Verwaltungsrecht

Nationales Abschiebungsverbot wegen extremer Gefahrenlage bei Rückkehr nach Pakistan

Aktenzeichen  M 23 K 16.30377

Datum:
24.3.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 3 Abs. 1, § 3e, § 4 Abs. 1
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7

 

Leitsatz

1. Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann sich aus der Krankheit eines Ausländers ergeben, wenn diese sich im Heimatstaat verschlimmert, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend sind. (Rn. 32 – 35) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Abschiebung in den Heimatstaat erscheint verfassungsrechtlich unzumutbar, wenn der Betroffene alsbald nach Rückkehr in eine extreme Gefahrenlage geraten würde. (Rn. 39 – 41) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für … vom 12. Januar 2016 wird in Nr. 4 insoweit aufgehoben, als festgestellt wurde, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG nicht vorliegt.
Er wird zudem in Nr. 5 und 6 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Pakistans vorliegen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Von den Kosten des Verfahrens trägt der Kläger 3/4, die Beklagte 1/4.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Das Gericht konnte mit Einverständnis der Beteiligten ohne (weitere) mündliche Verhandlung entscheiden (§ 101 Abs. 2 VwGO). Der Kläger wurde mit Schreiben vom 16. März 2017 hierzu gehört, die Beklagte hat mit allgemeiner Prozesserklärung vom 25. Februar 2016 ihr Einverständnis gegeben.
Die Klage ist zulässig, insbesondere fristgerecht erhoben. Unabhängig von den zunächst erfolglosen Zustellungsversuchen an den Kläger, die dieser wohl gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 AsylG gegen sich hätte gelten lassen müssen, wurde dem Kläger der Bescheid am 25. Februar 2016 gemäß Aktenvermerk des Bundesamts persönlich übergeben. Ein Hinweis darauf, dass dies nicht als Zustellung, sondern nur (zusätzliche) formlose Übergabe gesehen wurde, findet sich in den Akten nicht, sodass davon auszugehen ist, dass der Bescheid mit dieser Übergabe tatsächlich neuerlich zugestellt wurde. Die Klage wurde daher fristgerecht innerhalb der Klagefrist von zwei Wochen gemäß § 74 Abs. 1 Satz 1 AsylG, erhoben.
Die zulässige Klage ist teilweise begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbots hinsichtlich Pakistans in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts erweist sich daher insoweit als rechtswidrig, war in dem ausgesprochenen Umfang aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Pakistans vorliegen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Im Übrigen ist die Klage unbegründet. Der Kläger hat weder einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft i.S.d. des § 3 Abs. 1 AsylG, noch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes i.S.d. § 4 Abs. 1 AsylG. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts ist insoweit rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Klage war daher insoweit abzuweisen.
Das Gericht legt die Anträge des in der mündlichen Verhandlung nicht mehr vertretenen Klägers gemäß § 88 VwGO dahin aus, dass der Kläger die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG, hilfsweise die Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung subsidiären Schutzes i.S.d. § 4 Abs. 1 AsylG, sowie – abermals hilfsweise – zur Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG begehrt.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG, da er sich nicht aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zur einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslands befindet. Die von dem Kläger geschilderte Bedrohung durch einen Mitglied der örtlichen Drogenmafia beruht nicht auf einem Verfolgungsgrund im Sinne des § 3 AsylG.
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes i.S.d. § 4 Abs. 1 AsylG.
Nach § 4 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiärer Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt dabei die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG). Für die Zuerkennung subsidiären Schutzes im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG gelten nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG die §§ 3c bis 3e AsylG entsprechend. Damit werden die dortigen Bestimmungen über den Vorverfolgungsmaßstab, Nachfluchtgründe, Verfolgungs- und Schutzakteure und internen Schutz als anwendbar auch für die Zuerkennung subsidiären Schutzes erklärt.
Die Gefahr der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG, hat der Kläger weder geltend gemacht, noch liegen Anhaltspunkte hierfür vor.
Auch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG sind im Fall des Klägers nicht erfüllt. Der Kläger muss die Umstände und Tatsachen, die für die von ihm befürchtete Gefahr von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung maßgeblich sind, von sich aus konkret, in sich stimmig und erschöpfend vortragen (vgl. Art. 4 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Buchst. c Richtlinie 2011/95/EU, § 25 Abs. 2 AsylG). Ihn trifft insoweit eine Darlegungslast (vgl. Marx, Handbuch zur Qualifikationsrichtlinie, 2009, S. 762).
