachteile mit sich bringendes behördliches Verfahren ebenso erreicht werden kann wie in dem angestrebten gerichtlichen Verfahren. Hingegen reicht es nicht, wenn der Gesetzgeber die Möglichkeit eröffnet, einen Antrag an die zuständige Behörde zu stellen, der andere Rechtsfolgen als eine gerichtliche Aufhebung des belastenden Verwaltungsakts zeitigt (vgl. BVerwGE 91, 217/219 ff.). Nach diesen Grundsätzen kann vorliegend nicht von einem Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses ausgegangen werden, wenn, wie es der Wortlaut des § 33 Abs. 5 Satz 6 Nr. 2 AsylG zumindest nahe legt, die erste Wiederaufnahmeentscheidung nach § 33 Abs. 5 Satz 2 AsylG ein späteres erneutes Wiederaufnahmebegehren selbst dann sperrt, wenn die erste Verfahrenseinstellung nach § 33 Abs. 5 Satz 1 AsylG rechtswidrig gewesen ist. In einer solchen Fallgestaltung verstößt es gegen das in Art. 19 Abs. 4 GG normierte Gebot des effektiven Rechtsschutzes, das Rechtsschutzbedürfnis für eine Anfechtungsklage und einen Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO zu verneinen (siehe zum Ganzen: BVerfG, B.v. 20.7.2016 – 2 BvR 1385/16 – juris Rn. 8; VG Dresden, U.v. 22.8.2016 – 11 K 1061/16.A – juris Rn. 15; VG Berlin, B.v. 19.8.2016 – 6 L 417.16 A – juris Rn. 8; VG Freiburg, B.v. 12.8.2016 – A 3 K 1639/16 – juris Rn. 2; VG Regensburg, B.v. 19.7.2016 – RO 11 S. 16.31399 – juris Rn. 13; VG Köln, B.v. 12.7.2016 – 3 L 1544/16.A – juris Rn. 17-37; B.v. 19.5.2016 – 3 L 1060/16.A – juris Rn. 17-37; a.A. noch VG Augsburg, B.v. 30.5.2016 – Au 3 S. 16.30616; VG Ansbach, B.v. 29.4.2016 – AN 4 S. 16.30410 – juris; VG Regensburg, B.v. 18.4.2016 – RO 9 S. 16.30620 – juris).
2. Der Antrag ist auch begründet.
a) Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage im Fall des vorliegend aus § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG folgenden gesetzlichen Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung ganz oder teilweise anordnen.
Bei der Entscheidung über den vorliegenden Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO hat das Gericht eine eigenständige Abwägung der widerstreitenden Interessen vorzunehmen. Hierbei ist insbesondere auf die Erfolgsaussichten in der Hauptsache abzustellen. Ist die Klage in der Hauptsache im Rahmen einer summarischen Prüfung offensichtlich erfolgreich, kann kein überwiegendes öffentliches Interesse am Vollzug eines rechtwidrigen Bescheides bestehen. Andererseits kann der Antragsteller kein schutzwürdiges privates Interesse daran haben, von der Vollziehung eines offensichtlich rechtmäßigen Verwaltungsakts verschont zu bleiben. Insoweit ist eine summarische Prüfung der Rechtslage geboten, aber auch ausreichend.
Der Maßstab des § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG, nach dem die Aussetzung der Abschiebung nur angeordnet werden darf, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen, ist vorliegend nicht anwendbar; denn § 36 AsylG gilt ausweislich seiner amtlichen Überschrift nur bei Unzulässigkeit nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 und 4 AsylG und bei offensichtlicher Unbegründetheit, nicht jedoch im Fall der vorliegenden Einstellung nach § 33 AsylG. § 38 Abs. 2 AsylG hingegen enthält keine § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG entsprechende Regelung (vgl. VG Minden, B.v. 26.7.2016 – 10 L 1078/16.A – juris Rn. 33-35).
