Aktenzeichen W 8 S 17.32595
AsylG AsylG § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1, § 24 Abs. 1 S. 3, § 31, § 36 Abs. 4
Leitsatz
1 Ist die persönliche Anhörung des Asylsuchenden für die Beweiswürdigung von entscheidungserheblicher Bedeutung, ist die verfahrensrechtliche Trennung von Anhörung und Entscheidung nicht sachgerecht und kann zu Rechtsfehlern führen. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
2 Das gilt insbesondere, wenn die Einschätzungen über den Erfolg des Asylantrags zwischen Anhörer und Entscheider divergieren und der Entscheidung ein unvollständiger Sachverhalt zugrunde gelegt wird. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
3 In Armenien können willkürliche Festnahmen, Verletzungen rechtsstaatlicher Grundsätze und Korruption nicht ausgeschlossen werden. Auch die Unabhängigkeit der Gerichte wird durch finanzielle Abhängigkeiten und Nepotismus beeinflusst. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
4 Es existiert in Armenien nur eine begrenzte inländische Fluchtalternative, weil aufgrund des zentralistischen Staatsaufbaus kaum Ausweichmöglichkeiten gegenüber den Zentralbehörden bestehen. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
I.
Die Antragsteller sind armenische Staatsangehörige. Sie reisten nach eigenen Angaben am 13. April 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 8. Juni 2015 ihre Asylanträge, die der Antragsteller zu 1) als Belastungszeuge mit tätlichen Übergriffen Dritter im Zusammenhang mit einem Strafverfahren gegen Staatsbedienstete erlitten habe.
Mit Bescheid vom 9. März 2017 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag zu Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), den Antrag auf Asylanerkennung (Nr. 2) und den Antrag auf subsidiären Schutz (Nr. 3) als offensichtlich unbegründet ab. Weiter wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Die Antragsteller wurden unter Androhung der Abschiebung nach Armenien zur Ausreise innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheides aufgefordert (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
Gegen diesen Bescheid ließen die Antragsteller am 16. Juni 2017 Klage erheben und gleichzeitig beantragen,
Die aufschiebende Wirkung der Klage wird angeordnet.
Zur Klagebegründung ließen die Antragsteller im Wesentlichen vorbringen: Die anhörende Person und die entscheidende Person seien nicht identisch. Die anhörende Person habe einen Aktenvermerk abgegeben, wie folgt: Eine positive Entscheidung nach § 3 Abs. 1 AsylG erscheine wahrscheinlich. Der Bescheid verkenne weiter die realen Gegebenheiten des durch und durch korrupten und willkürlichen Staatsapparats der Republik Armenien. Man nehme nur die erste Einschätzung des Lageberichtes des Auswärtigen Amtes. Fakt sei, dass Untergliederungen des Staates oder solche, die vom Antragsteller zu 1) der Begehung von Straftaten bezichtigt worden seien, den Antragsteller zu 1) mehrmals massiv hätten angreifen und an Leib und Leben bedrohen können.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte (einschließlich der Akte W 8 K 17.32594) und die beigezogenen Behördenakten Bezug genommen.
II.
Bei verständiger Würdigung des Vorbringens der Antragsteller ist der Antrag dahingehend auszulegen, dass sie die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen die Abschiebungsandrohung in Nr. 5 des angefochtenen Bundesamtsbescheides begehren, zumal ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO betreffend die übrigen Nummern des streitgegenständlichen Bescheides unzulässig wäre.
Der Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid des Bundesamts vom 9. März 2017 anzuordnen, ist begründet, da ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides bestehen (Art. 16a Abs. 4 GG, § 36 Abs. 4 i.V.m. § 77 Abs. 1 AsylG).
Gegenstand des verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens nach § 36 Abs. 3 und 4 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO ist die von der Antragsgegnerin ausgesprochene Abschiebungsandrohung, beschränkt auf die sofortige Vollziehbarkeit. Prüfungsmaßstab der Entscheidung über die Bestätigung oder Verwerfung des Sofortvollzugs ist die Frage, ob die für die Aussetzung der Abschiebung erforderlichen ernstlichen Zweifel bezogen auf das Offensichtlichkeitsurteil des Bundesamtes vorliegen. Nach Art. 16a Abs. 4 Satz 1 GG, § 34 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf die Aussetzung der Abschiebung nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen. Die Vollziehung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme darf nur dann ausgesetzt werden, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1507/93, 2 BvR 1516/93 und 2 BvR 1938/793 – BVerfGE 94, 115).
Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Ablehnung des Antrags auf Anerkennung als Asylberechtigte, auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und auf subsidiären Schutzes als offensichtlich unbegründet bestehen schon deshalb, weil die Person, die die nach § 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG erforderliche persönliche Anhörung der Antragsteller am 4. Juli 2016 durchgeführt hat, nicht identisch mit der Person ist, die die angefochtene Entscheidung vom 9. März 2017 getroffen hat. Zwar schreibt das AsylG nicht vor, dass die Person, die die Anhörung durchgeführt hat, auch die Entscheidung nach § 31 AsylG zu treffen hat, weshalb allein der Umstand, dass der zur Entscheidung berufene Einzelentscheider den jeweiligen Asylbewerber nicht persönlich angehört hat, nicht zur Rechtswidrigkeit der Entscheidung über den Asylantrag führt. So ist die fehlende Identität von Anhörer und Entscheider unter anderem dann nicht relevant, wenn sich aus dem Vortrag der Antragsteller, dessen Richtigkeit unterstellt, überhaupt keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer (politischen) Verfolgung ergeben (VG Würzburg, B.v. 28.8.2014 – W 1 S. 14.30466 unter Hinweis auf VG Augsburg, B.v. 31.3.2010 – Au 7 S. 10.30096 – juris Rn. 23; B.v. 29.3.2010 – Au 7 S. 10.30066 – juris Rn. 21).
Etwas anderes ist jedoch dann anzunehmen, wenn die Trennung im konkreten Fall tatsächlich zu einem Rechtsfehler geführt haben könnte. Dies ist insbesondere der Fall, wenn die persönliche Anhörung des Asylsuchenden grundsätzlich für die Beweiswürdigung von entscheidungserheblicher Bedeutung ist und die Entscheidung über ein Asylbegehren ganz wesentlich auf einer Glaubwürdigkeitsprüfung beruht und somit grundsätzlich eine verfahrensrechtliche Trennung von Anhörung und Entscheidung weder sachgerecht noch möglich erscheint (VG Göttingen, B.v. 17.8.2010 – 2 B 301/10 – juris Rn. 10; VG München, B.v. 15.9.2008 – M 24 S. 08.60056 – juris Rn. 24; VG München, B.v. 29.4.2003 – M 21 S. 03.60155 – juris Rn. 22 f.; VG Frankfurt/Oder, B.v. 23.3.2000 – 4 L 167/00 – juris ; anderer Ansicht VG München, B.v. 18.11.2011 – M 25 S. 11.30912 – juris Rn. 13).
Letzteres ist vorliegend zumindest zweifelhaft und rechtfertigt erst recht keinen Offensichtlichkeitsausspruch, weil der Anhörer laut Aktenvermerk vom 12. Juli 2016 ausdrücklich angegeben hat, eine positive Entscheidung nach § 3 Abs. 1 AsylG erscheine wahrscheinlich. Der Antragsteller stamme zweifelsohne aus Armenien und werde von der Regierung verfolgt. Das Asylvorbringen werde nach erster Einschätzung glaubhaft dargestellt. Der Entscheider beim Bundesamt teilte diese Einschätzung nicht, worauf der Anhörer auf ausdrückliche Nachfrage seine seinerzeitige Auffassung abänderte. Gleichwohl sind Bedenken angebracht, weil im Bundesamtsbescheid ausgeführt ist, dass ausreisebegründend – bei Wahrunterstellung – ein einmaliger tätlicher Übergriff von vier Personen an einem Märzmorgen 2015 sowie durch Äußerungen hervorgerufene Angst vor Personen gewesen sei. Dem sei lediglich ein kriminaler Charakter beizumessen. Nicht angesprochen wird jedoch der weitere Überfall, den der Antragsteller zu 1) ebenfalls ausführlich geschildert hat, und zwar ein Angriff von Personen vor dem Gericht im September 2014. Dieser Übergriff wurde von drei Personen durchgeführt, die Dienstausweise der 6. Abteilung, Kampf der organisierten Kriminalität, gezeigt hätten. Weiter ist in dem Zusammenhang anzumerken, dass im Bundesamtsbescheid ausgeführt ist, der Rückschluss, ein Verbleiben im Herkunftsland sei unzumutbar, weil man die Rache der genannten Personen zu erwarten habe, sei bereits in Anbetracht des eigenen Vortrags ob seiner Widersprüchlichkeit nicht geeignet, für eine Antragsbegründung zu streiten. Der Entscheider wirft dem Antragsteller zu 1) damit eine Widersprüchlichkeit vor, ohne dass diese den Antragstellern im Rahmen der Anhörung vorgehalten wurde.