Soweit der Kläger davon ausgeht, dass er von dem Drogenhändler mit dem Tod bedroht ist, muss sich der Kläger insoweit selbst bei Wahrunterstellung des Sachverhalts – mindestens auf eine interne Fluchtalternative gemäß § 3e AsylG verweisen lassen (vgl. allgemein zur Annahme einer inländischen Fluchtalternative in Pakistan: VG Göttingen, U.v. 7.2.2017 – 2 A 304/15; VG München, U.v. 19.5.2016 – M 23 K 14.31121 – juris Rn. 46 m.w.N.; U.v. 12.6.15 – M 23 K 13.31345 – juris Rn. 21ff m.w.N.).
Im Fall des Klägers ist auch nicht davon auszugehen, dass er als Zivilperson einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt wäre, § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG. Die allgemeine Gefahr, die von einem bewaffneten Konflikt für eine Vielzahl von Zivilpersonen ausgeht, kann sich individuell so verdichten, dass sie eine ernsthafte individuelle Bedrohung darstellt. Voraussetzung hierfür ist eine außergewöhnliche Situation, die durch einen so hohen Gefährdungsgrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer solchen Bedrohung ausgesetzt ist. Bezüglich der Gefahrendichte ist auch weiterhin auf die jeweilige Herkunftsregion abzustellen, in die ein Kläger typischerweise zurückkehren wird (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 14.7.2009 – 10 C 9.08; U.v. 21.4.2009 – 10 C 11/08; U.v. 17.11.2011 – 10 C 13/10; U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – jeweils juris; VG München, U.v. 12.5.2014 – M 23 K 13.31161 – juris Rn. 26ff). In Pakistan liegt gegenwärtig weder im gesamten Staatsgebiet noch in der Provinz Sindh ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt vor (vgl. VG München, U.v. 19.5.2016 – M 23 K 14.31198 – juris Rn. 38; VG Augsburg, U.v. 30.3.2015 – Au 3 K 14.30437 – juris Rn. 56ff, VG Regensburg, U.v. 9.1.2015 – RN 3 K 14. 30674 – juris Rn. 28).
Einer Entscheidung über das Vorliegen eines nationales Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG bedarf es vorliegend nicht, da der Kläger im konkreten Einzelfall ausnahmsweise einen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbots in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter entsprechender Aufhebung der Regelung in Nr. 4 des streitgegenständlichen Bescheids hat.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die Regelung in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfasst nur solche Gefahren die in den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat begründet sind, während Gefahren, die sich aus der Abschiebung als solche ergeben, nur von der Ausländerbehörde als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis berücksichtigt werden können (ständige Rechtsprechung vgl. BVerwG, U.v. 17.10.2006 – 1 C 18/05 – juris). Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann sich auch aus der Krankheit eines Ausländers ergeben, wenn diese sich im Heimatstaat verschlimmert, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend sind, wobei der Standard des deutschen Gesundheitssystems nicht gefordert werden kann (vgl. nunmehr auch § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG; VG Schwerin, U.v. 29.3.2016 – 5 A 2716/15 As SN – juris).
Ob eine behandlungsbedürftige Erkrankung vorliegt, bedarf der Darlegung durch den jeweiligen Antragsteller (§ 86 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 VwGO; vgl. dazu BVerwG, B.v. 26. Juli 2012 – 10 B 21.12; U.v. 11. September 2007 – 10 C 8.07, jeweils juris). Besondere Anforderungen hierfür gelten nach der ständigen Rechtsprechung im Hinblick auf das Vorbringen einer behandlungsbedürftigen Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Angesichts der Unschärfen des Krankheitsbilds und seiner vielfältigen Symptome bedarf es hierfür regelmäßig eines fachärztlichen Attests, das den Mindestanforderungen genügt. So muss sich nachvollziehbar ergeben, auf welcher Grundlage der Facharzt seine Diagnose gestellt hat und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Dazu gehören etwa Angaben darüber, seit wann und wie häufig sich der Patient in ärztlicher Behandlung befunden hat und ob die von ihm geschilderten Beschwerden durch die erhobenen Befunde bestätigt werden. Des Weiteren sollte das Attest Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf (Medikation und Therapie) geben. Wird das Vorliegen einer PTBS auf traumatisierende Erlebnisse im Heimatland gestützt und werden die Symptome erst längere Zeit nach der Ausreise aus dem Heimatland vorgetragen, ist in der Regel auch eine Begründung dafür erforderlich, warum die Erkrankung nicht früher geltend gemacht worden ist (vgl. grundlegend BVerwG, U.v. 11.9.2007 – 10 C 17.07 – juris).
Die von Klägerseite vorgelegten Atteste können eine solche behandlungsbedürftige Erkrankung nicht hinreichend belegen. Das Gericht folgt insoweit jedoch nicht der Ansicht der Beklagten, dass der Facharzttitel „Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie“ für eine fachgerechte Stellungnahme/Gutachten allein nicht ausreiche. Sowohl der den Kläger behandelnde analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut als auch insbesondere die Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie verfügen unzweifelhaft über die notwendige Kompetenz und Qualifikation zur Diagnose und Gutachtenerstellung in Bezug auf psychischer Störungen des Kindes und Jugendalters (vgl. zu Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie: Weiterbildungsordnung der Bundesärztekammer; zu Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten: Stellungnahme des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen – bpd – zur Tätigkeit des Diplom-Psychologen als Sachverständiger im Sozialgerichtsverfahren, abrufbar unter: www.bdp-verband.org/bdp/politik/alte/010_ sachverstaendige.shtml; BayVGH, B. v. 28.06.2015 – 13a ZB 15.30073 – juris Rn.8).
Aufgrund der vorliegenden Atteste geht das Gericht davon aus, dass der Kläger zumindest zunächst an einer behandlungsbedürftigen psychiatrischen Erkrankung gelitten hat. Der Kläger hat diese Behandlung jedoch aus eigenem Entschluss, zumindest ganz überwiegend im August 2016 abgebrochen und ist seither nicht mehr in therapeutischer Behandlung. Seit diesem Zeitpunkt steht der Kläger lediglich sporadisch mit der Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Kontakt. Auch die medikamentöse Behandlung hat der Kläger zum Teil abgebrochen und nach seinen Aussagen erst wieder seit ca. drei bis vier Monaten täglich aufgenommen. Die vorgelegte aktuelle fachärztliche Stellungnahme vom 10. März 2017 führt insoweit nicht hinreichend konkret aus, über welchen Zeitraum welche Behandlung stattfand und welche weitere Behandlung konkret erforderlich erscheint. Vielmehr wird allgemein festgestellt, dass die Wiederaufnahme der psychotherapeutischen und psychiatrischen Behandlung, letztere mit der Wiederaufnahme der psychopharmakologischen Medikamentengabe von Mirtazapin, vorbehaltlich Ergänzung durch Fluoxetin sowie regelmäßigen Kontrollen empfohlen werde. Entsprechende Behandlungsansätze sind derzeit jedoch – soweit für das Gericht erkennbar – weder eingeleitet noch genehmigt. Das Gericht bezweifelt daher vorliegend die zwingende Behandlungsbedürftigkeit des Klägers, auch wenn – nach dem persönlichen Eindruck des Gerichts bei der informatorischen Anhörung – eine solche sicherlich sinnvoll erscheinen mag.
Die abschließenden Klärung über die Intensität und Behandlungsbedürftigkeit der Erkrankung des Klägers durch die Einholung eines weiteren fachärztlichen Gutachtens im Rahmen des Gerichtsverfahrens konnte jedoch unterbleiben, da der Kläger jedenfalls einen Anspruch nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung hat.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist im Einzelfall Ausländern, die zwar einer gefährdeten Gruppe im Sinne des jetzigen § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG angehören, für welche aber ein Abschiebestopp nach § 60a Abs. 1 AufenthG oder eine andere Regelung, die vergleichbaren Schutz gewährleistet, nicht besteht, ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Handhabung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zuzusprechen, wenn die Abschiebung wegen einer extremen Gefahrenlage im Zielstaat Verfassungsrecht verletzen würde. Dies ist der Fall, wenn der Ausländer gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (st. Rspr. des Bundesverwaltungsgerichts, vgl. u.a. B.v. 8.4.2002 – 1 B 71/02 – Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 59). Nur dann gebieten die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG – als Ausdruck eines menschenrechtlichen Mindeststandards –, jedem betroffenen Ausländer trotz Fehlens einer Ermessensentscheidung nach § 60 Abs. 7 Satz 5, § 60a Abs. 1 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren.
Die allgemeine Gefahr in Pakistan hat sich im vorliegenden Einzelfall für den Kläger ausnahmsweise derart zu einer extremen Gefahr verdichtet, dass eine entsprechende Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG geboten ist. Die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung hierfür geforderten Voraussetzungen sind in Bezug auf den Kläger erfüllt.
Aufgrund des Eindrucks den das Gericht bei der informatorischen Anhörung des Klägers von dessen Persönlichkeit gewinnen konnte und den vorgelegten ärztlichen und therapeutischen Stellungnahmen ist das Gericht der Überzeugung, das bei dem Kläger ausnahmsweise davon auszugehen, dass er alsbald nach einer Rückkehr in eine derartige extreme Gefahrenlage geraten würde, die eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich als unzumutbar erscheinen lässt.
