Aktenzeichen M 26 K 17.42392
Leitsatz
1 Verfügt die alleinstehende Klägerin über keine engeren männlichen Familienangehörigen mehr in Afghanistan, die sie bei sich aufnehmen und ihren Lebensunterhalt sicherstellen könnten, würde sie bei den derzeit in Afghanistan herrschenden Bedingungen alsbald in eine ausweglose, lebensbedrohliche Lage geraten. (Rn. 11 – 14) (redaktioneller Leitsatz)
2 Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes kaum möglich und wird gemeinhin als unvorstellbar oder gänzlich unbekannt angesehen. Sie können ihre Rechte innerhalb der konservativ-islamischen Gesellschaft oft nur eingeschränkt verwirklichen. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 26. Mai 2017 wird in den Nummern 4 bis 6 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 VwGO hinsichtlich Afghanistans vorliegen.
II. Von den Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens trägt die Klägerin 2/3 und die Beklagte 1/3.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Soweit die Klage zurückgenommen wurde, ist das Verfahren einzustellen, § 92 Abs. 3 VwGO.
Die aufrecht erhaltene Klage, über die mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist zulässig und begründet.
Bei der Klägerin liegt ein nationales Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vor. Die entgegenstehende Feststellung in Nr. 4 des angefochtenen Bescheids, die ein nationales Abschiebungsverbot verneint, ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Dass schlechte humanitäre Bedingungen eine auf eine Bevölkerungsgruppe bezogene Gefahrenlage darstellen können, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK führen, ist durch die Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs hinreichend geklärt (vgl. hierzu BayVGH, U. v. 23.3.2017 – 13a B 17.30030 – juris; B. v. 04.08.2015 – 13a ZB 15.300032 – juris; U. v. 21.11.2014 – 13a B 14.30284 – juris).
Die Klägerin ist eine alleinstehende junge Frau, die nach übereinstimmenden Angaben der Familie in Afghanistan bei ihrem Bruder gelebt hat und von diesem unterstützt wurde. Angesichts der rechtskräftigen Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots für den Bruder und die Mutter der Klägerin kann jedoch im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) nicht von einer gemeinsamen Rückkehr nach Afghanistan ausgegangen werden, so dass die Klägerin allein zurückkehren müsste. Auch ihr zweiter Bruder, der sie ebenfalls unterstützt hat, lebt in Deutschland und hat ein gesichertes Aufenthaltsrecht. Da der Vater bereits verstorben ist, verfügt die Klägerin mithin in Afghanistan über keine engeren männlichen Familienangehörigen mehr. Dass die beiden Onkel die Klägerin bei sich aufnehmen und den Lebensunterhalt für die Klägerin sicherstellen können, erscheint bei der derzeitigen sehr schlechten wirtschaftlichen Lage nicht gesichert, da davon ausgegangen werden muss, dass die Onkel primär für ihre eigenen Kernfamilien sorgen müssen. Einer Erwerbstätigkeit ist die Klägerin in Afghanistan nicht nachgegangen, sondern war auf den häuslichen Bereich beschränkt. Zudem wurde übereinstimmend und glaubhaft dargelegt, dass die Wohnung in Kabul zum Zwecke der Finanzierung der Ausreise anderen überlassen wurde, so dass sie der Klägerin im Falle ihrer Rückkehr voraussichtlich nicht als Unterkunft zur Verfügung stünde.
Die Situation alleinstehender Frauen in Afghanistan und die allgemeine wirtschaftliche Lage sind weiterhin schwierig. Während sich die Situation der Frauen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft insgesamt verbessert hat, können sie ihre gesetzlichen Rechte innerhalb der konservativ-islamischen, durch Stammestraditionen geprägten afghanischen Gesellschaft oft nur eingeschränkt verwirklichen. Eine Verteidigung der Rechte der Frauen ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich. Berufstätige Frauen sind häufig Ziel von sexueller Belästigung durch ihre männlichen Kollegen. Die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen variiert je nach Region und ethnischer bzw. Stammeszugehörigkeit und ist unter den Hazara am höchsten. So tragen in den östlichen, südwestlichen und nordöstlichen Regionen nur zwischen 11% und 14% der Frauen durch Erwerbsarbeit zum Haushaltseinkommen bei (Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 31.5.2018). Insgesamt waren im Jahr 2015 nur 15,8% der Frauen im erwerbsfähigen Alter am Arbeitsmarkt beteiligt, indem sie entweder einer Erwerbstätigkeit nachgingen oder eine solche suchten (BT-Drs. 18/10336, Frage 28). Für Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes kaum möglich und wird gemeinhin als unvorstellbar oder gänzlich unbekannt beschrieben (Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 31.5.2018).
Die Grundversorgung stellt für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung dar. Für Rückkehrer gilt dies in besonderem Maße. Viele von ihnen sind auf humanitäre Unterstützung angewiesen. Laut UNOCHA benötigten 9,3 Millionen Menschen, d.h. ein Drittel der afghanischen Bevölkerung, humanitäre Hilfe. Bedarf besteht besonders an Unterkunft, Nahrung, sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung. Die hohe Arbeitslosigkeit wird verstärkt durch vielfältige Naturkatastrophen. Das World Food Programme reagiert das ganze Jahr hindurch in verschiedenen Landesteilen auf Krisen bzw. Notsituationen wie Dürre, Überschwemmungen oder extremen Kälteeinbruch. Gerade der Norden – eigentlich die „Kornkammer“ des Landes – ist extremen Natureinflüssen wie Trockenheit, Überschwemmungen und Erdrutschen ausgesetzt. Für 2018 wird eine Dürre mit erheblichen Auswirkungen auf die Landwirtschaft und Versorgung der Bevölkerung vorhergesagt. Die aus Konflikten und chronischer Unterentwicklung resultierenden Folgeerscheinungen im Süden und Osten haben dazu geführt, dass dort ca. 1 Million oder fast 1/3 aller Kinder als akut unterernährt gelten. Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab (Lagebericht vom 31.5.2018, S. 29).
Unter diesen für die Klägerin als alleinstehender junger Frau im Vergleich zu muslimischen männlichen Rückkehrern wesentlich ungünstigeren sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen erscheint es ausgeschlossen, dass es ihr gelingen würde, sich ein menschenwürdiges Leben am Rande des Existenzminimums zu finanzieren und sich in die afghanische Gesellschaft zu integrieren. Das Gericht geht daher davon aus, dass die Klägerin als Angehörige einer vulnerablen Personengruppe unter den derzeit in Afghanistan herrschenden Bedingungen bei einer Abschiebung alsbald in eine ausweglose, lebensbedrohliche Lage geriete, die dem Verbot einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK widerspräche.
Der Klage war daher unter Aufhebung der Nrn. 4 bis 6 des streitgegenständlichen Bescheides stattzugeben. Da die Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG einen einheitlichen unteilbaren Streitgegenstand darstellen (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – BVerwGE 140, 319 Rn. 16 f.), wird Nr. 4 des streitgegenständlichen Bescheids insgesamt aufgehoben. Infolge der Zuerkennung des nationalen Abschiebungsverbots waren auch die diesem Ausspruch entgegenstehenden bzw. dadurch hinfälligen Nrn. 5 und 6 des streitgegenständlichen Bescheids aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich des zurückgenommenen Teils der Klage auf § 155 Abs. 2 VwGO, im Übrigen auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.