b) Unter Berücksichtigung obiger Vorgaben und Grundsätze überwiegt vorliegend das private Interesse des Antragstellers daran, von der Vollziehung des offensichtlich rechtswidrigen Verwaltungsakts verschont zu bleiben. Die Klage wird höchstwahrscheinlich erfolgreich sein. Denn die angegriffene Abschiebungsandrohung des Bundesamts erweist sich bei summarischer Prüfung als rechtswidrig und verletzt den Antragsteller daher in seinen Rechten. Die Voraussetzungen für den Erlass einer Abschiebungsandrohung nach § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG liegen nicht vor, da sich die Feststellung des Bundesamts, dass der Asylantrag als zurückgenommen gilt und das Asylverfahren eingestellt sei, als rechtswidrig erweist.
Gemäß § 33 Abs. 5 Satz 1 AsylG stellt das Bundesamt das Asylverfahren ein, wenn der Asylantrag nach § 33 Abs. 1 AsylG als zurückgenommen gilt, weil der Ausländer das Verfahren nicht betreibt. Nach § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 AsylG wird vermutet, dass der Ausländer das Verfahren nicht betreibt, wenn er einer Aufforderung zur Anhörung gemäß § 25 AsylG nicht nachgekommen ist und nicht unverzüglich nachweist, dass das Versäumnis auf Umstände zurückzuführen war, auf die er keinen Einfluss hatte.
Das Eingreifen der Fiktion der Rücknahme des Asylantrags wegen Nichtbetreibens nach § 33 Abs. 1 AsylG setzt wegen der damit verbundenen weitreichenden Konsequenzen voraus, dass der Ausländer gemäß § 33 Abs. 4 AsylG schriftlich und gegen Empfangsbestätigung speziell auf diese Rechtsfolgen hingewiesen wurde.
Im vorliegenden Fall kann dem Antragsteller ein Nichtbetreiben des Verfahrens nicht vorgeworfen werden, da er die Ladung zum Anhörungstermin erwiesenermaßen nicht erhalten hat.
Bereits aus der in der Bundesamtsakte befindlichen Postzustellungsurkunde ist klar ersichtlich, dass die Ladung zum Anhörungstermin (Schreiben des Bundesamts vom 25.10.2016) den Antragsteller nicht erreicht hat. Denn der Zusteller hat auf der Postzustellungsurkunde das Kästchen „Adressat unter der angegeben Adresse nicht zu ermitteln“ angekreuzt. Der Fehler der nicht erfolgten Zustellung dürfte der Post und nicht etwa dem Antragsteller zuzurechnen sein, da die Adressierung (… Str., …) korrekt war und auch der Adresse entspricht, an die der streitgegenständliche Bescheid versandt wurde; den Bescheid hat der Antragsteller auch auf dem Postweg erhalten. Zudem wird der Antragsteller auch im gerichtlichen Verfahren (Klage- und Antragsverfahren) unter der Adresse „… Str., …“ geführt.
Damit hätte das Bundesamt bereits bei Erlass des Bescheids bei Ausübung der erforderlichen Sorgfalt (Sichtung der in den Akten befindlichen Postzustellungsurkunde) feststellen können bzw. müssen, dass die Versäumung des Anhörungstermins dem Antragsteller nicht anzulasten ist und von einem Nichtbetreiben des Verfahrens nicht ausgegangen werden kann.
Die Klage gegen den Bescheid vom 23. Januar 2017 wird somit aller Voraussicht nach erfolgreich sein, was dem Aussetzungsinteresse des Antragstellers höheres Gewicht verschafft.
Hinzu kommt, dass das Interesse des Antragstellers an der Anordnung des Sofortvollzugs hier auch deshalb relativ schwerwiegend ist, weil er im Falle des Vollzugs der Abschiebungsandrohung das Asylverfahren in Deutschland nur unter erschwerten Bedingungen zu Ende zu bringen könnte, auch wenn er anwaltlich vertreten ist.
Demgegenüber muss das Interesse am sofortigen Vollzug des mit hoher Wahrscheinlichkeit rechtswidrigen Bescheids zurückstehen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).