Verwaltungsrecht

Mangels Belehrung über die Rechtsfolgen des Nichtbetreibens des Verfahrens rechtswidrige Einstellung eines Asylverfahrens wegen Untertauchens

Aktenzeichen  M 21 S 17.30204

Datum:
21.3.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 80 Abs. 5
AsylG AsylG § 10 Abs. 2, § 33 Abs. 1, § 75 Abs. 1

 

Leitsatz

1 Als untergetaucht gilt ein Ausländer, wenn er für die staatlichen Behörden nicht auffindbar ist. In diesem Fall wird nach § 33 Abs. 2 Nr. 2 AsylG vermutet, dass der Ausländer sein Asylverfahren nicht betreibt, was nach § 33 Abs. 1 AsylG zur Folge hat, dass sein Asylantrag als zurückgenommen gilt. (red. LS Clemens Kurzidem)
2 Der Nachteil, den ein Asylbewerber aus der Rücknahmefiktion des § 33 Abs. 1 AsylG erleiden kann, ist nur dann verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn der Betroffene nach dem Gebot eines fairen Verfahrens auf die gesetzliche Regelung hingewiesen wird. (red. LS Clemens Kurzidem)
3 Allgemeine Hinweise in der Belehrung für Erstantragsteller über Mitwirkungspflichten im Asylverfahren und allgemeine Verfahrenshinweise im Zusammenhang mit einem Wohnsitzwechsel genügen den Anforderungen an die Belehrung über die Folgen des Nichtbetreibens des Asylverfahrens nicht. (red. LS Clemens Kurzidem)
4 Spricht ein Asylbewerber, nachdem er im Ausländerzentralregister als untergetaucht eingetragen worden ist, beim Bundesamt persönlich vor, um sich nach dem Stand seines Asylverfahrens zu erkundigen, ist es offenkundig, dass er sein Interesse an der Fortführung seines Asylverfahrens nicht verloren hat. In diesem Fall kann ein Untertauchen aus Verstößen gegen Mitwirkungspflichten im Zusammenhang mit seinem Wohnsitzwechsel nicht abgeleitet werden.  (red. LS Clemens Kurzidem)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage M 21 K 17.30203 gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29. Dezember 2016 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Der Antragsteller stellte am 7. April 2015 einen Asylantrag. In der Belehrung für Erstantragsteller über Mitwirkungspflichten und Allgemeine Verfahrenshinweise war u.a. folgender Hinweis enthalten:
„Nach dem Asylverfahrensgesetz sind Sie verpflichtet, im Asylverfahren mitzuwirken. Die Erfüllung der Mitwirkungspflichten ist für sie äußerst wichtig, denn die Vernachlässigung ihrer Mitwirkungspflichten kann zu empfindlichen Nachteilen führen.
Deshalb müssen Sie dem Bundesamt, der Ausländerbehörde und im Falle eines Gerichtsverfahrens auch dem Verwaltungsgericht insbesondere jeden Wohnungswechsel umgehend mitteilen.
Im Asylverfahren müssen Ihnen von diesen Behörden oder vom Gericht Mitteilungen, Ladungen oder Entscheidungen übersandt werden. Die Übersendung erfolgt immer an die letzte Anschrift, die der Behörde oder dem Gericht mitgeteilt worden ist.
Wenn sich Ihre Adresse geändert hat, ohne dass dies diesen Stellen bekannt geworden ist, wird die Mitteilung/Ladung/Entscheidung an ihre alte Anschrift gesandt.
Das Gesetz bestimmt, dass diese Mitteilung/Ladung/Entscheidung auch dann wirksam ist, wenn sie dort nicht mehr wohnen und daher von deren Inhalt keine Kenntnis erhalten.
Die Unterlassung der Mitteilung über ihren Wohnungswechsel kann für sie erhebliche Folgen haben, z.B. kann
– das Bundesamt ggf. über ihren Antrag entscheiden, ohne sie zu ihren Verfolgungsgründen angehört zu haben;
– Ihr Asylantrag als zurückgenommen gelten;
…“
Mit Ladungsschreiben vom 26. September 2016 (ohne Zustellungsnachweis) wurde der Antragsteller unter der zuletzt bekannten Anschrift zur Anhörung vor dem Bundesamt am 6. Oktober 2016 geladen. Eine Niederschrift über eine erfolgte Anhörung oder ein Vermerk dazu, dass und weshalb die Anhörung nicht erfolgt ist, findet sich in den Akten nicht.
