Verwaltungsrecht

Polizeiliche Beobachtung nach Straftaten von erheblicher Bedeutung

Aktenzeichen  AN 15 K 17.00662

Datum:
12.12.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 157303
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
PAG aF Art. 30 Abs. 5 S. 2, Art. 33 Abs. 5, Art. 36 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3
VwGO § 113 Abs. 1 S. 4
GG Art. 19 Abs. 4

 

Leitsatz

1. Im Hinblick auf das Gebot effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG besteht bei sich erledigenden Polizeimaßnahmen, gegen die ein Rechtsschutz vor der Erledigung der Maßnahme nicht zu erreichen ist, ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse schon dann, wenn ein besonders schwerwiegender Grundrechtseingriff festzustellen ist. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Ausschreibung zur Beobachtung nach Art. 36 Abs. 3 PAG aF bedurfte keiner schriftlichen Begründung. (redaktioneller Leitsatz)
3. Straftaten von erheblicher Bedeutung iSd Art. 30 Abs. 5 S. 2 PAG aF sind solche, die mindestens dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzurechnen sind, den Rechtsfrieden empfindlich stören und dazu geeignet sind, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen. Straftaten, die mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren bedroht sind, sind dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzuordnen. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
4. Für das Bestehen einer Wiederholungsgefahr spricht, dass ein Täter in der Vergangenheit nicht nur einmal eine Straftat von erheblicher Bedeutung begangen hat, sondern derartige Straftatbestände wiederholt verwirklicht hat. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet und hat somit keinen Erfolg. Die Klage ist zulässig.
Die Klage ist als Fortsetzungsfeststellungsklage in analoger Anwendung des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO statthaft. Eine analoge Anwendung des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO ist in den Fällen, in denen sich ein Verwaltungsakt vor Klageerhebung erledigt hat – wie dies hier aufgrund des Zeitablaufs der Anordnungen der polizeilichen Beobachtungen des Klägers der Fall ist -, allgemein anerkannt. Entgegen der Auffassung der Klägerseite handelt es sich bei der Anordnung der polizeilichen Beobachtung um einen Verwaltungsakt. Das für das Vorliegen eines Verwaltungsaktes im Sinne des Art. 35 BayVwVfG erforderliche Merkmal der Außenwirkung ist gegeben. Die polizeiliche Beobachtung zielt nicht nur darauf ab, im Innenbereich einer Behörde Wirkung zu entfalten, sondern ist auch unmittelbar an den Kläger als außerhalb der Behörde stehendes Rechtssubjekt gerichtet. Dieses Verständnis von der Rechtsqualität der polizeilichen Beobachtung folgt auch aus Art. 36 Abs. 5 Nr. 1 Satz 1 PAG, wonach die Personen, gegen die die Maßnahme nach Art. 36 Abs. 1 PAG gerichtet war, von der Maßnahme zu unterrichten sind. Unerheblich ist, dass die polizeiliche Beobachtung nicht nach Art. 41 BayVwVfG dem Kläger bekanntgegeben wurde. Da es sich bei der polizeilichen Beobachtung um eine verdeckte Maßnahme handelt, würde die Bekanntgabe der Maßnahme dem Zweck der polizeilichen Maßnahme zuwiderlaufen. Somit liegt ein gesetzlich geregelter Sonderfall vor, in dem die vorherige Bekanntgabe des Verwaltungsaktes für die Wirksamkeit der Maßnahme nicht erforderlich ist (vgl. zur Vorschrift des Art. 9 Abs. 1 PAG: BayVGH, U.v. 25.2.1991 – 21 B 90.01727).
