Aktenzeichen 13a ZB 18.30460
VwGO § 86 Abs. 1, § 87b Abs. 3, § 138 Nr. 3
GG Art. 103 Abs. 1
Leitsatz
1 Die Ausübung des dem Gericht durch § 87b Abs. 3 S. 1 VwGO eingeräumten Ermessens muss wie das Vorliegen sämtlicher gesetzlicher Voraussetzungen einer Präklusion ohne weiteres erkennbar oder nachvollziehbar dargelegt sein. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
2 Die Anforderungen an die ausreichende Begründung einer Präklusion nach § 87b VwGO entziehen sich einer generellen Festlegung. Sie hängen von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab, wobei der Begründungsbedarf regelmäßig mit dem Gewicht der Präklusionsfolgen für den Betroffenen steigt. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
3 Im Hinblick auf das erhebliche Gewicht der Präklusionsfolgen für den Betroffenen im Asylprozess ist die einzelfallbezogene Begründung einer Zurückweisung zu fordern, die eine Auseinandersetzung des Verwaltungsgerichts mit den maßgeblichen Gesichtspunkten (ua Ausmaß der voraussichtlichen Verfahrensverzögerung, Grad des Verschuldens des Klägers, nachteilige Folgen für den Kläger) und insbesondere eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Zurückweisung erkennen lässt. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
Au 5 K 17.31331 2018-01-15 Ent VGAUGSBURG VG Augsburg
Tenor
Die Berufung wird zugelassen.
Gründe
Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 15. Januar 2018 hat Erfolg.
Die Kläger haben ihren Zulassungsantrag unter anderem damit begründet, dass ein Verfahrensmangel gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 VwGO gegeben sei, auf dem das Urteil auch beruhe. So habe das Verwaltungsgericht ihre in der mündlichen Verhandlung vom 15. Januar 2018 gestellten Beweisanträge rechtsfehlerhaft mit der Begründung abgelehnt, dass diese nicht innerhalb der Frist des § 74 Abs. 2 AsylG gestellt worden und daher verspätet seien, da sie die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würden. Auch wenn es schwerfalle, einige der Beweisanträge mit dem vorliegenden Sachverhalt in Verbindung zu bringen, setze eine Präklusion voraus, dass die in § 87b Abs. 3 Satz 1 VwGO genannten Tatbestandsvoraussetzungen kumulativ vorliegen (vgl. Bergmann/Dienelt, AusländerR, 12. Aufl. 2018, § 74 AsylG Rn. 29 ff.). Vorliegend sei zu bedenken, dass sich die Lage in Afghanistan fast schon täglich ändere. Nach dem UNAMA-Bericht 2017 vom 15. Februar 2018 sei zwar die Gesamtzahl der zivilen Opfer etwas zurückgegangen, jedoch sei die Zahl ziviler Opfer durch Selbstmordattentate und sonstige Anschläge auf einen Rekordwert gestiegen. Insbesondere in den Städten habe die Zahl der Anschläge zugenommen. Der UNAMA-Bericht 2017 stehe daher im Widerspruch zur Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass in Kabul kein derart hohes Gewaltniveau bestehe, dass praktisch jede Person allein aufgrund ihrer Anwesenheit einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Daher sei im Wege des Beweisantrags zu Recht eine aktuelle Einschätzung der Sicherheitslage gefordert worden. Eine Präklusion müsse ausscheiden, wenn die Tatsachen und Beweismittel hinsichtlich der Sicherheitslage gerade erst entstanden bzw. veröffentlich worden seien. Daher habe das Verwaltungsgericht die Beweisanträge vorschnell und rechtswidrig abgelehnt.