Mit Schreiben vom 26. Oktober 2016 teilte das Landratsamt München – Ausländerbehörde – dem Bundesamt mit, dass der Antragsteller mit Wirkung 30. August 2016 als untergetaucht gemeldet worden sei. Mit Schreiben vom 2. November 2016 (dem Antragsteller persönlich ausgehändigt) wurde dem Antragsteller mitgeteilt, dass ein Folgeantrag noch nicht gestellt werden könne, da das erste Verfahren noch nicht abgeschlossen sei. Mit Vermerk vom 29. Dezember 2016 stellte das Bundesamt fest, der Antragsteller gelte seit dem 20. Oktober 2016 laut AZR-Gesamtauskunft als untergetaucht. Es sei davon auszugehen, dass er sein Verfahren nicht betreibe, da er unterlassen habe, Ausländerbehörde oder das Bundesamt über seine aktuelle Anschrift zu informieren.
Mit Bescheid vom 29. Dezember 2016 (Bescheid als Einschreiben am 2.1.2017 zur Post gegeben) stellte das Bundesamt unter der gleichzeitigen Feststellung, dass der Asylantrag als zurückgenommen gilt, das Asylverfahren ein (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2), forderte den Antragsteller auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheids zu verlassen und drohte die Abschiebung nach Mali an (Nr. 3). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot des § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4).
Zur Begründung wurde ausgeführt, der Antragsteller gelte seit dem 20. Oktober 2016 als untergetaucht. Er sei gemäß § 10 AsylG während der Dauer des Asylverfahrens verpflichtet, jeden Wechsel seiner Anschrift dem Bundesamt unverzüglich anzuzeigen und über diese Pflicht gemäß § 24 Abs. 1 Satz 2 AsylG belehrt worden.
Der Antragsteller erhob gegen den Bescheid am 9. Januar 2017 Klage (M 21 K 17.30203) und beantragte, den Bescheid vom 29. Dezember 2016 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorliegen, den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen und festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG bestehen.
Zugleich wurde beantragt,
hinsichtlich der Ausreiseaufforderung und der Abschiebungsandrohung die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Zur Begründung wurde ausgeführt, der Antragsteller habe sich immer in der ihm zugewiesenen Unterkunft – zwischenzeitlich wieder in einer Aufnahmeeinrichtung – aufgehalten.
Mit Schreiben vom 7. März 2017 zeigte die Bevollmächtigte die Vertretung des Antragstellers an und trug ergänzend vor. Der Antragsteller sei nicht untergetaucht – die Mitteilung des Landratsamtes München vom 26. Oktober 2016 sei nicht nachvollziehbar. Der Antragsteller habe am 2. November 2016 persönlich bei der Außenstelle des Bundesamts vorgesprochen und dort sein Interesse an dem Asylverfahren bekundet. Er habe bei dieser Gelegenheit auch versucht, seine neue Adresse mitzuteilen. Das sei offensichtlich nicht aufgenommen worden.
Das Bundesamt legte die (elektronische) Akte mit Schreiben vom 11. Januar 2017 vor.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte in diesem und im Klageverfahren und die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
II.
Der vom Antragsteller selbst gestellte Antrag, der nach der gemäß § 88 VwGO gebotenen Auslegung auf die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die – gemäß § 75 Abs. 1 AsylG kraft Gesetzes vollziehbare – Abschiebungsandrohung gerichtet ist (ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung hinsichtlich der Ausreiseaufforderung mit der gesetzten Frist für eine freiwillige Ausreise wäre nicht statthaft), ist zulässig (vgl. zum Rechtsschutzbedürfnis BVerfG, B.v. 20.7.2016 – 2 BvR 1385/16 – juris Rn. 8) und begründet.