Der Kläger besitzt auch ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse. Im Hinblick auf das Gebot effektiven Rechtsschutzes aus Art.19 Abs. 4 GG besteht bei sich erledigenden Polizeimaßnahmen, gegen die ein Rechtschutz vor der Erledigung der Maßnahme nicht zu erreichen ist, ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse schon dann, wenn ein besonders schwerwiegender Grundrechtseingriff festzustellen ist (vgl. BVerfG, B.v. 7.12.1998 – 1 BvR 831/89 – juris). Im vorliegenden Fall liegt ein tiefer Eingriff in das in Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG verankerte allgemeine Persönlichkeitsrecht in seiner Ausprägung als Schutz der Privatsphäre und in das ebenfalls aus
Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitete Recht auf informationelle Selbstbestimmung vor. Daher besteht ein berechtigtes Interesse an der nachträglichen verwaltungsgerichtlichen Kontrolle der polizeilichen Beobachtung.
Die Klage ist jedoch unbegründet. Die streitgegenständliche polizeiliche Beobachtung des Klägers war rechtmäßig (§ 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO in analoger Anwendung).
Rechtsgrundlage für die polizeiliche Beobachtung des Klägers ist Art. 36 Abs. 1 Nr. 1 PAG. Nach dieser Vorschrift kann die Polizei personenbezogene Daten, insbesondere die Personalien eine Person sowie das amtliche Kennzeichen des von ihr benutzten Kraftfahrzeuges, zur polizeilichen Beobachtung ausschreiben, wenn die Gesamtwürdigung der Person und ihrer bisher begangenen Straftaten erwarten lassen, dass sie auch künftig Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen wird und die polizeiliche Beobachtung zur vorbeugenden Bekämpfung dieser Straftaten erforderlich ist. Hierbei handelt es sich um eine spezielle Fahndungsform, bei der verschiedene polizeiliche Zufallserkenntnisse zusammengetragen werden (vgl. Berner/Köhler/Maß, PAG, Art. 36, Rn. 1).
Die Anordnung der polizeilichen Beobachtung des Klägers ist formell rechtmäßig. Der Beklagte hat die Vorgabe des Art. 36 Abs. 3 Satz 1 PAG beachtet, wonach die Ausschreibung zur polizeilichen Beobachtung nur durch die in Art. 33 Abs. 5 Sätze 1 und 2 PAG genannten Stelle angeordnet werden darf. Nach diesen Vorschriften darf die polizeiliche Beobachtung nur vom Leiter eines Präsidiums der Landespolizei oder des Landeskriminalamtes angeordnet werden, wobei die Anordnungsbefugnis nach Art. 33 Abs. 5 Satz 2 PAG auf Beamte des höheren Polizeivollzugsdienst übertragen werden kann. Von dieser Möglichkeit hat der Beklagte Gebrauch gemacht, indem Kriminaldirektor … die Anordnungen zur polizeilichen Beobachtung erlassen hat.
Die Anordnungen wurden entsprechend der Ziffer 36.5 der Vollzugsbekanntmachung zum PAG auch aktenkundig gemacht. Eine darüber hinausgehend Begründung der Anordnungen im Sinne des Art. 39 Abs. 1 BayVwVfG hält das erkennende Gericht für nicht erforderlich, da der mit der Begründungspflicht einhergehende Zweck, dem Betroffenen Kenntnis über die Gründe, die die Behörde zum Erlass eines Verwaltungsaktes veranlasst haben, zu geben, hier mangels Bekanntgabeerfodernis der streitgegenständlichen Verwaltungsakte nicht einschlägig ist. Auch fordert Art. 36 Abs. 3 PAG anders als die Regelung des Art. 33 Abs. 5 Satz 4 PAG gerade keine schriftliche Begründung der Anordnung. Selbst wenn man eine Begründung der Anordnungen für erforderlich hielte, hat der anordnende Kriminaldirektor … durch die Bezugnahmen auf die Anträge des Kriminalfachdezernats …, Kommissariat …, … zum Ausdruck gebracht, aus welchen Gründen er die Ausschreibungen zur polizeilichen Beobachtung des Klägers verfügt hat.
Die Anordnungen waren materiell rechtmäßig.
Die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 36 Abs. 1 Nr. 1 PAG waren erfüllt.