Vorliegend haben die Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 15. Januar 2018 unter Bezugnahme auf einen dort übergebenen Schriftsatz vom selben Tag sinngemäß Anträge gestellt zur Einholung von Sachverständigengutachten zum Beweis dafür, dass von einer tatsächlich zehnfach höheren Zahl ziviler Opfer als von UNAMA angenommen auszugehen sei (A.), dass dem Kläger zu 1 in ganz Afghanistan Verfolgung seitens privater Dritter drohe (B.1-2), dass kein Afghane die Möglichkeit habe, in der Anonymität einer anderen afghanischen Provinz oder Stadt unterzutauchen (B.3-5), dass die Kläger als schiitische Hazara ohne familiäres Netzwerk ihr Existenzminimum in ganz Afghanistan nicht sichern könnten (B.6) und dass hieran auch etwaige Unterstützungsnetzwerke von Binnenvertriebenen oder Rückkehrern nichts ändern könnten (B.7-8).
Die Beweisanträge hat das Verwaltungsgericht in der mündlichen Verhandlung abgelehnt. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Beweisanträge erstmals in der mündlichen Verhandlung gestellt worden seien; sie seien damit nicht innerhalb der Frist des § 74 Abs. 2 AsylG gestellt worden. Die Verspätung sei auch nicht genügend entschuldigt. Die beantragte Beweisaufnahme würde zudem die Erledigung des Rechtsstreits verzögern, § 74 Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 87b Abs. 3 VwGO. Die Klagepartei sei über die Verpflichtung nach § 74 Abs. 2 Satz 1 AsylG und die Folgen einer Fristversäumnis ordnungsgemäß belehrt worden (siehe zum Ganzen: Protokoll S. 9).
Der Anspruch auf rechtliches Gehör schützt nicht gegen eine nach Meinung eines Beteiligten sachlich unrichtige Ablehnung eines Beweisantrags. Art. 103 Abs. 1 GG ist allerdings dann verletzt, wenn die Ablehnung eines als sachdienlich und erheblich angesehenen Beweisantrags im Prozessrecht keine Stütze mehr findet (BVerfG, B.v. 30.1.1985 – 1 BvR 393/84 – BVerfGE 69, 141; B.v. 26.6.2002 – 1 BvR 670/91 – BVerfGE 105, 279; BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – NVwZ 2013, 361 – juris Rn. 10), mithin auf sachfremde Erwägungen gestützt ist (vgl. BVerfG, B.v. 12.10.1988 – 1 BvR 818.88 – BVerfGE 79, 51). Hierfür ist maßgebend auf den materiell-rechtlichen Standpunkt der angegriffenen Entscheidung abzustellen. In verfahrensrechtlicher Hinsicht erfordert eine § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG entsprechende Rüge den substantiierten Vortrag, dass die Ablehnung des Beweisantrags fehlerhaft erfolgt ist, die Begründung der Ablehnungsentscheidung im Gesetz keine Stütze findet und deshalb das rechtliche Gehör verletzt worden ist (vgl. zum Ganzen: BVerwG, B.v. 28.3.2013 – 4 B 15.12 – ZfBR 2013, 479 – juris Rn. 16).
Nach § 74 Abs. 2 Satz 2 AsylG i.V.m. § 87b Abs. 3 VwGO kann das Gericht Erklärungen und Beweismittel, die erst nach Ablauf der gesetzlichen Monatsfrist aus § 74 Abs. 2 Satz 1 AsylG vorgebracht werden, zurückweisen und ohne weitere Ermittlungen entscheiden, wenn (1.) ihre Zulassung nach der freien Überzeugung des Gerichts die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde, (2.) der Beteiligte die Verspätung nicht genügend entschuldigt und (3.) der Beteiligte über die Folgen einer Fristversäumung belehrt worden ist. Gleiches gilt gemäß § 87b Abs. 3 VwGO für Erklärungen und Beweismittel, die erst nach Ablauf einer nach § 87b Abs. 1 oder 2 VwGO gesetzten Frist vorgebracht werden.
