Aktenzeichen 1 BvR 2853/10
§ 23 Abs 1 S 2 BVerfGG
§ 92 BVerfGG
§ 9 Abs 1 S 2 SGB 7
§ 9 Abs 2 SGB 7
Verfahrensgang
vorgehend BSG, 27. April 2010, Az: B 2 U 13/09 R, Urteilvorgehend Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, 14. Januar 2009, Az: L 9 U 129/06, Urteilvorgehend SG Lüneburg, 17. Mai 2006, Az: S 2 U 124/05, Gerichtsbescheid
Gründe
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft ein sozialgerichtliches Verfahren zur gesetzlichen Unfallversicherung auf Anerkennung einer
Berufskrankheit.
I.
2
Bei dem 1989 geborenen Beschwerdeführer ist wegen einer “sekundären Neurotisierung bei Teilleistungsstörung (Legasthenie und
Dyskalkulie)” ein Grad der Behinderung von 60 vom Hundert anerkannt. Im Kindesalter besuchte er zunächst eine allgemeinbildende,
später eine Sonderschule. Er begehrt die Anerkennung der sekundären Neurotisierung als sogenannte Wie-Berufskrankheit nach
§ 9 Abs. 2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) mit der zweigleisigen Begründung, er habe alternativ dadurch, dass er der
allgemeinen Beschulung unterlegen habe, die sich auf ihn als behinderten Schüler negativ ausgewirkt habe, oder durch einen
Mangel an individueller Förderung eine schwere seelische Erkrankung erlitten. Der Unfallversicherungsträger lehnte den Antrag
ab; Klage, Berufung und Revision blieben ohne Erfolg. Das Bundessozialgericht hat wesentlich darauf abgestellt, dass die allgemeinen
Voraussetzungen für die Bezeichnung der geltend gemachten Krankheit als Berufskrankheit nach § 9 Abs. 2 in Verbindung mit
Abs. 1 Satz 2 SGB VII nicht vorlägen. Spezifische Einwirkungen, die eine Standard-Beschulung ohne Berücksichtigung der Teilleistungsstörungen
Legasthenie und Dyskalkulie auf entsprechend behinderte Schüler habe, habe das Landessozialgericht ebenso wenig festgestellt
wie einen Ursachenzusammenhang zwischen den allgemeinen Einwirkungen des Schulbesuchs auf alle Schüler und psychischen Erkrankungen.
Demgegenüber sei ein bloßer Mangel an individueller Förderung keine Einwirkung in diesem Sinne.
3
Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer Verstöße gegen zahlreiche Normen des Grundgesetzes. Er sei als behinderter
Schüler doppelt diskriminiert worden: Erstens durch die Versagung der geforderten behindertengerechten Beschulung, zweitens
durch die Verweigerung des Zugangs zum Versicherungsschutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Die Verfassungsbeschwerde
rüge ausdrücklich nur die zweite Diskriminierung. Die entscheidende Rechtsfrage laute: “Hat ein behinderter Schüler, welcher
der staatlichen Schulpflicht unterliegt und der dauerhaft berufsunfähig wird, weil der Staat pflichtwidrigerweise keine angemessenen
Vorkehrungen getroffen hat, keinen Anspruch auf Berufsunfähigkeitsrente, weil er am Maßstab eines Nichtbehinderten gemessen
wird, welcher dadurch nicht erkrankt?”
II.
4
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Annahmegründe im Sinne von § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht
vor. Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg.
5
1. Die Verfassungsbeschwerde ist in wesentlichen Teilen unzulässig, da sie nicht den in § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG enthaltenen
Mindestanforderungen an eine schlüssige und substantiierte Begründung genügt (vgl. zum Maßstab: BVerfGE 99, 84 m.w.N.;
101, 331 ; 105, 252 ; 108, 370 ).
6
2. Soweit die Verfassungsbeschwerde einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG rügt, ist sie – bei ebenfalls erheblichen
Zulässigkeitsbedenken – jedenfalls unbegründet. Dabei kann zugunsten des Beschwerdeführers davon ausgegangen werden, dass
er aufgrund seiner Legasthenie- und Dyskalkulie-Erkrankung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG behindert ist.
7
a) Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG insbesondere in seinem Beschluss des Ersten Senats vom
8. Oktober 1997 – 1 BvR 9/97 -, BVerfGE 96, 288 zum Verbot der Benachteiligung behinderter Menschen im Bereich des
– wie hier – niedersächsischen Schulwesens auseinandergesetzt. Das hiesige Begehren des Beschwerdeführers, Leistungen aus
der gesetzlichen Unfallversicherung zu erhalten, lässt sich mit den dortigen Ausführungen jedoch nicht stützen, da die dort
relevanten Fragestellungen in der vorliegenden Verfassungsbeschwerde nicht einschlägig sind. Denn der Beschwerdeführer wendet
sich ausdrücklich nicht gegen die Versagung der sonderpädagogischen Förderung.
8
b) Es kann auch nicht festgestellt werden, dass die Regelung in § 9 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 1 Satz 2 SGB VII oder deren
Auslegung in den angegriffenen sozialgerichtlichen Entscheidungen aus anderen Erwägungen gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verstoßen
könnte. Es ist vorliegend verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der vom Beschwerdeführer geltend gemachte Anspruch
aus der gesetzlichen Unfallversicherung verneint worden ist. Auch ist nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber verpflichtet
sein könnte, außerhalb des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung Regelungen zu schaffen, die dem Begehren des Beschwerdeführers
zum Erfolg verhelfen. Die Regelungen zum Vorliegen einer Berufskrankheit knüpfen nicht an das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein
einer Behinderung an; behinderte Menschen sind ebenso wie nicht behinderte in den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung
einbezogen. Erfasst wird jedoch – für alle Menschen in gleicher Weise – im Recht der Berufskrankheiten ausschließlich das
gesetzlich umschriebene Risiko. Mithin ist von vornherein nicht jede Erkrankung erfasst, die im Einzelfall durch eine berufliche
Tätigkeit verursacht wird; vielmehr müssen die Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII gegeben sein. Ausgehend hiervon
ist die Auslegung, die die Norm in den angegriffenen Entscheidungen erfahren hat, vertretbar.
9
Auch ohne einen Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ist der behinderte Schüler nicht schutzlos
gestellt. Gegen die Ausgestaltung des Schulsystems in der Weise, dass die Leistungen der Schule bei Bestehen eines behinderungsbedingten
sonderpädagogischen Förderbedarfs um individuelle Fördermaßnahmen ergänzt werden, werden verfassungsrechtliche Bedenken weder
vorgetragen noch sind solche ersichtlich. Einem Schüler steht dann der Rechtsweg gegen eine ablehnende Entscheidung über die
Fördermaßnahme zu; anschließend kann gegebenenfalls ein Amtshaftungsanspruch in Betracht kommen, wenn die Leistung schuldhaft
zu Unrecht versagt worden ist.
10
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
11
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.