Die Gesamtwürdigung des Klägers und seiner bisher begangenen Straftaten ließen erwarten, dass der Kläger auch zukünftig Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen wird.
Zunächst ist festzuhalten, dass der Kläger in der Vergangenheit zumindest zwei Straftaten von erheblicher Bedeutung begangen hat. Hierbei handelt es sich um die versuchte gefährliche Körperverletzung vom 1. Mai 2010 und die vollendete gefährliche Körperverletzung vom 1. Mai 2011 jeweils begangen zu Lasten von Polizeibeamten im Rahmen von Versammlungsteilnahmen, wegen derer der Kläger durch die Urteile des Amtsgerichts … vom 21. Oktober 2010 und 9. Februar 2012 auch strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wurde.
Bei diesen Straftaten handelt es sich um Straftaten von erheblicher Bedeutung. Der Begriff der Straftat von erheblicher Bedeutung ist in Art. 30 Abs. 5 Satz 2 PAG legaldefiniert. Dabei handelt es sich über um die in Art. 30 Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 1 genannten Verbrechen hinaus um die in § 138 StGB genannten Vergehen sowie um die gewerbs- oder bandenmäßig begangenen Vergehen nach den §§ 243, 244, 253, 260, 263 a, 265 b, 266, §§ 283, 283 a, 291, 324 bis 330 a StGB, § 52 Abs. 1 Nr. 1 des Waffengesetzes, § 29 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 oder § 29 a Abs. 1 Nr. 2 des Betäubungsmittelgesetzes oder § 96 des Aufenthaltgesetzes. Diese Aufzählung ist indes nicht abschließend, wie der Gesetzeswortlaut („insbesondere“) zeigt. Eine Straftat von erheblicher Bedeutung muss mindestens dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzurechnen sein, den Rechtsfrieden empfindlich stören und dazu geeignet sein, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen (vgl. BGH, B.v. 7.8.2013 – 1 StR 156/13). Im Fall der nicht im Katalog des Art. 30 Abs. 5 Satz 2 PAG aufgeführten Straftaten muss die jeweilige Straftat einer vergleichenden Bewertung mit den dort enthaltenen Delikten im Hinblick auf ihr konkretes Gewicht unterzogen werden. Dabei ist nicht auf den abstrakten Charakter des Straftatbestands, sondern auf die Art und Schwere der begangenen Tat abzustellen (vgl. BecKOK Bayern/Petri, PAG, Art, 30 Rn. 3). In Anwendung dieser allgemeinen Grundsätze hat der Kläger Straftaten von erheblicher Bedeutung begangen. Der Kläger hat am 1. Mai 2010 und am 1. Mai 2011 bei Demonstrationen aus der anonymen Masse heraus Polizeibeamte verletzt bzw. versucht zu verletzen, indem er zum einen eine Bierflasche auf Polizeibeamte geworfen und zum anderen einen Polizeibeamten mit dem Fuß gegen das Knie getreten hat. Diese Delikte der gefährlichen Körperverletzung bzw. der versuchten gefährlichen Körperverletzung, die vom Kläger nicht in Abrede gestellt werden und aufgrund derer der Kläger sich strafrechtlich verantworten musste, stören das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich und sind geeignet, den Rechtsfrieden erheblich zu stören, da sie gegen Polizeibeamte und somit gegen eine Personengruppe gerichtet waren, die von der Allgemeinheit dazu beauftragt wird und deren Aufgabe es ist, die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufrechtzuerhalten und Gefahren für die Allgemeinheit abzuwehren. Hinzu kommt insoweit, dass die Straftaten im Zusammenhang mit der Teilnahme des Klägers an Demonstrationen begangen wurden und der Kläger durch sein Verhalten friedliche Demonstrationsteilnehmer möglicherweise von der Wahrnehmung ihrer Grundrechte aus Art. 5 und 8 GG abgehalten hat. Aufgrund dessen, dass § 224 Abs. 1 StGB für eine gefährliche Körperverletzung eine Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren vorsieht, sind die vom Kläger begangenen Straftaten auch dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzuordnen.