Der Anwendungsbereich von § 74 Abs. 2 AsylG umfasst lediglich im persönlichen Lebensbereich des Asylbewerbers liegende Umstände und Beweismittel – z.B. Urkunden und Zeugen -, die nur von ihm selbst vorgetragen bzw. benannt oder vorgelegt werden können; hiervon unberührt bleibt die sich aus dem Untersuchungsgrundsatz (§ 86 Abs. 1 VwGO) ergebende Verpflichtung der Gerichte, die allgemeine politische Lage im Herkunftsland des Asylbewerbers soweit erforderlich auch von Amts wegen zu ermitteln (BayVGH, B.v. 17.5.2018 – 20 ZB 18.30844 – juris Rn. 13 unter Bezugnahme auf die amtliche Gesetzesbegründung in BT-Drs. 12/2062, S. 40; NdsOVG, B.v. 9.10.1997 – 11 L 2877/97 – juris Rn. 2). In diesem Sinne wird vertreten, dass § 74 Abs. 2 AsylG auf die Einholung von Sachverständigengutachten nicht anwendbar ist (vgl. BayVGH, B.v. 11.9.2001 – 9 ZB 98.34732 – juris Rn. 40 m.w.N.). Der Anwendungsbereich des § 87b Abs. 1 und 2 VwGO ist hingegen nicht eingeschränkt (BVerwG, B.v. 27.3.2000 – 9 B 518.99 – InfAuslR 2000, 412 – juris Rn. 21).
Liegen die Voraussetzungen des § 87b Abs. 3 Satz 1 VwGO vor, steht es im Ermessen des Gerichts, ob es von der Zurückweisungsmöglichkeit Gebrauch macht. Die Ausübung dieses Ermessens muss wie das Vorliegen sämtlicher gesetzlichen Voraussetzungen für eine Präklusion ohne weiteres erkennbar oder nachvollziehbar dargelegt sein. Dazu gehören regelmäßig die Angabe, auf welchen Tatbestand die Präklusion gestützt wird (§ 74 Abs. 2 Satz 1 AsylG, § 87b Abs. 1 Satz 1 VwGO oder § 87b Abs. 2 VwGO) sowie Ausführungen zur Verspätung (§ 87b Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 VwGO: Fristversäumung nach ordnungsgemäßer Fristsetzung mit Belehrung), zur Verzögerung (§ 87b Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO), zum Fehlen von Entschuldigungsgründen (§ 87b Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO) und zur Ausübung des tatrichterlichen Präklusionsermessens (§ 87b Abs. 3 Satz 1 und 3 VwGO). Entsprechend dem auf Verfahrenskonzentration und Verfahrensbeschleunigung gerichteten Zweck des § 87b VwGO kann sich die Begründung für die Zurückweisung unentschuldigt verspäteten, zu einer Verfahrensverzögerung führenden neuen Vorbringens bereits aus der Darlegung ergeben, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Zurückweisung nach § 87b VwGO vorliegen. Die Anforderungen an eine ausreichende Begründung entziehen sich indes einer generellen Festlegung. Sie hängen von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab, wobei der Begründungsbedarf regelmäßig mit dem Gewicht der Präklusionsfolgen für den Betroffenen steigen wird. Durch die Präklusion drohende erhebliche Rechtsnachteile können etwa durch eine Verweisung auf eine unter Umständen tatsächlich so nicht existierende inländische Fluchtalternative entstehen (siehe zum Ganzen: BVerwG, B.v. 6.4.2000 – 9 B 50.00 – BayVBl 2000, 599 – juris Rn. 6 f.; B.v. 27.3.2000 – 9 B 518.99 – InfAuslR 2000, 412 – juris Rn. 20; BayVGH, B.v. 17.5.2018 – 20 ZB 18.30844 – juris Rn. 13; B.v. 25.8.2006 – 1 ZB 04.30718 – juris Rn. 7).
Unter Berücksichtigung obiger Grundsätze ist vorliegend ein zur Zulassung der Berufung führender Verfahrensfehler gegeben (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO). Die zur Ablehnung der Beweisanträge herangezogene Begründung des Verwaltungsgerichts hat keine Stütze im Prozessrecht.