Das Gericht trifft bei der Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 VwGO eine originäre Ermessensentscheidung. Es hat bei der Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung abzuwägen zwischen dem öffentlichen Interesse an der vom Gesetzgeber vorgesehenen sofortigen Vollziehung des Bescheides und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Bei dieser Abwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Erweist sich der angefochtene Bescheid schon bei summarischer Prüfung als offensichtlich rechtswidrig, besteht kein öffentliches Interesse an dessen sofortiger Vollziehung.
Entsprechend diesem Maßstab ist die aufschiebende Wirkung anzuordnen.
Nach § 33 Abs. 1 AsylG in der Fassung des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11. März 2016 (BGBl. I, S. 390 f.) gilt der Asylantrag als zurückgenommen, wenn der Ausländer das Verfahren nicht betreibt. Nach § 33 Abs. 2 Nr. 2 AsylG wird vermutet, dass der Ausländer das Verfahren nicht betreibt, wenn er untergetaucht ist. Als untergetaucht gilt entsprechend der Gesetzesbegründung ein Ausländer, wenn er für die staatlichen Behörden nicht auffindbar ist (BT-Drs. 18/7538, S. 17).
Gemäß § 33 Abs. 4 AsylG ist der Ausländer auf die nach den Absätzen 1 und 3 eintretenden Rechtsfolgen schriftlich und gegen Empfangsbestätigung hinzuweisen. Der Nachteil, den der Asylbewerber infolge der Rücknahmefiktion erleiden kann, ist nur dann verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn der Betroffene auf die gesetzliche Regelung hingewiesen wird. Diesen im Gebot eines fairen Verfahrens wurzelnden rechtsstaatlichen Anforderungen hat der Gesetzgeber mit der Vorschrift des § 33 Abs. 4 AsylG entsprochen.
Entsprechend diesen Maßstäben scheidet eine Einstellung des Verfahrens schon deswegen aus, weil der Antragsteller über die Rechtsfolgen eines Nichtbetreibens nicht belehrt worden ist. Die allgemeinen Hinweise in der Belehrung für Erstantragsteller über Mitwirkungspflichten und Allgemeine Verfahrenshinweise im Zusammenhang mit einem Wohnsitzwechsel genügen diesen Anforderungen nicht.
Abgesehen davon liegen die Voraussetzungen für ein Untertauchen des Antragstellers erkennbar nicht vor. Es mag dahinstehen, ob und unter welchen Umständen im Hinblick auf die weitreichenden Rechtsfolgen der Rücknahmefiktion die fehlende Erreichbarkeit (vgl. Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, Nachtrag zur 11. Auflage 2016, AsylG, § 33 Rn. N4) oder eine Mitteilung der zuständigen Ausländerbehörde bzw. ein entsprechender Eintrag zum Meldestatus im Ausländerzentralregister für ein Untertauchen genügt. Jedenfalls in Fällen wie dem vorliegenden, in denen für das Bundesamt offensichtlich ist, dass der Antragsteller sein Interesse an der Fortführung des Asylverfahrens nicht verloren hat, kann ein Untertauchen wegen Verstößen gegen Mitwirkungspflichten im Zusammenhang mit einem Wohnsitzwechsel nicht abgeleitet werden. Für das Bundesamt war offenkundig, dass der Antragsteller, der nach Aktenlage am 2. November 2016 und damit lange nach der Meldung der Ausländerbehörde über sein Untertauchen beim Bundesamt wegen seines Asylantrags vorgesprochen hatte, sein Interesse an der Fortführung seines Asylantrags nicht verloren hatte. Für Zustellungen hätte das Bundesamt – ungeachtet der Möglichkeit einer Aufenthaltsermittlung durch eine Anfrage bei der Regierung von Oberbayern als zentraler Ausländerbehörde oder bei der zuständigen Meldebehörde – die Möglichkeiten der Zustellungsfiktion nach § 10 Abs. 2 AsylG nutzen können.
Nachdem sich die angefochtene Entscheidung über die Einstellung des Verfahrens schon bei summarischer Prüfung als offensichtlich rechtswidrig erweist, ist die aufschiebende Wirkung der Klage ohne weitere Prüfung anzuordnen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).

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