Darüber hinaus zeigt die Beteiligung des Klägers an weiteren politisch motivierten Straftaten, die von der Klägerseite nicht substantiiert in Frage gestellt wird, dass der Kläger eine Persönlichkeit aufweist, die zur Durchsetzung politischer Überzeugungen nicht davor zurückschreckt, den erlaubten Rahmen politscher Betätigungsmöglichkeiten zu überschreiten.
Nach alldem war zu befürchten, dass der Kläger auch künftig Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen würde. Für das Bestehen einer Wiederholungsgefahr sprach dabei insbesondere, dass der Kläger in der Vergangenheit nicht nur einmal eine Straftat von erheblicher Bedeutung begangen hat, sondern derartige Straftatbestände wiederholt verwirklicht hat.
Die polizeiliche Beobachtung des Klägers war zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten von erheblicher Bedeutung auch erforderlich. Mildere Mittel, die zur Zweckerreichung in gleichem Maße geeignet gewesen wären, sind nicht ersichtlich. Insbesondere kamen eine Gefährderansprache oder eine kurzzeitige polizeiliche Observation des Klägers als mildere Mittel nicht in Frage, um den von dem Kläger ausgehenden Gefahren zu begegnen. Da der Kläger bei der Begehung der Körperverletzungsdelikte im Rahmen von Versammlungen gemeinsam mit anderen Personen auftrat, war es geboten, im Rahmen einer polizeilichen Beobachtung auch den Aufenthalt den Klägers und mögliche Kontaktpersonen des Klägers zu ermitteln und die dabei gewonnenen Erkenntnisse zusammenführen.
Die Maßnahmen des Beklagten sind auch verhältnismäßig im engeren Sinn und führen nicht zu einem Nachteil, der zu dem erstrebten Erfolg erkennbar außer Verhältnis im Sinne des Art. 4 Abs. 2 PAG steht. Die streitgegenständlichen Maßnahmen sind zwar mit einem Eingriff in das durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Persönlichkeitsrecht bzw. das Recht auf informationelle Selbstbestimmung verbunden (BVerfG, B.v. 1.6.2006 – 1 BvR 2293/03 – juris). Angesichts der vorstehend dargestellten Tatumstände und der Persönlichkeit des Klägers stehen die Maßnahmen zu dem mit ihnen verfolgten Zweck, weitere Straftaten von erheblicher Bedeutung zu verhindern, nicht außer Verhältnis, zumal entsprechend Art. 36 Abs. 3 PAG die Vorgabe der zeitlichen Befristung der polizeilichen Beobachtung des Klägers durch den Beklagten beachtet wurde, die Voraussetzungen der polizeilichen Beobachtung nach einem Jahr durch den Beklagten überprüft wurden und die Maßnahme insgesamt lediglich auf zwei Jahre beschränkt wurde.
Anhaltspunkte für eine Fehlerhaftigkeit der Ermessensentscheidung des Beklagten, die dieser nach Art. 5 PAG getroffen hat und die durch die Kamer gemäß der Vorgabe des § 114 Satz 1 VwGO nur in Hinblick auf das Vorliegen von Ermessensfehlern überprüft werden kann, sind nicht ersichtlich. Der Beklagte hat insbesondere sich vom Zweck der Ermächtigung leiten lassen und damit die Vorgabe des Art. 40 BayVwVfG eingehalten. Der Umstand, dass der Beklagte die polizeiliche Beobachtung des Klägers im Jahr 2015 erstmalig angeordnet hat, obgleich der Kläger bereits im Jahr 2012 wegen der Körperverletzung vom 1. Mai 2011 strafrechtlich belangt wurde, führt nicht zu einem Ermessensfehlgebrauch. Zum einen unterliegen polizeiliche Eingriffsbefugnisse nicht der Verwirkung, zum anderen durfte der Beklagte zuwarten, um zu klären zu können, ob und in welchem Umfang das Urteil des Amtsgerichts … vom 9. Februar 2012 zu einer Verhaltensänderung des Klägers geführt hat.
Die Klage ist nach alldem mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.

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