In dem Zusammenhang ist weiter darauf hinzuweisen, dass die Ablehnung eines Asylantrages als offensichtlich unbegründet nach ständiger obergerichtlicher Rechtsprechung voraussetzt, dass an der Rechtmäßigkeit der tatsächlichen Feststellungen vernünftigerweise keine Zweifel bestehen und sich bei einem solchen Sachverhalt nach allgemeiner Rechtsauffassung die Abweisung der asylrechtlichen Anträge geradezu aufdrängt (vgl. BVerfG, B.v. 20.12.2006 – 2 BvR 2063/06 – NVwZ 2007, 1046, B.v. 20.9.2001 – 2 BvR 1392/00 – InfAuslR 2002, 146). Gemessen an diesen Maßstäben bestehen zumindest ernstliche Zweifel an der Ablehnung als offensichtlich unbegründet (§ 30 AsylG). Denn gerade der Antragsteller zu 1) hat sehr detailliert und widerspruchsfrei mit konkreten Angaben die beiden tätlichen Übergriffe sowie weitere Bedrohungen geschildert. Der – mit dem Entscheider nicht identische Anhörer – vermerkte dazu in der Niederschrift zur Anhörung am 4. Juli 2016 ausdrücklich, dass der Antragsteller zu 1) das ihm zugefügte Schicksal sehr glaubhaft und emotional vorgetragen habe, was er auch in seinem – später jedoch abgeänderten – Vermerk vom 12. Juli 2016 ausdrücklich festhielt.
Auch in der Sache selbst bestehen ernstliche Zweifel am Offensichtlichkeitsausspruch des Bundesamtes, weil offen und damit noch zu klären ist, ob konkret den Antragstellern in ihrem speziellen Fall in Armenien ein hinreichender Schutz vor strafbaren Handlungen Dritter zur Verfügung steht, so dass eine dortige Rückkehr bzw. dortiger Verbleib zumutbar ist bzw. gewesen wäre. Zumindest auch im Hinblick auf subsidiären Schutz kann ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG bei Handlungen nichtstaatlicher Akteuren vorliegen, sofern dem Betreffenden nicht zuzumuten ist, bei der Polizei bzw. bei staatlichen Strafverfolgungsbehörden Schutz zu suchen (§ 4 Abs. 3 Satz 1, § 3d AsylG). Denn grundsätzlich ist es den Betroffenen zuzumuten, sich bei einer eventuellen Bedrohung an staatlichen Behörden, insbesondere an die Polizei zu wenden. Anhaltspunkte dafür, dass diese in Armenien generell schutzunwillig oder schutzunfähig wären, liegen zwar nicht vor (vgl. auch VG München, B.v. 1.2.2017 – M 16 S. 17.30790 – juris). Jedoch enthält der Lagebericht des Auswärtigen Amtes (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien vom 22.3.2016, Stand: Februar 2016, S. 14) den Hinweis, dass es in der Vergangenheit bei Demonstrationen der Opposition gelegentlich zu Gewaltanwendungen durch Dritte gekommen sei, gegen die die Polizei im Einzelfall nicht bzw. nicht effektiv eingeschritten sei. Das Auswärtige Amt führt weiter aus: Darüber hinaus werde im Armenien die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter weiterhin durch Nepotismus, finanzielle Abhängigkeiten und weitere Korruption konterkariert. Es gebe glaubhafte Berichte von Anwälten über Verletzung rechtstaatlicher Grundsätze durch die Gerichte; die Unschuldsvermutung werde nicht eingehalten, rechtliches Gehör nicht gewährt, Zeugnisverweigerungsrechte würden nicht beachtet und Verteidiger oft ohne Rechtsgrundlage abgelehnt (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien vom 22.3.2016, Stand: Februar 2016, S. 11). Es gebe weiter nachvollziehbare Berichte von Fällen willkürlicher Festnahmen. Es könne nicht ausgeschlossen werden, das Angehörige der Sicherheitsbehörden in Einzelfällen ihre Machtposition in privaten Streitigkeiten ausnutzten (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien vom 22.3.2016, Stand: Februar 2016, S. 16; vgl. zum Ganzen auch BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Armenien vom 5.5.2017, S. 11 ff.).
Schließlich können die Antragsteller auch nicht einfach auf eine innerstaatliche Fluchtalternative verwiesen werden. Denn eine solche existiert in Armenien nur begrenzt, weil es aufgrund des zentralistischen Staatsaufbaus und der geringen territorialen Ausdehnung kaum Ausweichmöglichkeiten in Armenien gegenüber den Zentralbehörden gebe. Bei Problemen mit Lokalbehörden oder mit Dritten könnte jedoch ein Umzug Abhilfe schaffen (so ausdrücklich Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien vom 22.3.2016, Stand: Februar 2016, S. 14). Die Frage, ob gegebenenfalls konkret für die Antragsteller in Armenien Ausweichmöglichkeiten bestehen (was in ihrem Fall jedenfalls nicht auf der Hand liegt) oder nicht, kann im Rahmen des vorliegenden Sofortverfahrens nicht abschließend geklärt werden, sondern muss ebenfalls dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.
Nach alledem bestehen jedenfalls ernstliche Zweifel an der Entscheidung, den Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).