Verwaltungsrecht

Kostenerstattung für das betreute Einzelwohnen von Mutter und Kind wegen seelischer Behinderung der Mutter

Aktenzeichen  M 18 K 14.5601

Datum:
4.5.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB X SGB X § 104
SGB VIII SGB VIII § 10 Abs. 4 S. 1, § 19, § 31

 

Leitsatz

§ 10 Abs. 4 SGB VIII regelt, dass grundsätzlich Leistungen nach dem SGB VIII denen nach dem SGB XII vorgehen, der Jugendhilfeträger also gegenüber dem Sozialhilfeträger vorrangig verpflichtet ist. Eine Abweichung von diesem Grundsatz, d.h. eine vorrangige Leistungsverpflichtung des Sozialhilfeträgers besteht dann, wenn der leistungsberechtigte junge Mensch körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht ist. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die für die Leistungsberechtigte … in der Zeit vom 26. Februar 2014 bis 30. Juni 2015 erbrachten Sozialhilfeaufwendungen in Höhe von 12.950,20 EUR zu erstatten.
II.
Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die zulässige Klage ist auch begründet.
Dem Beklagten steht für seine Aufwendungen für die Hilfeempfängerin …. im Zeitraum vom … Februar 2014 bis … Juni 2015 ein Kostenerstattungsanspruch nach § 104 Abs. 1 SGB X in Höhe von 12.950,20 € zu.
Gemäß § 104 SGB X ist in den Fällen, in denen ein nachrangig verpflichteter Sozialleistungsträger Sozialleistungen erbracht hat, ohne dass die Voraussetzungen von § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen, der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, soweit der Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat.
Der Erstattungsanspruch setzt voraus, dass Leistungspflichten (mindestens) zweier Träger nebeneinander bestehen und miteinander konkurrieren, wobei die Verpflichtung des Einen der Leistungspflicht des Anderen vorgehen muss (BVerwG vom 9. Februar 2012 – 5 C 3/11). Nachrangig verpflichtet ist ein Leistungsträger, soweit er bei rechtzeitiger Leistung des Anderen nicht selbst zur Leistung verpflichtet gewesen wäre (§ 104 Abs. 1 Satz 2 SGB X).
Für Anspruchskongruenzen wie sie hier gegeben sind, regelt § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII, dass grundsätzlich Leistungen nach dem SGB VIII denen nach dem SGB XII vorgehen, der Jugendhilfeträger also gegenüber dem Sozialhilfeträger vorrangig verpflichtet ist. Eine Abweichung von diesem Grundsatz, d. h. eine vorrangige Leistungsverpflichtung des Sozialhilfeträgers besteht nach § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII dann, wenn ein junger Mensch als Leistungsberechtigter körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht ist.
Vorliegend hatte die Hilfeempfängerin aufgrund ihrer seelischen Behinderung für die geleistete Hilfe sowohl einen Anspruch auf eine Leistung gegen den beklagten Jugendhilfeträger wie auch dem Grunde nach gegen den Kläger als Sozialhilfeträger, da gemäß § 53 Abs. 1 Satz 1, § 54 SGB XII i. V. m. § 55 Abs. 1 und 2 SGB IX ein Anspruch auf Eingliederungshilfe nicht nur bei einer körperlichen und geistigen, sondern auch bei einer seelischen Behinderung besteht. Nach § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII erhalten Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalls, vor allem nach Art und Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Soweit der Zweck der Eingliederungshilfe – nämlich insbesondere, den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern (§ 53 Abs. 3 Satz 2 SGB XII), – durch die Unterbringung eines behinderten Elternteils in einer Mutter-Kind-Einrichtung oder einer vergleichbaren Maßnahme erfüllt und ein entsprechender Bedarf für eine gemeinsame Betreuung mit dem Kind gedeckt wird, hat der insoweit wesentlich behinderte Elternteil, wie hier die seelisch behinderte Hilfeempfängerin …, einen entsprechenden Anspruch auf diese Leistung gegenüber dem Träger der Sozialhilfe. Gemäß § 55 Abs. 2 Nr. 7 SGB IX zählen zu den Leistungen zur Teilhabe auch Hilfen zur Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben. Hiervon ist auch umfasst, ihm die Fähigkeiten zu vermitteln und die Hilfen zu gewähren, die zur sachgerechten Wahrnehmung der Elternverantwortung erforderlich sind, da die Verantwortungsübernahme der Eltern (mit Behinderung) für ihr Kind eine zentrale Frage der Teilhabe der Eltern am Leben in der Gemeinschaft ist.
Es steht unstreitig fest, dass die Hilfeempfängerin …. aufgrund ihrer seelischen Behinderung zur psychischen Stabilisierung und zur Unterstützung bei der Versorgung und Erziehung ihres Sohnes einen Hilfebedarf hatte. § 19 SGB VIII begründet den Anspruch eines allein erziehenden Elternteils von Kindern unter sechs Jahren auf gemeinsame Betreuung mit dem Kind in einer geeigneten Wohnform, wenn und solange sie aufgrund ihrer Persönlichkeitsentwicklung dieser Form der Unterstützung bei der Pflege und Erziehung des Kindes bedürfen. Es kann offen bleiben, ob der Ansicht des Klägers zu folgen ist, dass auch ambulante Betreuungsmaßnahmen bei Verbleiben in der eigenen Wohnung vom Anwendungsbereich des § 19 SGB VIII erfasst werden. Denn der gegenüber dem Jungendhilfeträger bestehende Anspruch kann, wie die Beklagte eingeräumt hat, zumindest auf § 31 SGB VIII gestützt werden. Hiernach soll sozialpädagogische Familienhilfe durch intensive Betreuung und Begleitung Familien in ihren Erziehungsaufgaben, bei der Bewältigung von Alltagsproblemen, der Lösung von Konflikten und Krisen sowie im Kontakt mit Ämtern und Institutionen unterstützen und Hilfe zur Selbsthilfe geben. Kennzeichnend für diese Hilfemaßnahme ist die in der Regel ambulante Hilfe, die im Umfeld der Familie stattfindet. Dies ist vorliegend durch das Verbleiben der Hilfeempfängerin in ihrer eigenen, privat angemieteten Wohnung der Fall. Folglich liegt in Bezug auf die hier allein strittigen Leistungen für die Mutter eine vollständige Kongruenz der Leistungen des Sozialhilfeträgers und des Anspruches der Hilfeempfängerin gegenüber dem Jugendhilfeträger vor. Für Anspruchskongruenzen, wie sie hier gegeben sind, regelt § 10 Abs. 4 SGB VIII, dass grundsätzlich Leistungen nach dem SGB VIII denen nach dem SGB XII vorgehen, der Jugendhilfeträger also gegenüber dem Sozialhilfeträger vorrangig verpflichtet ist. Eine Abweichung von diesem Grundsatz, d. h., eine vorrangige Leistungsverpflichtung des Sozialhilfeträgers besteht dann, wenn der leistungsberechtigte junge Mensch körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht ist. Dies trifft im vorliegenden Fall nicht zu, da die im Jahr 1971 geborene Hilfeempfängerin bereits bei Beginn der Maßnahme am 26. Februar 2014 mit 43 Jahren kein junger Mensch mehr im Sinne von § 10 Abs. 4 Satz 2 i. V. m. § 7 Abs. 1 Nr. 4 SGB VIII war. Zudem ist sie entgegen der Voraussetzungen von § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII weder körperlich noch geistig, sondern seelisch behindert.
Der Klage war daher vollumfänglich stattzugeben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.
Rechtsmittelbelehrung:
Nach §§ 124, 124 a Abs. 4 VwGO können die Beteiligten die Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil innerhalb eines Monats nach Zustellung beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
beantragen. In dem Antrag ist das angefochtene Urteil zu bezeichnen. Dem Antrag sollen vier Abschriften beigefügt werden.
Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung dieses Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist bei dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof,
Hausanschrift in München: Ludwigstraße 23, 80539 München, oder
Postanschrift in München: Postfach 34 01 48, 80098 München
Hausanschrift in Ansbach: Montgelasplatz 1, 91522 Ansbach
einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.
Über die Zulassung der Berufung entscheidet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und den in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Rechtslehrern mit Befähigung zum Richteramt die in § 67 Abs. 4 Sätze 4 und 7 VwGO sowie in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen und Organisationen.
Beschluss:
Der Streitwert wird auf EUR 12.950,20 festgesetzt (§ 52 Abs. 3 Gerichtskostengesetz -GKG-).
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diesen Beschluss steht den Beteiligten die Beschwerde an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zu, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes EUR 200,– übersteigt oder die Beschwerde zugelassen wurde. Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
einzulegen.
Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, kann die Beschwerde auch noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
Der Beschwerdeschrift eines Beteiligten sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.

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