Bei dem Kläger handelt es sich um einen gerade volljährig gewordenen, deutlich jugendlich wirkenden Mann, der zwar erkennbar bemüht und auch erfolgreich ist, sich in die Bundesrepublik Deutschland zu integrieren und sowohl die deutsche Sprache sicher beherrscht als auch eine Ausbildung als Verkäufer erfolgreich abgeschlossen und einen unbefristeten Arbeitsvertrag inne hat. Diese Leistungen des Klägers können jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass der Kläger dennoch erheblich psychisch beeinträchtigt ist und unter verschiedensten Symptomen, wie Schlafstörungen, Alpträumen, Kopfschmerzen, Gereiztheit sowie depressiven Episoden leidet. Der Kläger konnte in der informatorischen Anhörung auch glaubhaft darlegen, dass er die therapeutische Behandlung im Herbst 2016 wegen Prüfungsstress abgebrochen hat und nunmehr in den letzten Monaten selbst erkennen musste, dass er einer weiteren Behandlung und Betreuung bedarf. Wie die Fachärztin in ihrer Stellungnahme vom 10. März 2017 ausgeführt hat, hat vermutlich bereits der Anhörungstermin vor Gericht bei dem Kläger dazu geführt, dass sich sein psychischer Zustand wieder deutlich verschlechtert hat und von einer Reaktivierung der Posttraumatischen Belastungsstörung mit typischen Symptomen auszugehen sei. Diese fachärztliche Einschätzung wird durch den persönlichen Eindruck des Gerichts bei der informatorischen Befragung des Klägers bestätigt. Der Kläger war erkennbar bemüht, seine Integrationsleistungen darzustellen, jedoch nicht in der Lage die für das gerichtliche Verfahren zwingend erforderlichen Unterlagen rechtzeitig vor der mündlichen Verhandlung herbeizuschaffen und seine Angelegenheiten ordnungsgemäß vorzubereiten. Er vermittelte das Bild eines jugendlichen Menschen, der noch nicht in der Lage ist, autark sein Leben zu gestalten und selbständig für seine Belange zu sorgen.
Darüber hinaus erscheint der Kläger psychisch äußert labil. Stresssituationen überfordern ihn erkennbar und er zieht sich zurück. So hat der Kläger wegen Prüfungsstress seine Behandlungen abgebrochen und auch im Gerichtsverfahren Aufforderungen zunächst negiert. Die zwangsweise Rückführung des Klägers in sein Heimatland sowie ein erzwungener Aufenthalt dort dürfte den Kläger daher erheblich psychisch beeinträchtigen und im Ergebnis dazu führen, dass der Kläger nicht in der Lage wäre dort für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Auch die fachärztliche Stellungnahme führt insoweit aus, dass der Kläger die Ankündigung einer Abschiebung als Lebensbedrohung empfinden würde. Darüber hinaus ist nach den vorliegenden Erkenntnismitteln davon auszugehen, dass der Kläger in Pakistan eine medizinische Behandlung in Form eine psychotherapeutischen Versorgung nicht erreichen könnte (vgl. ausführlich VG München, U.v. 12.5.2016 – M 23 K 14.31059 – juris m.w.N.). Da der Kläger auch glaubhaft in der mündlichen Verhandlung dargelegt hat, dass er keinen Kontakt zu seiner Familie hat (und mithilfe seines damaligen Betreuers sogar über die pakistanische Botschaft versucht hat, seine Familie ausfindig zu machen) kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger in seinem Herkunftsland einen aufnahmebereiten Familienverband vorfindet. Der Kläger wäre vielmehr auf sich allein gestellt. Jungen, gesunden und arbeitsfähigen Männern ist zwar regelmäßig die Rückkehr in ihr Heimatland Pakistan auch ohne Familienverband zuzumuten, aufgrund der beschriebenen besonderen Situation des Klägers und der Tatsache, dass Personen, die nach Pakistan zurückkehren keinerlei staatliche Wiedereingliederungshilfen oder sonstige Sozialleistungen erhalten (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der islamischen Republik Pakistan – Lagebericht – Stand Mai 2016, Seite 27) geht das Gericht im vorliegenden Einzelfall davon aus, dass der Kläger nicht in der Lage wäre sein Existenzminimum zu erlangen, sondern alsbald nach seiner Rückkehr in sein Heimatland in eine lebensgefährliche Situation geraten würde, aus der er sich weder allein noch mit erreichbarer Hilfe anderer befreien kann.
Bei dem Kläger liegt somit ein Abschiebungshindernis vor, das zur Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führt.
Nr. 4 des streitgegenständlichen Bescheids war daher insoweit aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass für den Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Pakistans vorliegen. Infolge des Abschiebungsverbots war auch die Abschiebungsandrohung in Nr. 5 sowie die Befristungsentscheidung in Nr. 6 des Bescheids aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 VwGO und berücksichtigt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Kostenteilung in Asylverfahren (vgl. z.B. Beschluss vom 29.6.2009 – 10 B 60/08 – juris). Das Verfahren ist gemäß § 83 b AsylVfG gerichtskostenfrei.
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 und 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

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