Folgt man der Ansicht, dass § 74 Abs. 2 AsylG i.V.m. § 87b Abs. 3 VwGO Sachverständigengutachten zur Situation im Herkunftsland eines Asylbewerbers nicht umfasst (BayVGH, B.v. 11.9.2001 – 9 ZB 98.34732 – juris Rn. 40 m.w.N.), so war vorliegend ganz überwiegend bereits der Anwendungsbereich der Norm nicht eröffnet. Jedenfalls ist das Verwaltungsgericht vorliegend den Begründungsanforderungen hinsichtlich einer Zurückweisung von Beweisanträgen als verspätet nach § 87b Abs. 3 VwGO (vgl. BVerwG, B.v. 6.4.2000 – 9 B 50.00 – BayVBl 2000, 599 – juris Rn. 6 f.; B.v. 27.3.2000 – 9 B 518.99 – InfAuslR 2000, 412 – juris Rn. 20) nicht gerecht geworden. Es hat insoweit zur Begründung im Urteil auf das Protokoll zur mündlichen Verhandlung verwiesen (UA S. 10). Dort jedoch ist lediglich knapp und ergebnismäßig dargelegt, dass im Fall der Kläger die Tatbestandsvoraussetzungen aus § 74 Abs. 2 AsylG i.V.m. § 87b Abs. 3 VwGO gegeben seien (Protokoll S. 9, s.o.). Ausführungen zur Ermessensausübung im Einzelfall finden sich jedoch nicht. Zwar kann sich entsprechend dem auf Verfahrenskonzentration und Verfahrensbeschleunigung gerichteten Zweck des § 87b VwGO die Begründung für die Zurückweisung unentschuldigt verspäteten, zu einer Verfahrensverzögerung führenden neuen Vorbringens grundsätzlich bereits aus der Darlegung ergeben, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Zurückweisung nach § 87b VwGO vorliegen. Mit Blick auf das erhebliche Gewicht der Präklusionsfolgen für den Betroffenen im Asylprozess (vgl. hierzu BVerwG, B.v. 6.4.2000 – 9 B 50.00 – BayVBl 2000, 599 – juris Rn. 7) ist in asylrechtlichen Streitigkeiten jedoch ganz regelmäßig eine einzelfallbezogene Begründung einer Zurückweisung zu fordern, die eine Auseinandersetzung des Verwaltungsgerichts mit den maßgeblichen Gesichtspunkten (u.a. Ausmaß der voraussichtlichen Verfahrensverzögerung, Grad des Verschuldens der Klagepartei, nachteilige Folgen für die Klagepartei) und insbesondere eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Zurückweisung erkennen lässt. Hieran fehlt es vorliegend.
Die Kläger haben den vorstehenden Verfahrensverstoß auch in der nach § 78 Abs. 4 AsylG gebotenen Weise dargelegt und dabei vor allem auch die Entscheidungserheblichkeit der unter Beweis gestellten Tatsachen zur Situation in Afghanistan erläutert. Hierbei bedarf es nicht eines Vortrags, welche Tatsachen der Kläger bei Gewährung des rechtlichen Gehörs noch vorgetragen hätte (vgl. hierzu allg. BVerwG, B.v. 19.7.2010 – 10 B 10.10 – juris Rn. 3). Denn im vorliegenden Fall der verfahrensfehlerhaften Ablehnung von Beweisanträgen geht es nicht um die Nichtberücksichtigung der bei Gewährung des rechtlichen Gehörs noch zusätzlich vorzutragenden Tatsachen, sondern um die Beweiswürdigung des bereits erfolgten Vorbringens (vgl. VGH BW, B.v. 27.12.1993 – A 16 S 2147/93 – juris Rn. 5).
Vor dem Hintergrund des gegebenen Zulassungsgrunds nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO kommt es auf die weiteren im Zulassungsantrag geltend gemachten Rügen nicht mehr an; gleiches gilt für die mit Schreiben der Klägerseite vom 4. April 2018 und 25. Juli 2018 nachgereichten ärztlichen Unterlagen.
Das Verfahren wird als Berufungsverfahren fortgesetzt (§ 78 Abs. 5 Satz 3 AsylG); der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht.